Das verwaltete Kind (eBook)

Mein Weg aus dem Trauma
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-32989-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das verwaltete Kind -  Christine Hölzinger
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Lange Zeit war mein Leben beherrscht von der Angst verlassen zu werden, wenn ich meine Gefühle nicht unterdrückte. Diese Angst war fatal, denn sie hinderte mich sehr lange und nachhaltig daran, am Leben teilzunehmen, an einem lebendigen Leben, das ich grundsätzlich alleine hätte führen können. Erst durch meine Traumatherapie war es möglich, diese Zusammenhänge zu verstehen und auch die Scham abzulegen, die damit verbunden war, Wut und Traurigkeit zu spüren. Ich musste schon als Kind immer wieder Verachtung spüren, die mir etwa dann entgegengebracht wurde, wenn ich so ganz anders war, als es meinen Eltern recht war. Anders, als sie es kannten und sein konnten. Sie legten uns Kinder auf ihre Vorstellungen fest, die kaum Spielraum ließen für eigene Entwicklungen. Es war das gängige Erziehungsmodell der Zeit, das möglicherweise aus den weder angeschauten noch integrierten emotionalen Verletzungen und Traumatisierungen der Kriegsgeneration erwuchs. So empfinde ich heute eine Art innere Pflicht, auf die Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Sie sind wahrscheinlich nicht auf meine Familie beschränkt, auch wenn es hier um meinen ganz persönlichen Weg hinaus aus der Verwaltung, hinaus aus der Erstarrung, aus dem Trauma geht.

KINDERGARTEN- UND SCHULZEIT

Die Re-Traumatisierung fand täglich unbemerkt von meinen Eltern und den Geschwistern und dem Personal im Kindergarten statt. Die Unruhe war täglich spürbar, schon morgens nach dem Aufstehen. Das Ungemach bahnte sich für mich bereits an, wenn ich mich anschicken musste, in der Regel alleine zum Kindergarten zu gehen. Meine beiden großen Geschwister waren bereits in der Grundschule. So hatte ich wieder einmal niemanden Vertrauten um mich herum. Der Fußweg zum Kindergarten betrug fünfzehn Minuten. Für mich als vierjähriges Mädchen, mit der unbearbeiteten traumatischen Vorerfahrung, eine Herausforderung. Meine inneren Systeme waren nach dem Erlebnis des Verlassenwerdens von meiner Mutter, meiner Familie, in einem dauerhaften Alarmzustand.

Unser Haus lag am Stadtrand. Es gab ein Haus in der Nähe meines Elternhauses, wo häufig ein Junge im Garten mit einem Luftgewehr spielte, das er sofort auf mich richtete, wenn er mich kommen sah. Wenn ich davon erzählte, ließen meine Brüder sogleich die Muskeln spielen, aber niemand war da, wenn ich wieder einmal alleine vom Kindergarten heimkam. Auch ein großer Bernhardinerhund wohnte in unserer Nähe und sprang mich vor den Augen des Besitzers gelegentlich an. Die Angst kroch in meinem Inneren hoch wie eine Schlange, die mich zu ersticken drohte. Ich konnte nichts dagegen tun. Selbst, wenn im Außen alles ruhig war, lastete das Alleinsein sehr auf mir.

Während meiner Therapiearbeit konnte ich immer wieder die Verzweiflung dieses Kleinkindes spüren, das ich war. Ich weinte in dieser Zeit sehr viel und lernte die PITT-Therapie kennen. Luise Reddemann begründete die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie, die die Imagination als heilsame Kraft in den Mittelpunkt stellt. Ich konnte mit Hilfe dieser Technik eine Helferin imaginieren, die mir half und mir beistand in meiner damals wieder erlebten Isolierung und Einsamkeit. Ich schuf mir eine Nonna, den Inbegriff einer wunderbaren Großmutter, die mir sehr half, diesen Kummer anzuschauen und mir Trost zu spenden. Luise Reddemann hat in ihrem Buch „Imagination als heilsame Kraft“ sehr eindrucksvoll beschrieben, wie die Imagination den Klienten stabilisieren und die Selbstheilungskräfte unterstützen kann. Mit den speziellen Imaginationsübungen war es mir möglich, die Nonna immer wieder einzuladen, bei mir zu sein und die Einsamkeit erträglich zu machen, unter der das Kind von einst so sehr gelitten hatte.

Mein Verlassenwordensein war unbewusst ein ständiger Begleiter, verhalf mir aber auch zu einem Sensorium mit feinen Antennen für vieles, was meine Familie nicht spüren konnte. Selbst meine Mutter schaffte es nicht, mir Sicherheit zu vermitteln, auch wenn sie persönlich einmal die Begleitung zum Kindergarten übernahm, wie sie sagte, woran ich mich aber kein einziges Mal erinnern kann. Im Tagesablauf waren viele Momente, die das dereinst verlassene und völlig neben sich stehende Kind in Alarmbereitschaft versetzte. Am eindrücklichsten war wohl für mich mein ängstliches Aufmerken, wenn meine Mutter ihre Schürze wechselte, wie ich das bereits im ersten Kapitel beschrieben habe. Sie nahm dann auch wahr, dass ich unter starkem Herzklopfen litt, sehr unruhig wurde und mich einfach unwohl fühlte. Wir beide hatten damals aber dafür keine Erklärung. Mein heutiges Verständnis für meine Mutter ist gewachsen, seit mir klar wurde, dass sie durch meine Symptome selbst getriggert wurde. Vielleicht ging es um Gefühle, die mit ihrer eigenen Vergangenheit und der fehlenden Mutterliebe zu tun hatten. Das, was uns selbst am meisten belastet, wollen wir häufig nicht fühlen. Wir kämpfen dagegen an, weil wir unbewusst glauben, es nicht aushalten zu können. Dabei wäre es eine Chance – zum Beispiel unterstützt durch eine Therapie – die Verbindung zu sich selbst zurückzuholen. Mit dem Schreiben dieses Buches hole ich sie zu mir selbst zurück. Das, was ich so schmerzlich vermisst habe. Auch in meinen Therapiesitzungen habe ich heute so oft das wunderbare Gefühl, mit mir verbunden zu sein. Die Therapeutin fragt dann immer danach, wo im Körper der Sitz ist für diese Sicherheit, mit sich verbunden zu sein. Keine Hitze steigt auf, der Herzschlag ist ruhig und unaufgeregt. Es ist jenes Gefühl der Kohärenz, die Stimmigkeit mit sich selbst, die ein Gefühl von Glücklichsein auslöst, das ich lange Zeit nicht genau kannte oder es im Außen gesucht habe, bei anderen Menschen, wo es niemals verortet war.

Ich erinnere mich daran, wie häufig der Kinderarzt zu Besuch kam und mich untersuchte, jedoch nichts finden konnte. Gelegentlich sprach er von Asthma. In meinem späteren Leben ist diese Diagnose nie mehr gestellt worden. Ich kann mich auch nicht an die typische Luftnot dieser Krankheit erinnern. In späteren Jahren, als ich bereits erwachsen war, fiel öfter das Wort Hysterie im Zusammenhang mit meinem rätselhaften Verhalten. Meine Eltern fanden keine Erklärungen für meine große Unruhe, die auch mit Angst gepaart war. Das verwaltete Kind geriet immer wieder in vermeintliche Lebensgefahr, denn die sichere Bindung zu den Eltern konnte zu keiner Zeit aufgebaut werden, nicht einmal im Säuglingsalter. Durch all die an meinen natürlichen Bedürfnissen vorbeilaufenden Aktionen, die mich nicht in eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit brachten, entstand ein Chaos in mir. Ich lernte nicht, mich selbst zu kennen, nicht, mich zu spüren. Es gab nicht die Möglichkeit, einfach Lebensfreude zu empfinden, die ein Indikator gewesen wäre für einen sich entfaltenden, eigenen, stimmigen Weg im Leben.

Leider dachte man damals noch, dass ein selbstbestimmtes Leben durch strenge Regeln entsteht. Man suchte die Sicherheit im Außen, statt sie im eigenen Inneren zu spüren, Gefühle anzunehmen. Ich weiß, dass meine Mutter mich regelrecht beschwor, dass es überhaupt keine Gründe (für sie) für Angst und Ängstlichkeit in meinem Leben gab. Jahrzehnte später jedoch kehrte die Angst in Panikattacken zurück, die ich erst sehr spät verstand und einordnen konnte. Sie waren auch nicht behandelbar mit Therapien, haben aber mein Leben extrem belastet. Auch davon werde ich noch berichten. Und auch davon, was mir weiterhalf, an die Ursachen heranzukommen und heute so viel befreiter zu leben.

Wenn Worte nicht stark genug waren, um den Schrecken, die aufkommende Angst und Panik des verlassenen Kindes in mir zu beschreiben, wählte ich als Erwachsene manchmal den Weg über Kreidezeichnungen, um meine für mich unerklärlichen Empfindungen und Gefühle wiederzugeben. Erst meine viel spätere Begegnung mit SE brachte die Wende im Verständnis von Panikattacken. Endlich konnte ich die Unruhe, die in den Kopf steigende Hitze und das Herzrasen als Körpergefühl ohne Angst spüren und mit speziellen Empfindungen in meinem Inneren verbinden. Der Körper will in solchen Situationen die dereinst nicht stattgefunden habende Flucht erleben, um dem Verlassenwerden zu entkommen. Es ist eine natürliche und angeborene Reaktion des Körpers, um Traumata aufzulösen. Man kann dies unter der Anleitung des Therapeuten selbst gut beobachten, wenn etwa die Füße ganz unwillkürliche Laufbewegungen machen und sich unruhige Beine einstellen.

Alles ist verlässlich im Körper gespeichert, um gefühlt zu werden, sobald der Mensch dazu bereit ist. Dann kann man auch das Zittern spüren, das ein verlässlicher Indikator für eine Reaktion auf das Trauma ist. Oft ist dieses Zittern auch sehr stark und will einfach ausgehalten werden. Die Botschaften des Körpers wollen von uns entschlüsselt werden, da sie zur Bewältigung und Beendigung des Traumas gehören.

Meine Eltern hatten keine Erklärung für mein Verhalten und haben es niemals mit sich selbst oder vom Kind durchlebten Situationen in Verbindung gebracht. Die Schuld für all das Ungemach musste ich, unbewusst und tief verängstigt, mir grundsätzlich selbst geben. Als verwaltetes Kind hatte ich zunächst keine Chance, dem zu entkommen. Ich versuchte es dennoch schon damals, indem ich mir angstmachende Situationen zu umgehen versuchte. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich sehr gut daran, dass ich mit fünf Jahren schon in die Schule gehen wollte. Der Grund war, dass der Schulweg viel kürzer war und die großen Geschwister morgens auch mitgingen. Den Wunsch erfüllten mir meine Eltern, auch wenn sie nicht wussten, warum mir das so wichtig war. Sie konnten auch nicht recht glauben, dass ich schon schulreif war. Sie wurden eines Besseren belehrt.

Mit fünf Jahren wurde ich also eingeschult, weil ich es so wollte. Die Grundschulzeit ragt tatsächlich in meiner Erinnerung besonders hervor, da mein Grundschullehrer, Herr S., mir einen besonderen Platz in diesem Schulleben gab. Der Schulrektor, ein Bekannter meines Vaters, regte an, dass ich an einem Extratisch lernen sollte, mit zusätzlichen Erklärungen versorgt, das Pensum dennoch erreichen sollte. Mein Lehrer sah sehr schnell, dass ich das geforderte Pensum gut bewältigte und integrierte mich bald im Klassenverbund. Es...

Erscheint lt. Verlag 4.6.2024
Mitarbeit Sonstige Mitarbeit: Natalie Nicola, Konstantin Banmann
Verlagsort Ahrensburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Biografie • Nachkriegsgeneration • Primärgefühle • transgenerational • Trauerbewältigung • Trauma • Traumabewältigung
ISBN-10 3-384-32989-9 / 3384329899
ISBN-13 978-3-384-32989-9 / 9783384329899
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