Hyphen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
303 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-1001-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hyphen -  Luise Meier
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Als es 2025 zum ersten Mal weltweit zu einem wochenlangen Stromausfall kommt, bricht, wider Erwarten, keine Panik aus. Und selbst als Stromnetze und Lieferketten, Geldströme und das Internet endgültig zusammenbrechen, bedeutet es nicht den Untergang der Zivilisation. Stattdessen beginnt für die Menschen in Luise Meiers facettenreich erzähltem Roman Hyphen die aus der Not geborene Suche nach anderen, auch nichtmenschlichen Beziehungsweisen, die ein gemeinsames Überleben und Füreinander-Sorgen ermöglichen. Da ist etwa Anne, die versucht, den Krankenhausbetrieb aufrechtzuerhalten, ihr fünfzehnjähriger Sohn Tomasz, der plötzlich die Wirkmacht der Natur zu sehen lernt, oder Maja, die über all das für die ständig wachsende, den Globus umspannende Enzyklopädie Protokoll führt. Pilzfäden gleich legt Luise Meier Biografien, Erfahrungen, Träume und Wünsche aus, verwebt sie mit nichtrealisierten Zukünften und offenbart: Die Welt, sie geht nicht unter - sie entsteht vielmehr neu, in radikaler, allumfassender Verbundenheit.

Luise Meier, 1985 geboren in Ostberlin, arbeitet als freie Autorin, Theatermacherin und Servicekraft. Studium der Philosophie, Sozial- und Kulturanthropologie und Kulturwissenschaften in Berlin, Frankfurt a. d. Oder und Aarhus. Ihre Texte für die Berliner Volksbühne sind unter www.volksbuehne.adk.de archiviert.

Luise Meier, 1985 geboren in Ostberlin, arbeitet als freie Autorin, Theatermacherin und Servicekraft. Studium der Philosophie, Sozial- und Kulturanthropologie und Kulturwissenschaften in Berlin, Frankfurt a. d. Oder und Aarhus. Ihre Texte für die Berliner Volksbühne sind unter www.volksbuehne.adk.de archiviert.

I


Nr. 0020000957925728827968114367-2032

Datum des Eintrags: 04-07-2032

Eintrag von: Henning Feldmann, Isa Borg

Typ: Protokoll

Ort: Rothwald, Vorpommern, Deutschland

Ursprüngliche Quelle: Henning Feldmann, Isa Borg

Übersetzung: keine

Übergabeprotokoll 4. Juli 2032, Rothwald

Wir, Isa und Henning, haben uns der Protokollaufgabe sporadisch seit dem Januar 2028 und in systematischer Form seit dem Dezember 2028 angenommen.1 Wie von einigen Initiativen der Enzyklopädie vorgeschlagen, gehen wir dieses Jahr auf Wanderschaft und hoffen, die anderen Gemeinschaften, die wir bereisen werden, mit unseren Erfahrungen bereichern und von ihnen lernen zu können.

Die Gemeinschaft Rothwald hat auf die ersten Stromausfälle in den Jahren 2025 und 2026 mit der Entwicklung von Notfallstrukturen reagiert, die uns Nachbar*innen viele, wenn auch zum Teil noch vereinzelte Erfahrungen in der schnellen, gemeinsamen und solidarischen Kooperation und Koordination gebracht haben. Mittlerweile haben die Dörfer einen Großteil der Häuser in funktionales Wohnen überführt. Häuser mit autarker Stromversorgung sind den Küchen und der Lebensmittel- und Medikamentenlagerung sowie den Wäschereien, Werkstätten, Computerarbeitsplätzen und der Druckerei vorbehalten. Die größte Herausforderung war und bleibt jedoch die Sicherstellung der landwirtschaftlichen Produktion und die Versorgung der Nachbar*innen mit medizinischen und Pflegebedarfen.

Nach dem Sterben großer Teile des Milchviehbestands im Gemeindeteil Rothwald-Vorbau im Zuge des ersten länger anhaltenden Stromausfalls 2025 haben sich beim nächsten Notfall Anfang 2026, während dem der Betrieb vergemeinschaftet wurde, bereits über fünfzig Freiwillige in der Milchviehzucht eingefunden, die Wasserversorgung sichergestellt, ausgemistet und per Hand gemolken oder Milch, für die keine Kühlmöglichkeit bestand, ausgefahren und ausgegeben und zu Trockenmilch oder Käse verarbeitet. Seitdem hat sich die Milchviehzahl erheblich reduziert, sodass mittlerweile nur noch dreißig Menschen dauerhaft, im Notfall bis zu sechzig Menschen abwechselnd, in die Milchviehhaltung eingebunden, dafür aber keine Notschlachtungen mehr nötig sind. Im Sommer 2028 konnte darüber hinaus erstmals eine mechanische Melkmaschine mit Pedalenbetrieb eingesetzt werden, die die Arbeit auch ohne Strom erheblich erleichtert und den Kreis derer, die eingewechselt werden können, entscheidend vergrößert. Die Tiere selbst haben auf die traumatischen Ereignisse mit der Reduktion der Milchproduktion reagiert.

In den letzten fünf Jahren sind insgesamt achtundsechzig Personen zugezogen, vor allem Familien mit Kindern und alte Menschen mit besonderen medizinischen Bedürfnissen, insbesondere aufgrund von Atemwegserkrankungen. Für pflegebedürftige Personen wurden bereits nach dem Stromausfall 2025 Sorgenetze von bis zu drei Nachbar*innen aufgebaut, die die Notfallversorgung schnell, ausreichend informiert und also vorbereitet übernehmen können. Zudem haben vor allem die Jugendlichen von Anfang an durch Kurierfahrten entscheidend zum Funktionieren der Notfallversorgung beigetragen. Die Organisation der Sorge- und Informationsnetzwerke, der Kinderbetreuung sowie der überlebenswichtigen Aufgaben übernimmt die Dorfversammlung, die in Ruhezeiten einbis zweiwöchentlich, in Notfallzeiten täglich am Abend im Anschluss an die Abendessen in den Kollektivküchen stattfindet. Seit 2027 führen wir zudem regelmäßige Gespräche, um Bedürfnisse, Erfahrungen, Ideen und Reflexionen unserer Nachbar*innen zu dokumentieren. An der Dokumentation, den offenen Gesprächsrunden und Schreibgruppen beteiligt sich in unterschiedlicher Intensität fast die gesamte Gemeinschaft.

Ein weiterer bestimmender Faktor im Alltag ist immer noch die Widerstandsfähigkeit der Dörfer, Böden und Wälder gegenüber extremen Wettererscheinungen und Waldbränden. In Rothwald leben seit Anfang der Zwanzigerjahre zwei Renaturierungsexpert*innen, die seit drei Jahren auch systematisch Wissen und Erfahrungen an Gäst*innen weitergeben und eigene Beiträge für die Enzyklopädie verfassen.

Der Großteil unserer Nachbar*innen beschreibt sich trotz aller Entbehrungen und traumatischen Erfahrungen, besonders in den ersten Monaten und Jahren, heute als zufriedener als vor 2025. Dafür gibt es verschiedene Gründe, der am häufigsten angegebene ist allerdings die enge Kooperation in der Gemeinschaft und die ganz eindeutig damit verbundene Zunahme von Selbstwirksamkeit oder »Sinn« sowie die Abnahme von Erfahrungen der Konkurrenz und Isolation.

Wir, Henning Feldmann und Isa Borg, planen, spätestens in einem Jahr nach Rothwald zurückzukommen, und sind über die Enzyklopädie erreichbar. Es ist vorgesehen, dass Maja Boran während eines vorerst einjährigen Gastaufenthalts die Protokollarbeit und Organisation übernimmt. Sollte es zu Ausfällen kommen oder Maja verhindert werden, übernimmt Gesine Lohr provisorisch das Protokoll und die Organisation eines längerfristigen Ersatzes.

Wir freuen uns aufs Berichten und Lesen

Isa und Henning

Rothwald


Ingos Weg ins Kollektiv war langsam und kurvig verlaufen. Er war erst 2028 wirklich aus der Rente zurückgekehrt, um sein Elektrotechnikwissen mehr als nur sporadisch und widerwillig an die Jungen weiterzugeben. Seinen Jeep, einen Benziner, hatte er erst abgegeben, als schon monatelang kein Benzin mehr aufzutreiben gewesen war und man ihm versprochen hatte, er dürfe, bei gutem Solarstromstand, mindestens eine Tour in der Woche mit dem E-Bus fahren. Seitdem hatte er sich mit den Mechaniker*innen im lächerlich kleinen Fuhrpark angefreundet, wo er auch hier und da aushalf. Im Boden zu buddeln und Regenwürmer zu pflanzen, wie er die Renaturierungsarbeiten beschrieb, bei denen mittlerweile fast alle im Dorf irgendwie mitmachten, hielt er dagegen bis heute ebenso wenig für seine Aufgabe, wie sein Innenleben mit irgendjemandem zu teilen. Stattdessen presste er die Gefühle, die angesichts der neuen Zustände um ihn herum in ihm aufkamen, in seiner Brust mit so viel Druck zu einem dermaßen dichten Ball, dass ihn seine Frau, wenn er in größeren Runden mal wieder die Bemühungen der Nachbar*innen herunterzuspielen begann, als »Rothwalder Stahlwerk« bezeichnete. Denn einmal losgelassen, das ahnte er, würden sie sich zu einer monströsen Lawine ballen und das ganze »So-und-nicht-Anders« seines bisherigen Lebens unter sich begraben, würden die Erinnerung an den Kollegen, den er, wie alle anderen aus der Feierabendtruppe, Ende der Zweitausender nicht in der Entzugsklinik hatte besuchen wollen, weswegen sie stillschweigend und wie zufällig alle Aufträge in die Besuchszeiten eben dieser Klinik gelegt hatten, und der kurz nach seiner Entlassung wieder zu saufen begonnen hatte und mittlerweile an Leberzirrhose gestorben war, oder an den an Lungenkrebs verstorbenen Nachbarn, mit dem er Ende der Neunziger dessen Asbestdach im Wald vergraben hatte, um dann die schwarz lackierten Ziegel fein säuberlich aneinanderzureihen, über ihn hereinbrechen. »Macht man so, ham wir immer so gemacht« und »Alles hat seinen Preis« waren die Mantras, die ihn über die Beerdigungen, wo er sich jeweils nur so kurz wie nur irgend möglich hatte blicken lassen, gerettet hatten.

Er war einer, der nach der Wende schnell begriffen hatte, wie der Hase läuft. Der sich nicht übers Ohr hatte hauen lassen. Neues Auto, Qualifizierung, Kredit, Hausausbau, der eigene Betrieb. Er war der Erste im Dorf gewesen, dessen Betrieb eine Internetseite gehabt hatte. Nicht eine Woche war er arbeitslos gewesen, nicht in den Neunzigern und auch nicht in den Zweitausendern. Klar hatte auch er sich damals mit den Telekom-Aktien verschaukeln und sich von Danny, dem Sohn eines Kollegen, der plötzlich Allianz-Vetreter gewesen war, die eine oder andere überflüssige Versicherung aufquatschen lassen und war schließlich auch mal knapp an der Insolvenz vorbeigeschrammt, aber auch wenn sich der Erfolg nicht immer ganz zweifellos am Kontostand hatte ablesen lassen, so doch zumindest sein Fleiß an der stetig wachsenden Anzahl der Aufträge und nicht zuletzt der Arbeits- und Überstunden. Die Richtung jedenfalls hatte er in über fünfunddreißig Jahren nicht in Zweifel ziehen müssen. Denn: Erst musste man etwas aufbauen, die Familie, Haus und Grundstück, den Betrieb, und dann alles dafür tun, um es zu halten – und was das Wichtigste gewesen war in der damals neuen Zeit: Was halten sollte, musste wachsen. Wer sich ausruhte auf dem, was er hatte, konnte es auch gleich sein lassen, der hatte es schon aufgegeben. Die neue neue Zeit fühlte sich daher wie eine des Aufgebens an. »Überholen ohne einzuholen«, hatte der knollnasige Alte auf dem Pferdewagen gelacht, als Ingo den letzten Liter Benzin leergefahren hatte und auf der Straße nach Rothwald liegen geblieben war. Und wie er da gesessen hatte auf der Kutsche, die im Schritttempo das Auto hinter sich her zog, hatte es, sehr zu seinem Ärger, vielleicht zum allerersten Mal tatsächlich gestimmt.

Bevor Ingo sich lange nach der Abschleppaktion endlich auf die Arbeit im Fuhrpark einließ, hatte sich seine Frau Christiane oft bei den anderen beschwert, hatte er tagein, tagaus missmutig auf der Couch im zweiten Stock ihres Einfamilienhauses gesessen, dessen erster Stock beim erstmaligen Übertritt der Randow schon unter Wasser gesetzt worden war und seitdem nicht mehr bewohnt werden konnte. Gesessen und gemeckert hatte er...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alexander Bogdanow • Anna Lowenhaupt Tsing • DDR • Degrowth • Drogen • Gesellschaftsutopie • Kapitalismuskritik • Kooperation • Pilze • Utopie • Zukunft
ISBN-10 3-7518-1001-3 / 3751810013
ISBN-13 978-3-7518-1001-2 / 9783751810012
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