Das Kind in mir will frei sein (eBook)
230 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-5558-9 (ISBN)
Geboren in Frankfurt im Jahre 1978.
Geboren in Frankfurt im Jahre 1978.
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Die erste Begegnung mit den Zeugen Jehovas
Wir schreiben das Jahr 1985 in Frankfurt am Main. Ich war siebeneinhalb Jahre alt. Es war einer dieser kalten schneereichen Winter.
Die Wochen und Monate zuvor waren anstrengend und stressig gewesen. Zu Hause gab es viel Streit, was nichts Außergewöhnliches war, aber die Situation hatte sich zugespitzt. Ich spürte den Unmut und die Hilflosigkeit meiner Mutter.
Nachdem mein Vater uns acht statt drei Wochen in den vergangenen Osterferien festgehalten hatte, hatte sich alles geändert.
Meine Eltern stammen aus der Türkei und mein Vater fuhr in regelmäßigen Abständen nach Hause, um die Familie zu besuchen. In diesen besagten Osterferien beschlossen meine Eltern, getrennt Urlaub zu machen, weil meine Mutter diese lange Fahrt mit dem Baby, meiner kleinen Schwester, nicht auf sich nehmen wollte.
Nach dem Ende dieser Ferien brachte mein Vater uns aber nicht nach Hause, sondern verlängerte eigenmächtig den Urlaub. Ich erfuhr allerdings erst später, dass er sich dort in eine junge Frau verliebt hatte.
Die Beziehung meiner Eltern war schwierig und problembehaftet, aber meine Mutter schaffte es in all den Jahren einfach nicht, sich zu widersetzen oder gar von ihm zu trennen.
Mein Vater war jähzornig und ging mit ihr respektlos um. Es kam hin und wieder zu Handgreiflichkeiten. Dennoch gebot ihre Herkunft und Kultur keine Trennung. Dies kam einfach nicht in Frage, schon gar nicht zu dieser Zeit. Trennungen waren damals eine Schande, vor allem in der Türkei. Es brachte Schmach über die Familie.
Ich erinnere mich sehr gut, dass ich als Kind große Angst vor meinem Vater hatte. Ich war nicht gerne in seiner Nähe. Unser Elternhaus war nicht warm und einladend.
Als eher ruhiges und nachdenkliches Kind machte ich mir schon früh Gedanken über alles Mögliche. So auch über unsere Herkunft und Religion. Dies verstärkte sich mit meiner Einschulung 1984.
Wir lebten in einem Frankfurter Viertel mit Menschen unterschiedlichster Herkunft. Wir Kinder fragten uns oft gegenseitig, welcher Religion wir angehörten. Einige erklärten mir: »Deine Eltern sind aus der Türkei, also bist du Muslimin.«
Ich erwiderte immer, dass ich nichts sei, weil ich das genau so fühlte.
Meine Mutter war ein offener und moderner Mensch, aber gottesfürchtig und gläubig. Sie betete und befand den Koran für heilig. Meine ältere Schwester und ich erinnern uns an eine Situation, als meiner Mutter der Koran versehentlich aus der Hand auf den Fußboden rutschte. Sie hob ihn auf und küsste ihn, weil es in ihren Augen eine Schande für dieses heilige Buch war, dass es mit dem Fußboden in Berührung kam. Aber ich erinnere mich auch sehr gut daran, dass sie immer wieder auf der Suche nach dem tieferen Sinn des Lebens war oder nach etwas Besserem und Höherem.
Sie erzählte uns oft, dass sie zum lieben Gott betete und ihn anflehte, er solle sie von diesem furchtbaren Mann befreien. In diesen schrecklichen Monaten seit den Osterferien, in denen meine Mutter die schlimmsten Ängste ihres Lebens durchgestanden hatte, weil sie dachte, sie würde ihre Kinder nie wiedersehen, wuchs ihre Verzweiflung.
Sie hatte vor einiger Zeit, als sie noch als Verkäuferin in der Kaufhalle arbeitete, eine Zeugin Jehovas namens Lana kennengelernt. Wie so oft sprach diese meine Mutter beim Abkassieren an, als sie bemerkte, dass meine Mutter Türkin war.
Die Zeugen Jehovas haben diese eine Gabe: Menschen, die in einer schwierigen Lebenssituation stecken, anzusprechen. Irgendein Schlagwort zieht bei fast jedem.
Der Aufhänger ist immer, wie schlecht die Welt ist, in der wir leben und dass es doch so viel schöner wäre, wenn all dies irgendwann Vergangenheit wäre.
Da die Situation kein langes Gespräch zuließ, hinterließ Lana meiner Mutter einen Wachturm und ihre Telefonnummer. Nach Erzählungen meiner Mutter legte sie dies alles erst einmal zur Seite.
Derweil lebten wir unser Leben weiter. Mein Vater war mehr abwesend als anwesend. Meine Mutter arbeitete Vollzeit mit drei Kindern. Meine jüngere Schwester war noch kein Jahr alt und wurde von einer Tagesmutter betreut. Sie hatte von Geburt an gesundheitliche Probleme, was uns ebenfalls emotional belastete und vor Herausforderungen stellte.
Sie wurde mit einem seltenen Gendefekt geboren, der eine Verhornungsstörung und Deformierung der Finger- und Fußnägel hervorruft und das Immunsystem schwächt, was wiederum dazu führt, dass sich das Nagelbett sehr häufig schmerzhaft entzündet und zu hohem Fieber führt. Besonders in ihren ersten Lebensjahren musste sie deshalb sehr häufig ins Krankenhaus.
Wenn mein Vater zugegen war, stritten meine Eltern nur. Es wurde immer unerträglicher. Bis zu jenem kalten Wintertag, an dem sich unser ganzes Leben ändern sollte.
Ich erinnere mich nur noch an Fragmente. Eines davon war ein Gespräch mit meiner älteren Schwester und meiner Mutter in ihrem Schlafzimmer. Sie packte aufgeregt und hektisch einen Koffer und bat uns: »Packt auch eure Sachen und denkt daran, all eure Lieblingssachen mitzunehmen.«
Was ich als Achtjährige zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass meine Mutter inzwischen herausgefunden hatte, dass mein Vater eine junge Frau im Urlaub kennengelernt hatte, die nun auch noch zu Besuch bei uns war. Meine damals sechzehnjährige Schwester klärte meine Mutter auf und bat sie inständig, unseren Vater zu verlassen. Nachdem diese Bombe geplatzt war, war meine Mutter nicht mehr zu halten. Sie schmiss ihn samt seiner Geliebten raus.
Mein Vater ließ uns aber nicht so einfach ziehen und machte es meiner Mutter schwer. Er klingelte Sturm, kam ins Haus und schlug auf die Türe ein. Er drohte ihr, dass er uns Kinder entführen würde. Meine Mutter musste etliche Male die Polizei verständigen. Sie hatte Angst vor ihm, was ich auch sehr gut nachvollziehen konnte. Ich konnte mir allerdings schwer vorstellen, dass mein Vater mit beiden Frauen zusammenleben wollte, wie meine Mutter es oft vermutete. Ich habe nie erfahren, was seine Beweggründe waren.
Wir packten also unsere Sachen. Es war schon spätabends. Ich erinnere mich noch gut an den Moment im Badezimmer, als ich meine Zahnbürste und weitere Utensilien zusammenpackte. Meine größte Sorge war, dass ich nicht in die Schule gehen dürfte. Was würde meine liebe Klassenlehrerin denken und meine Freunde? Das war mein einziger sicherer Ort zu diesem Zeitpunkt.
Meine Mutter bat uns, keine Fragen zu stellen und einfach mitzumachen. Sie packte das Baby ein und wir zogen uns an. Zu später Stunde klingelte es dann an der Eingangstüre.
Meine Mutter öffnete und dort stand ein älterer Herr namens Laier. Er stellte sich als Sozialarbeiter der Stadt Frankfurt vor. Meine Mutter war ihm offensichtlich schon einmal begegnet. Sie erklärte nur, dass wir mit ihm gehen sollten. Also folgten wir ihm mit Sack und Pack in die kalte Dunkelheit. Ich erinnere mich noch an dieses merkwürdige Gefühl. Es war zum Teil Erleichterung, aber auch Angst; Angst vor dem, was da auf uns zukam.
Herr Laier brachte uns in ein anderes Haus in unserem Viertel, welches wir zu Fuß erreichen konnten. Wir liefen etwa 20 Minuten durch die dunkle Kälte. Kein Mensch war draußen und wir gingen schweigend nebeneinander her. In mir machte sich ein bedrückendes Gefühl breit
Wir erreichten das Büro des Sozialamtes Frankfurts, welches sich in einem ganz normalen Wohnhaus befand. Es war dunkel und verlassen und Herr Laier erklärte uns, dass wir eine Nacht hierbleiben müssten und er uns am nächsten Morgen in ein Mutter-Kind-Haus bringen würde. Ich hatte den Eindruck, dass es für meine Mutter in Ordnung sei. Wir stellten unsere Taschen ab und kümmerten uns schnell um eine Schlafmöglichkeit. Es gab einen großen Warteraum mit bunten Polstern, aus denen wir uns einen Schlafplatz bauten. Dort verbrachten wir die sehr kurze Nacht, die erwartungsgemäß unruhig war. Keiner von uns konnte wirklich schlafen.
Am nächsten Morgen, sehr früh, kam Herr Laier zurück und brachte uns in ein Mutter-Kind-Haus in Frankfurt.
Die Adventszeit hatte bereits begonnen und in diesem Haus war alles weihnachtlich dekoriert. Wir trafen auf einige Frauen mit ihren Kindern. Jede hatte ihr eigenes Zimmer mit mehreren Betten und jede hatte ihr eigenes Schicksal. Hier würden wir nun erst einmal bleiben. Ich wollte wissen, wie lange wir bleiben müssten, aber bekam nie eine Antwort.
Es war eine dunkle, ungewisse und bedrückende Zeit. Raus aus dem Umfeld und der Schule. Keiner durfte wissen, wo wir waren. Die Wochen verstrichen und auch hier reichen meine Erinnerungen lediglich an eine heftige Mumps-Infektion und ein trostloses Weihnachtsfest. Aber es gab Weihnachtsgeschenke und ich bekam eine Spielesammlung, über die ich mich sehr freute.
Bis zur Trennung meiner Eltern waren Geburtstage, Weihnachten, Silvester und alle anderen Feiertage ein normaler und schöner Teil unseres Lebens gewesen.
Ich erinnere mich noch sehr gut an meine Kindergeburtstage mit Schwarzwälder Kirschtorte. Wir hatten Gäste und es wurde gefeiert. Sogar die Geburtstagspartys meiner älteren Schwester sind mir in positiver Erinnerung geblieben. Schöne Erinnerungsfotos aus dieser Zeit sind uns zum Glück geblieben.
Eines Tages hieß es, mein Vater hätte unseren Aufenthaltsort herausgefunden und wir müssten das Haus wechseln. Es waren inzwischen Weihnachtsferien und wir mussten wieder umziehen. Ich fragte mich immer wieder, wie lange wir so noch leben sollten. Meiner Mutter sah man die Sorgen und Strapazen deutlich an. Sie schlief und aß wenig und rauchte dazu Unmengen an Zigaretten.
Im neuen Frauenhaus fanden wir uns schnell zurecht. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht...
Erscheint lt. Verlag | 9.8.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Autobiografie • Jehova • Kindheit • Religion • Sekte • Sektenausstieg • Zeugen Jehovas |
ISBN-10 | 3-7598-5558-X / 375985558X |
ISBN-13 | 978-3-7598-5558-9 / 9783759855589 |
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Größe: 1,6 MB
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