Gefährliche Betrachtungen (eBook)
300 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-56019-8 (ISBN)
Tilo Eckardt ist deutsch-schweizerischer Lektor, Verleger, Autor und Literaturagent. Für die Arbeit an seinem ersten Thomas Mann Roman wurde er vom Nordic Cultur Fond und von der Klaip?da County Ieva Simonaityt? Public Library nach Nida in Litauen eingeladen. Gefährliche Betrachtungen entstand in der dortigen Autorenresidenz in unmittelbarer Nachbarschaft zu Thomas Manns ehemaligen Sommerhaus. Unheimliche Gesellschaft ist sein zweiter historischer Kriminalroman um den großen deutschen Schriftsteller.
Tilo Eckardt ist deutsch-schweizerischer Lektor, Verleger, Autor und Literaturagent. Für die Arbeit an seinem ersten Thomas Mann Roman wurde er vom Nordic Cultur Fond und von der Klaipėda County Ieva Simonaitytė Public Library nach Nida in Litauen eingeladen. Gefährliche Betrachtungen entstand in der dortigen Autorenresidenz in unmittelbarer Nachbarschaft zu Thomas Manns ehemaligen Sommerhaus. Unheimliche Gesellschaft ist sein zweiter historischer Kriminalroman um den großen deutschen Schriftsteller.
KAPITEL ZWEI
Tumult
Ich war bestens gelaunt und überlegte, zur Feier des Tages in einem Gasthaus im Ort zu Abend zu essen. Doch angesichts meiner bescheidenen finanziellen Verhältnisse und der Tatsache, dass das Abendessen im Preis des Logis bei Frau Bryl inkludiert war, konnte ich mich nicht zu dieser Extravaganz durchringen. Ich aß also stattdessen auf der Veranda der Pension mit Blick nach Westen auf einen Himmel, in dem das Blau mit sinkender Sonne kräftiger zu leuchten begann. Pünktlich um sechs hatte meine Wirtin aufgetragen. Sie hatte zur Feier der erfolgreich angebahnten Begegnung mit Thomas Mann Zeppeline zubereitet. Die mit würzigem Fleisch gefüllten Kartoffelklöße lagen wie knusprige Luftschiffe in einer kräftigen Soße aus in Butter ausgelassenem Speck mit Smetana. Für jede Litauerin und jeden Litauer müssen Cepelinai stets genauso schmecken wie in ihrer Kindheit. Als Mutter am Sonntagvormittag mit der Zubereitung beschäftigt gewesen war und alle bei Tisch nur darauf warteten, dass sie mit von der Herdhitze erröteten Wangen, die Schüssel in der Hand, aus der Küche trat. Nichts vermag so zuverlässig unsere sentimentale Seite zum Vorschein zu bringen wie der Gedanke an die Lieblingsspeise. Ich fand jedenfalls an diesem Abend, dass Frau Bryls Cepelinai dem Geschmack meiner Kindheit schon sehr nahekamen.
Meine Ausgabe der Buddenbrooks, die Kladde mit den Übersetzungsnotizen und den Montblanc aus dem Besitz meines Vaters hatte ich neben den Teller gelegt und blätterte im Buch nach der Stelle, die ich zuletzt geprüft hatte. Selbstverständlich hatte ich nicht vor, zu essen und wie nebenbei an der anspruchsvollen Übersetzung zu arbeiten. Dies war eine Vorarbeit, eine mir im höchsten Maße angenehme spielerische Annäherung an die Stolpersteine eines Textes, die ich mir zur Angewohnheit gemacht hatte. Ich las, blieb an Worten hängen, für die ich Entsprechungen suchte, spielte damit herum, fand und untersuchte Varianten, sagte mir die Worte laut vor und schrieb mir dasjenige, das mir am besten gefiel, mit einem Vermerk in die Kladde. Doch das Spiel machte mir nicht so viel Freude wie sonst, denn ich war durch die Ereignisse am Strand und durch die frischen Bilder in meinem Kopf abgelenkt. Die Bilder der geschriebenen Seiten, die ich für Thomas Mann gerettet hatte. Drei Blätter, bedeckt mit seiner disziplinierten Handschrift, steil, eng, mit gleichmäßig nach rechts geneigten Unterlängen und Buchstaben, die ein Muster von Häkchen bildeten. Ich konnte das Geschriebene nicht ohne Weiteres lesen, ich musste es mit Zeit und Muße entziffern.
Doch eigentlich verbot mir das der Anstand. Denn der Inhalt der Blätter war selbstredend privat. Man liest ja auch nicht anderer Leute Briefe, nur weil die Gelegenheit günstig ist. Überdies hatte ich dem großen Dichter versichert, den Inhalt nicht zu kennen.
Ich hoffe, Sie nehmen mir ab, dass ich keinesfalls glaube, Einfluss auf die Geschichte genommen zu haben. Obwohl wir alle durch unsere Handlungen und Entscheidungen, durch die schiere Tatsache unseres Daseins dem Lauf der Dinge kaum wahrnehmbare Schubser in die eine oder andere Richtung geben. Wohlgemerkt hätte nicht Thomas Manns Leben eine andere Wendung genommen, wenn ich mich damals anders entschieden und die Blätter ignoriert hätte, meines hingegen schon.
Wie kann man etwas, das man im Kopf hat, wieder wegdenken? Vielleicht, indem man es aus dem Kopf herausholt, aufschreibt, weglegt und dann vergessen kann. Ich weiß, dass ich mir den Vertrauensbruch schönrede. Und doch glaubte ich, dem Dichter womöglich sogar einen Dienst zu erweisen, hatte ich doch gerade miterlebt, wie fahrlässig er mit seinen Notizen umging, wie leicht ihm der Wind Gedanken aus der Hand reißen konnte. Ich würde also sein Archivar sein, schlug eine neue Seite in meiner Kladde auf, zog mir die Gedankendecke über den Kopf und begann, das Schriftbild sorgfältig bis ins Detail aus meinem Gedächtnis zu faksimilieren, während ich nebenbei die Zeppeline aß. Ich tat es ohne Eile und ohne inhaltliches Verständnis. Entschlüsseln würde ich das Aufgeschriebene später.
Ich hatte gerade die letzte Zeile rekonstruiert und den letzten Bissen heruntergeschluckt, als ich hinter mir eine Stimme vernahm: »Haben Sie bereits mit der Übersetzung der Buddenbrooks begonnen?«
Ich schrak dermaßen zusammen, dass meine Hand, die auf der Kladdenseite gelegen hatte, sich verkrampfte und das Papier darunter zerknitterte.
»Frau Bryl, warum müssen Sie mich immerzu erschrecken?« Wie lange hatte sie mir schon über die Schulter geschaut?
»Herr Miuleris, warum sind Sie auch so furchtbar schreckhaft?« Sie räumte den Teller ab. »Haben Ihnen die Cepelinai geschmeckt?«
»Hervorragend«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Erstaunlich, dass Sie sich überhaupt an Ihre Mahlzeit erinnern können, wo Sie doch die ganze Zeit die Nase nicht in den Teller, sondern in Ihre Arbeit gesteckt haben.«
»Beobachten Sie mich etwa?«
Mein Misstrauen gegenüber Frau Bryl mag Ihnen übertrieben erscheinen, aber zu diesem Zeitpunkt der Geschichte begann ich bereits damit, mir Gedanken darüber zu machen, wem ich trauen konnte und wem nicht.
»Selbstverständlich beobachte ich Sie!« Sie wirkte gekränkt. »Eine gute Wirtin hat ihre Gäste immer im Blick.«
Man musste ihr zugutehalten, dass sie ihre Sache als Pensionswirtin anständig machte. Das überraschende Hereinplatzen in Gästezimmer und die an Übergriffigkeit grenzende Neugierde standen aus ihrer Sicht nicht im Geringsten im Widerspruch zu den guten Absichten.
»Kann ich Sie zu einem Digestif überreden? Einen Williams vielleicht? Oder einen schönen Tresterbrand?«
»Da muss ich leider dankend ablehnen.« Ich nahm Füller, Buch und Kladde und erhob mich. »Ich habe beschlossen, den heutigen Tag mit einem Glas Bier bei Blode ausklingen zu lassen.«
»Ganz wie Sie wünschen. Bitte vergessen Sie nicht, dass ich spätestens um elf Uhr das Haus abschließe und zu Bett gehe. Kommen Sie nicht auf die Idee, zur Unzeit an mein Schlafzimmerfenster zu klopfen.«
Zurück in meiner Kammer, sah ich mich um. Die Einrichtung bestand aus Bett, Stuhl, Tisch und Kommode mit Waschschüssel. Das kleine Fenster bot mir einen Blick auf den Wald, ein Zimmer mit Dünenblick war mir zu teuer gewesen. Ich konnte beim besten Willen keinen Ort entdecken, an dem meine Kladde vor den neugierigen Fingern und Blicken meiner Wirtin sicher gewesen wäre. Ich setzte mich an den Tisch und begann, die faksimilierten Seiten nahe der Bindung vorsichtig herauszutrennen. Dann schrieb ich – ich weiß nicht, warum, vielleicht einer antrainierten Ordnung halber – »Thomas Mann, 3.VIII.30« klein in die obere rechte Ecke jedes Blattes, faltete sie zusammen und schob sie in die Innentasche meines Jacketts.
Frohgemut machte ich mich auf den Weg zum Gasthaus Blode, denn ich hatte etwas zu feiern. Ich, Žydrūnas Miuleris, Übersetzer aus Vilnius, war eingeladen, am nächsten Tag mit dem Meister spazieren zu gehen. Eine solche Entwicklung der Dinge hätte ich mir niemals träumen lassen. Sein Interesse an mir steigerte mein Selbstwertgefühl erheblich, und ich hielt es nicht für unwahrscheinlich, dass ich den Abend mit einem Glas zu viel begehen könnte. So oder so, am Morgen zur vereinbarten Stunde wäre ich bereit, Seit an Seit mit dem Dichter durch den Wald zu wandern.
Es war noch nicht acht Uhr, und ich lief mit der tief stehenden Sonne im Rücken. Von meiner Pension auf der Meerseite der Nehrung konnte ich über anderthalb Kilometer durch den dichten Laubwald auf direktem Weg das Gasthaus Blode auf der Haffseite ansteuern. Zunächst stetig bergauf, bis ich den Dünenkamm erreicht hatte, danach bis ins Dorf sanft wieder bergab. Im Wald begegnete ich dem Ehepaar Mathies aus Stralsund, die wie ich in Frau Bryls Pension logierten. Sie grüßten freundlich und erzählten kurz und angeregt von ihrem Abendessen bei Blode. Es sei ihnen allerdings etwas zu laut geworden, als »die Herren Künstler und Schöngeister« gekommen seien – wie Herr Mathies bemerkte. Das Gasthaus Blode war Treffpunkt für Mitglieder der Künstlerkolonie von Nidden, die illustren Gäste tranken viel und neigten zum laustarken Diskutieren und Politisieren. Nun, die Mathiesens würden sich, wie sie sagten, den Abend nicht verderben lassen, denn man sei auf dem Weg zum Strand, um den Sonnenuntergang zu bewundern. Frau Mathies zog ihren Gatten am Arm, und der sagte noch: »Dort am Strand sollten diese Maler den Farben der Natur nacheifern, statt am Stammtisch Reden gegen Deutschland zu schwingen.«
Als ich mich zehn Minuten später dem Gasthaus näherte, war es schon so dämmrig, dass mir das warme Licht aus den Fenstern des großzügig verglasten Gastraumes die letzten Meter des Weges wies. Durch die Scheiben konnte ich sehen, dass die meisten Tische besetzt waren.
Damals war Nidden ein verträumtes Fischerdorf mit nur ein paar Hundert Einwohnern. Es gab fünf Gasthöfe, doch keiner lag so malerisch wie das Gasthaus des Förderers der Künste Hermann Blode: nur einen Steinwurf vom Ufer entfernt mit einem weiten Blick auf das stille Wasser des Haffs. Bei Blode saßen während der Saison zu jeder Tageszeit neben Familien in der Sommerfrische und Kurgästen Künstler aus Königsberg, Dresden und Berlin, die, von der Reinheit der Natur angelockt, auf der Nehrung das »Authentische« suchten und auf ihren Paletten die unendlich scheinenden Schattierungen von Blau mischten für Kornblumen,...
Erscheint lt. Verlag | 4.11.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 150 Jahre Thomas Mann • 1930er Jahre • Alex Capus • besonderer Ermittler • Betrachtung eines Unpolitischen • Buddenbrooks • colm toibin • Der Tod in Venedig • Deutsche Literatur • Die deutsche Ansprache • Ermittlungen • Florian Illies • Historische Krimis • historische Krimis Deutschland • historischer Krimi • Historischer Kriminalroman • Innere Emigration • Kriminalroman • Künstlerkolonie • Künstlerroman • Kurische Nehrung • literarische bücher • Michael Köhlmeier • Nationalsozialismus • NIDA • Nidden • Sherlock Holmes • Thomas Mann • thomas mann der zauberberg • thomas mann werk • Übersetzer • Widerstand • Widerstand gegen den Nationalsozialismus • Zauberberg |
ISBN-10 | 3-426-56019-4 / 3426560194 |
ISBN-13 | 978-3-426-56019-8 / 9783426560198 |
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