Dorn (eBook)
384 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-32115-4 (ISBN)
Kriminalpsychologe Simon Dorn beendet nach zahlreichen persönlichen Schicksalsschlägen seinen Polizeidienst und zieht sich in das leerstehende Hotel Dornwald in Bad Gastein zurück. Dort setzt er heimlich seine Arbeit fort. Zimmer für Zimmer verwandelt er das Dornwald in einen Schaukasten ungelöster Mordfälle. Einzige Verbindung zur Außenwelt: Karla Hofbauer vom Cold Case Management am Bundeskriminalamt Wien. Als Hofbauer in Hamburg ermordet wird, deutet alles auf einen Serientäter hin. Die junge Kriminalpolizistin Lea Wagner folgt Hofbauers Spuren nach Bad Gastein und kommt als ungebetener Gast. Doch bald schon ermitteln Dorn und Wagner gemeinsam und jagen einen Mörder, der keine Grenzen kennt.
Entdecken Sie auch Jan Becks fesselnde Thriller-Reihe rund um die Ermittler Inga Björk und Christian Brand: »Das Spiel«, »Die Nacht«, »Die Spur«, »Das Ende«.
Jan Beck, Jahrgang 1975, arbeitete zunächst als Jurist, bevor er sich dem Schreiben widmete. Seine Thriller rund um Inga Björk und Christian Brand (»Das Spiel«, »Die Nacht«, »Die Spur«, »Das Ende«) landeten allesamt auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Wenn Jan Beck nicht gerade schreibt, verbringt er seine Zeit in der Natur, besonders gerne im Wald.
1
Wenige Stunden zuvor
Die Schlange, die sich vor der Ausgabestelle der Mission Hamburg gebildet hatte, war lang. Bis draußen um die Ecke standen sie: Alte, Junge und alles dazwischen. Karla bemerkte, wie sie zu Boden schauten, wenn sie endlich an der Theke waren. Nur selten schaffte es ein Dankeschön, sich gegen den allgemeinen Lärm in der Küche durchzusetzen.
Karla schöpfte ihnen Suppe in die Teller und gab sie weiter an Veronika, die Brot dazulegte und das Essen auf einem Tablett über die Theke reichte.
»Schneller«, drängte Veronika.
»Ich will nichts verschütten«, sagte Karla. Sie bemühte sich vergeblich, ihr mangelndes Talent zu verbergen. Sie konnte weder kochen noch servieren. Und ja, selbst das simple Schöpfen von Suppe konnte eine Herausforderung sein, wenn man es nur als Vorwand benutzte, um hier an der Theke stehen und die Leute beobachten zu können.
Zum Glück schien keiner ihre wahren Absichten zu bemerken. Es war wohl die Scham, die den Bedürftigen den Mut nahm, ihrem Gegenüber in die Augen zu sehen. Scham darüber, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Das Leben nicht mehr im Griff zu haben. Ohne das Angebot, hier Hunger zu leiden.
Diese Armut zu erleben, berührte Karla mehr, als sie erwartet hätte. Essen war ein ebenso lebenswichtiges Gut wie die Luft zum Atmen. Sich nicht mal die Nahrung leisten zu können, während ringsum Rekordgewinne vermeldet wurden, war doch absurd. Es zeigte das fundamentale Versagen einer Gesellschaft, die bloß behauptete, fortschrittlich zu sein, während sie in Wahrheit auf denselben ausbeuterischen Prinzipien beruhte wie vor hundert oder fünfhundert Jahren.
Karla sah nicht bloß Obdachlose, Süchtige und Kranke. Mit denen hatte sie in der Mission gerechnet. Doch hier waren mehrheitlich ganz normale Menschen versammelt, mit Manieren, gewaschenen Haaren, sauberer Kleidung – und einfach zu wenig Geld, um satt zu werden.
Aber Karla war nicht nach Hamburg gekommen, um die Welt zu retten. Nicht so jedenfalls, wie man es in der Mission Hamburg versuchte. Karla war wegen eines einzigen Menschen hier. Wenn er es denn verdiente, ein Mensch genannt zu werden.
Karla war auf der Suche nach einem Teufel.
Seit Jahren war sie auf der Jagd nach ihm. Doch noch nie war sie ihm so nahe wie jetzt. Sie wusste es, alles sprach dafür, und auf ihren Instinkt hatte sie sich immer verlassen können. Hier konnte sie den Teufel förmlich riechen. Wie er aussah, das wussten nur die, die nie mehr in der Lage sein würden, ein Phantombild zu liefern.
Weil sie tot waren.
Karla gab sich Mühe, nicht aufzufallen. Sie spielte die Rolle der wohlhabenden Städterin, deren Kinder das Nest verlassen hatten und die nun versuchte, die entstandene Leere mit guten Taten zu füllen. Der Leiter der Mission hatte nicht lange nachgefragt, als sie sich ihm heute Nachmittag vorgestellt hatte. Jede helfende Hand sei willkommen, hatte er gesagt und ihr Veronika vorgestellt, die ihr die Arbeit zuteilen würde.
Karla holte unwillkürlich Luft, als ein Mann an die Reihe kam, dessen Gesicht man sich auch auf dem Cover eines Magazins hätte vorstellen können. Kantig, braun gebrannt und glatt rasiert. Auch die Frisur war makellos. Er wirkte noch deplatzierter als viele andere hier. Und dennoch stand er um Suppe an, lächelte sanft, wirkte offen und freundlich.
Die Vorstellung, dass jeder hier der Teufel sein konnte – auch er –, ließ sie frösteln.
»Sie sind neu«, sagte er, wobei er sich zum Reden die Hand vor den Mund hielt.
Karla schwieg.
»Sie kommen nicht von hier, oder?«
»Wer schon«, murmelte Karla. Sie hob die Kelle zum Teller und drehte sie langsam um. Bohnen schwammen in der Brühe, Kartoffeln und Wurstscheiben.
Sie musste ihre Chance nützen. »Steht mir eine Krone auf der Stirn?«, fragte sie und zwang sich, ihm wieder in die Augen zu sehen. Es war die Frage, die er verstehen würde. Wenn er es war.
Er schüttelte verständnislos den Kopf und zog zu Veronika weiter, der er dasselbe Lächeln schenkte und sich anschließend an einen Tisch setzte, wo nur noch ein Platz frei war. Keiner der anderen beachtete ihn.
»Machst du bitte weiter?«, drängte Veronika.
»Verzeihung«, stammelte Karla und füllte den nächsten Teller für eine ältere Frau, die um eine Portion ohne Würstchen bat. Aus dem Augenwinkel sah Karla den nächsten Mann, der in die Schablone passte.
»Steht mir eine Krone auf der Stirn?«, fragte sie auch ihn, als er vor ihr stand.
»Was?«, gab er zurück. Er wirkte erschrocken.
Karla dachte an den Selbstverteidigungsstift in ihrer Hosentasche. Eine Sekunde, dann hatte sie ihn in der Hand. Zwei, und der Typ bekam ihn in die Rippen. Drei, und er lag vor ihr am Boden, fertig zum Abtransport.
Und dann?
Karla wusste, dass ihr Plan Lücken aufwies. Dass sie hier in Deutschland kein Recht hatte zu ermitteln, geschweige denn jemanden festzunehmen, selbst dann nicht, wenn er unter dringendem Tatverdacht stand. Sie würde einem deutschen Beamten nur schwer verklickern können, was sie hier machte und wieso man besser sofort das Bundeskriminalamt einschaltete. Ab einem bestimmten Punkt würde sie improvisieren und auf ihr Glück hoffen müssen.
»Was war das gerade?«, fragte er erneut.
Karla schwieg. Sie hatte es deutlich genug gesagt. Sie stellte sich vor, wie es gewesen sein musste, in diese dunklen, stechenden Augen zu starren. Zu ahnen, dass sie das Letzte sein würden, was man sah, bevor man eiskalt ermordet wurde. Ein Zittern erfasste sie, das sie nicht von sich kannte. Sie, die abgebrühte, hochdekorierte Kriminalbeamtin aus Wien, machte sich hier in Hamburg beinahe in die Hose.
Dann wandte auch er sich ab, nahm sein Essen und suchte sich in aller Ruhe einen freien Platz im Saal, nicht weit von dem anderen entfernt, dem mit dem hübschen Gesicht.
Eine halbe Stunde später hatte sie bereits fünf Verdächtige ausgemacht und allen die gleiche Frage gestellt. Als Nicht-Eingeweihter konnte man sie nur seltsam finden. Der Täter hingegen würde sofort wissen, dass er aufgeflogen war.
Doch danach sah es leider nicht aus …
Bald hatte auch der letzte Wartende seine Mahlzeit bekommen, und der Speisesaal leerte sich zusehends. Karla half, die Teller einzusammeln. Als der Kerl mit dem dunklen Blick aufstand, rempelte sie ihn von der Seite an, scheinbar unabsichtlich, wobei die Teller zu Boden fielen. »Entschuldigung«, murmelte sie und bückte sich. Auch er ging runter und half, die Teile zusammenzusammeln. Genau wie sie gehofft hatte.
»Sie schon wieder«, sagte er.
»Ja, ich.«
»Was sollte denn das mit der Krone und der Stirn? Sehe ich so aus, als wollte ich hier philosophieren oder so?«
Sie hob ihren Blick und starrte ihn an. Aus der Nähe betrachtet waren es bloß die dunklen Augenringe, die ihn böse wirken ließen. Links und rechts davon gab es zahlreiche Lachfältchen, die von einem besseren Leben erzählten.
»Ist so ein Spruch, wo ich herkomme«, behauptete Karla, die wusste, dass man das Aussehen eines Menschen nicht überbewerten durfte. Es gab Mörder mit Engelsgesicht, Mörder mit Gangstervisage und alles dazwischen. »Es wäre doch schön, wenn einem eine Krone auf der Stirn stünde, oder?«, präzisierte sie die Frage und betonte die essenziellen Wörter, um es eindeutig zu machen.
»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber möglicherweise haben Sie sich an der Tür geirrt. Das hier ist kein Kaffeekränzchen Ihrer Wohlfühlblase. Keiner, der hierherkommt, verschwendet auch nur einen Gedanken an eine Krone und wo sie geschrieben steht, ob auf der Stirn oder am Arsch!«, sagte er laut genug, um alle hier mithören zu lassen.
Karla wusste längst, dass sie sich in ihm geirrt hatte. »Verzeihen Sie«, murmelte sie und trug die Scherben weg. Die Leute starrten sie an. Im Saal wie hinter der Theke. Immerhin passte sie perfekt ins Rollenklischee der großbürgerlichen Hausfrau, die mit dem Sozialdienst hier bloß ihr Gewissen beruhigen wollte.
Sie würde morgen wiederkommen, und falls nötig auch übermorgen. Irgendwann würde der Teufel hier aufkreuzen, in der Mission, von deren IP-Adresse aus er bereits dreimal Kommentare im Internet veröffentlicht hatte.
Das freie WLAN hier war Teil des Angebots, das Passwort stand auf allen Tischen. Wer kein Geld für einen Datentarif auf dem Handy hatte, war genauso froh darum wie jemand, der nicht gefunden werden wollte.
»Geht es dir gut?«, fragte Veronika, als Karla hinter den Tresen kam, um beim Aufräumen zu helfen.
»Ja, ja, danke. Die Aufregung … und meine Ungeschicklichkeit.«
»Das erste Mal ist immer schwer. Du hast es doch ganz gut gemacht.«
Karla merkte genau, dass Veronika nur höflich sein wollte, und gab ihr ein Lächeln zurück.
Gegen zweiundzwanzig Uhr war endlich alles aufgeräumt. Karla schnappte Mantel und Schirm, verabschiedete sich und ging.
Das Wetter hatte sich gebessert. Sie hob den Kopf und sah den Mond zwischen Wolkenfetzen leuchten. Sie roch die feuchte, kühle Luft, aber auch Öl und Treibstoff, wie man es in Hafennähe erwartete.
Sie hatte Lust, zu Fuß zum Hotel zu spazieren, um den Kopf freizukriegen. Egal, ob es eine Stunde dauerte oder länger. Ihr Zimmer hatte eine Badewanne, in der sie sich hinterher würde aufwärmen können. »Na dann«, sagte sie, schritt los und hatte schnell die ersten zwei-, dreihundert Meter hinter sich gebracht.
Karla ging den Fall noch mal im Kopf durch.
Sie war auf den Tipp...
Erscheint lt. Verlag | 27.12.2024 |
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Reihe/Serie | Dorn - Simon Dorn und Leah Wagner ermitteln | Dorn - Simon Dorn und Lea Wagner ermitteln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | 2024 • Andreas Gruber • Bad Gastein • beste deutsche krimiautoren • Bestsellerautor • deutsche thrillerautoren • eBooks • Hamburg • junge Ermittlerin • Kriminalpsychologe • kriminalpsychologe simon dorn • Neuerscheinung • Österreich • österreichische thrillerautoren • Psychospannung • Psychothriller • Psychothriller bücher • Psychothriller Neuerscheinungen • Sebastian Fitzek • Serienkiller • Serienmörder • Thriller • Thriller Bestseller • Thriller Bücher • Thriller Deutschland • thriller neuerscheinungen 2024 • thriller neuerscheinungen 2025 • thriller österreich • Trauma • Wien |
ISBN-10 | 3-641-32115-8 / 3641321158 |
ISBN-13 | 978-3-641-32115-4 / 9783641321154 |
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