E.E. (eBook)

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2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70504-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

E.E. -  Olga Tokarczuk
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Breslau 1908: Als eine der mittleren Töchter einer kinderreichen deutsch-polnischen Familie führt Erna Eltzner ein eher unauffälliges Leben. Alles ändert sich, als sie wenige Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag am Mittagstisch ohnmächtig wird. Nicht nur hört sie Stimmen, auch ein Geist erscheint ihr. Frau Eltzner ist in heller Aufregung: Zeigen sich in ihrer Erna, der sie sich am nächsten fühlt von allen Kindern, die medialen Fähigkeiten, über die auch sie zu verfügen meint? Ernas Vater Friedrich Eltzner gehen die Belange seiner Kinder nicht wirklich etwas an. Doktor Löwe besucht die Kranke, wenngleich er für Übersinnliches wenig übrighat, und rät, nach einem Exorzisten zu schicken. Der wundersame Walter Frommer wird zurate gezogen, seines Zeichens Okkultist und bewandert in esoterischen Belangen. Und Joachim Vogel, zweifellos ein Experte auf seinem Gebiet, der sehr modern über psychische Krankheiten denkt. Wenn Frau Eltzner nun zu Séancen lädt, herrscht feierliche Stille in der Wohnung. Tritt die Tochter mit den Seelen der Verstorbenen in Kontakt, ist die verwitwete Frau Schatzmann, die ihren Mann vermisst, ebenso fasziniert wie ihr Sohn Arthur, der ein großer Physiologe werden will. Handelt es sich um eine Gabe, oder ist Erna dem Wahnsinn verfallen, gar hysterisch? Die Fünfzehnjährige wird zum Phänomen, zum Fall E.E.

Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Erna Eltzner


Aus dem Nebel der Unbestimmtheit, wie er für gewöhnlich die Existenz mittlerer Töchter in kinderreichen Familien umgibt, trat Erna Eltzner einige Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag – als sie am Mittagstisch ohnmächtig wurde.

Sogleich wurde Doktor Löwe gerufen, der einen Sauerstoffmangel im Gehirn feststellte sowie eine allgemeine Schwäche und Überempfindlichkeit des Organismus. Da er Ruhe empfahl, bettete man sie ins kühle Schlafzimmer der Mutter. Dort blieb Frau Eltzner lange bei ihr. Hielt die kalte, kleine Hand in der ihren, die warm und mollig war, und mühte sich, im reglosen Gesicht ihrer Tochter etwas zu finden, was ihr Aufschluss geben könnte.

In der quirligen Familie Eltzner stellte Ernas Ohnmacht eine ähnliche Sensation dar wie die jüngst überstandene Masernerkrankung des kleinen Klaus oder die Verlobung der ältesten Schwester Berta. Vom Mittagessen an stand die Tür des Zimmers, in dem Erna ruhte, nicht mehr still. Die fünf Schwestern, von der jüngsten, Lina, die der Vater auf dem Arm trug, bis zu Berta, der hübschen Achtzehnjährigen, ebenso die beiden Brüder – ständig schauten sie herein, brachten eine Bettflasche, aufgebrühte Kräuter, eine Decke, eine Puppe, nur um einen Blick auf das unnatürlich graue Gesicht zu erhaschen, die eingesunkenen Augen, die wächsernen Hände mit den weißlichen Nägeln.

Bis zum Abend waren die zahlreichen Zimmer der geräumigen Wohnung vom Geruch von Kölnisch Wasser und Ammoniak durchdrungen. Und allenthalben vernahm man behutsame Schritte, gedämpfte Gespräche, tadelnde Flüsterworte.

Mit Bertas Hilfe legte Frau Eltzner die geschwächte Erna, die nun wieder gänzlich bei Bewusstsein war, zum Schlafen in ihr – der Mutter – Bett. Zum ersten Mal sollte sie eine Nacht allein verbringen, ohne ihre Schwestern.

In der Dunkelheit, in die nur der trübe Lichtschein der Straßenlaternen fiel, wirkte das Zimmer der Mutter wie mit Puder bestäubt. Das breite Bett war in der Mitte eingesunken, in dieser Mulde lag Erna und blickte an die Zimmerdecke, an der Risse und Schatten spielten. Reglos lauschte sie auf die Uhr im Korridor, die mit ihrem regelmäßigen Ticken die Stille in kleine Kügelchen teilte. Erna musste an die Regale beim Bäcker denken, voll von runden Brötchen, eins neben dem anderen, als wäre es ein Rhythmus.

Sie wandte den Kopf zur Seite, ließ den Blick durch das Zimmer ihrer Mutter wandern. Sah den großen Kleiderschrank, einen wunderlich mächtigen Schemen, der sich im dreiteiligen Spiegel des Toilettentischs vervielfältigte. Ihr war, als huschte ein Schatten über die Spiegelfläche. Beunruhigt versuchte sie, sich aufzusetzen, doch sogleich wurde ihr übel. Sie hörte Stimmen, ein lebhaftes Gespräch mehrerer Personen, zu weit entfernt, als dass sie einzelne Wörter hätte verstehen können. Zunächst dachte sie, die Stimmen kämen aus dem Esszimmer, doch war es schon später Abend. Sie versuchte, etwas zu erhaschen von dem Gemurmel, doch je mehr sie sich bemühte, desto mehr entzog sich ihr der Ursprung jenes Gesprächs, verschwamm in Geräusch und Geplapper. Nach mehreren Versuchen, etwas zu verstehen von dem, was sie mehr an Wörter erinnerte, als dass es tatsächlich Wörter waren, dachte sie erleichtert, dass sie vielleicht noch nicht ganz aus der Ohnmacht erwacht oder aufs Neue eingeschlafen war, drang doch der Chor der Stimmen weder aus dem Esszimmer noch aus einem anderen Raum des Hauses zu ihr her, sondern in ihr selbst erklang er, aus einer Weite, die sich in ebenjenem Moment geöffnet hatte, als sie bei der Fischsuppe den Mann erblickte, der sie aufmerksam musterte.

Noch jetzt, im Bett der Mutter, hätte sie ihn beschreiben können, vielleicht nicht jede Einzelheit, aber doch das Wesentliche: helle Augen und eine Fremdartigkeit, die schwer zu fassen war. Als hätte man eine Illustration aus einem Buch ausgeschnitten und sie in ein anderes eingeklebt. Niemand beachtete den Mann, der so sichtbar dastand, und als Greta, eine Schüssel mit Spargel in den Händen, an ihm vorbeiging, wurde es Erna klar – sie sah einen Geist. Kein Wunder, dass dieser Mensch, durch den das Tapetenmuster hindurchschimmerte, sie mit Entsetzen erfüllte.

Sie hebt den Blick von ihrem Teller, dessen Rand mit blühenden Apfelzweigen verziert ist, sieht ihren Bruder Max, und gleich hinter ihm sieht sie d a s. Und der Mann mustert sie mit einem Blick, der so viele Gedanken enthält, so viele Wörter und Bilder. Sie kann es spüren.

Doch eigentlich hätte Erna keine Angst haben müssen vor einem Geist. Abends wurde oft der runde Kartentisch im Salon zurechtgerückt, dann schloss man geheimnisvoll vor den Kindern die Tür, und es kam der wundersame Herr Frommer und erzählte von sich bewegenden Gegenständen, von Türen, die mit einem Knall aufsprangen, von Stimmen, die sich durchs Haus bewegten. Und Erna, die einen Blick erhaschen konnte, sah, wie ihre Mutter sich zur Tante beugte und ergriffen flüsterte: »Papa war wieder bei mir …« Geister gab es also wirklich. So wirklich, wie Amerika existierte, die große Liebe oder ein Verbrechen, doch verblieben derlei Erscheinungen irgendwo in der Ferne, außerhalb des alltäglichen Lebens. Sie hatten ihren Platz in einem anderen Gefilde, man erwartete sie nicht zum Mittagsmahl.

Diese ungeschriebene Regel war nun gebrochen worden, und Erna hatte sogleich begriffen, dass die leicht verschwommene, mit nichts zu vergleichende fremde Gestalt, die für Augenblicke teilgenommen hatte an der Mittagstafel der Familie, ein Geist gewesen war. An der sicheren Ruhestätte, unter dem Plumeau, das wohlig warm war von der Bettflasche, kam Erna zu dem Schluss, dass sie eine Krankheit haben müsse, eine Krankheit, die sie befähige, Geister zu sehen. Nicht, dass das Geistersehen an sich eine Krankheit gewesen wäre – Herr Frommer sah die Geister schließlich auch, ebenso ihre Mutter (auch wenn Herr Frommer ihr in dieser Hinsicht zuverlässiger erschien). Und in den Romanen, die sie mit den Zwillingen heimlich aus der Bibliothek der Mutter nahm und die sie dann gemeinsam lasen, wenn die Erwachsenen zu beschäftigt waren, es zu bemerken, war ebenfalls davon die Rede. War der Vater zu Hause, versuchte er, darauf zu achten, dass die Mädchen sich nicht mit »Unfug« beschäftigten, und Erna wusste, dass er vor allem die Nervenanfälle seiner Gattin fürchtete, die Weinkrämpfe und Migränen, die Reizzustände, wenn alle mäuschenstill zu sein hatten und Doktor Löwe ihr Zimmer überhaupt nicht mehr verließ. War es also doch eine Krankheit? Und dieser Krankheit wegen sagte die Mutter: »Papa war wieder bei mir …«?

Es könnte dieselbe Krankheit sein. Und indem Erna die Gedanken fortspann, war es ihr, als stände das Bett an einem Abgrund, der eben heute sich geöffnet und die ganze Welt verändert hatte. Das Wort »morgen« brachte Erleichterung. Im Einschlafen sah sie das Gesicht ihres Vaters. Er küsste sie auf die Stirn, ging leise aus dem Zimmer. Später, schon auf der anderen Seite, im Land ihres Schlafes, begann ein großer Baum zu wachsen, ein Baum voller Ereignisse, voller Wörter und Versprechungen. Er wuchs und wuchs, bis er an den Himmel reichte, und er glomm auf in einer Wahrheit, die Erna nicht zu benennen wusste. Und es enthüllte sich – sie selbst ist dieser Baum, der aus der warmen Bettflasche wächst, in eben diesem Augenblick, und durch die Zimmerdecke wächst er und weiter in die Höhe, bis zum Dach des Hauses und noch darüber hinaus.

Am Morgen, als Erna mit Appetit im Bett ein weich gekochtes Ei aß, erzählte sie alles ihrer Mutter. Beobachtete aus dem Augenwinkel deren Gesichtsausdruck. Eine heftige Reaktion hatte sie erwartet, ihre Mutter aber schwieg. Erst als sie Erna aus den dünnen Haaren Mauseschwanzzöpfe flocht, fragte sie mit scheinbar gleichgültigem Ton, in dem die Tochter die gebändigte Neugier spürte:

»Kennst du ihn?«

»Wen?«, fragte Erna unschuldig.

»Den Mann vom Mittagessen …«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Erna, aber damit war das Gespräch noch nicht zu Ende.

Frau Eltzner, mühsam balancierend zwischen der drängenden Erregung und der Notwendigkeit, dem Kind gegenüber Ruhe zu bewahren, fand noch ein paar dringende Beschäftigungen, ehe sie schließlich fragte:

»Wie sah die Gestalt denn aus? Erinnerst du dich? Erzählst du es der Mama?«

Erna stand vor dem Spiegel, und ihre Mutter hakte ihr das beigefarbene Kleid zu, das ihr nicht stand. Etwas Eigentümliches war mit ihrem Gedächtnis geschehen, an das Gesicht des Mannes, durch den das Tapetenmuster geschimmert hatte, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie sah nur noch das Muster vor sich: Rosa-orangefarbene Lilien mit drei Blütenblättern, die vor dem hellbraunen Hintergrund eine Rosette formten. Sie erinnerte sich an die Blüten des Musters auf dem Teller, an die olivfarbene Fischsuppe mit den Semmelbröseln. Und sie erinnerte sich an den zuerst erstaunten, dann erschrockenen Blick ihres Bruders Max. An die unwirklich verschwommene Gestalt hinter ihm. Und wieder war es wie mit den Stimmen in der Nacht – je mehr sie sich mühte, sich an die Gestalt zu erinnern, desto weniger ließ sie sich fassen. Das Gesicht entzog sich ihr, verwischte, geradeso als wäre Erna bei seinem Anblick erblindet. Sie schwieg, mit nichts anderem vor Augen als ihrem eigenen Spiegelbild.

»Trug er eine Brille? Vielleicht ein Monokel? Überlege doch …«, versuchte die Mutter, ihr zu helfen.

Eine Brille, möglicherweise. Erna erinnerte sich an einen goldfarbenen Strich unter den hellen Augen. Eine Drahtbrille mit goldener...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2024
Übersetzer Lothar Quinkenstein
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Breslau • C. G. Jung • Deutschland • Erstausgabe • Esoterik • Exorzismus • Frühwerk • Jungianer • Nobelpreis • Polen • Psychische Krankheit • Psychoanalyse • Übersinnlich • Vorkriegszeit
ISBN-10 3-311-70504-1 / 3311705041
ISBN-13 978-3-311-70504-8 / 9783311705048
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