Ein tugendhafter Mann (eBook)

Mit einem Nachwort von Volker Weidermann | 'Ein phänomenaler Roman.' Volker Weidermann
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2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Eisele eBooks (Verlag)
978-3-96161-209-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein tugendhafter Mann -  Anita Brookner
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Ein heldenhaftes, abenteuerliches Leben, das wäre Lewis Percys Ideal. Ein Leben, wie es die Männer in den Romanen führen, die er studiert. Doch in der Realität wohnt er mit seiner Mutter zusammen in einem Londoner Vorort. Lange geht er den Weg des geringsten Widerstands, bis er an einen Pubkt gelangt, an dem er sich entscheiden muss, ob sich nicht doch ein Stück Abenteuer ins Dasein retten lässt.   »Ein wunderschönes Buch mit einem der überraschendsten Enden der Literaturgeschichte.« Volker Weidermann »Brillant.« THE NEW YORK TIMES

ANITA BROOKNER, 1928 in London geboren, studierte Kunstgeschichte am King's College und absolvierte ein postgraduales Studium an der Universität von Paris. Brookner wurde Expertin für Französische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts und übernahm 1967 als erste Frau die Slade-Professur der Schönen Künste in Cambridge. 1981 erschien ihr literarisches Debüt Ein Start ins Leben. Ihr Roman Hotel du Lac wurde 1984 mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Obwohl Anita Brookner erst in ihren Fünfzigern literarisch zu schreiben begann, verfasste sie bis zu ihrem Tod 2016 in London insgesamt 24 Romane. Sie gilt als meisterhafte Stilistin. Im Eisele Verlag erschien zuletzt ihr Roman Ein tugendhafter Mann. Seht mich an ist Anita Brookners dritter Roman.

Anita Brookner, 1928 in London geboren, studierte Kunstgeschichte am King's College und absolvierte ein postgraduales Studium an der Universität von Paris. Brookner wurde Expertin für französische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts und übernahm 1967 als erste Frau die Slade-Professur der Schönen Künste in Cambridge. 1981 erschien ihr literarisches Debüt Ein Start ins Leben. Ihr Roman Hotel du Lac wurde 1984 mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Obwohl Anita Brookner erst in ihren Fünfzigern literarisch zu schreiben begann, verfasste sie bis zu ihrem Tod 2016 in London insgesamt 24 Romane. Sie gilt als meisterhafte Stilistin. Mit Ein tugendhafter Mann erscheint einer der besten Romane Anita Brookners erstmals in deutscher Sprache.

1 Madame Doche, deren gönnerhafte Miene nicht weniger großzügig wurde dadurch, dass sie sie regelmäßig aufsetzte, nahm Lewis Percy den Camembert aus der Hand, drückte ihren erfahrenen Daumen hinein, verkündete, dass er gut war, und führte ihn in den Salon. Dort war die reguläre Besetzung seines privaten Theaters versammelt. Was für ihn die Unterhaltung dieses Abends war, die Lehrstunde des Abends, die Belohnung des Abends, wurde zu seinem persönlichen Vergnügen aufgeführt. Er musste nur noch Platz nehmen.

Manchmal brachte er eine Tüte Kirschen mit: etwas Kleines, aber Dekoratives, wie es seinem untergeordneten Status zukam. Im Salon nahmen die Damen, seine Mitbewohnerinnen, mal mehr, mal weniger kleine Häppchen zu sich, und da er der einzige Mann war, fehlte ihm der Mut, dem Ganzen eine etwas robustere Note zu geben, obwohl er fast immer Hunger hatte und gerne etwas Substanzielleres als die Schinkenscheiben und die paar Äpfel gegessen hätte, die er sich gestattete. Ab und zu bekam Mme Doche Mitleid mit ihm und setzte ihm einen Teller von der dicken, breiartigen Suppe vor, die sie für das Abendessen ihrer Arbeitgeberin zubereitete. Die Suppe gab es normalerweise nach den Äpfeln. Ein nicht weniger dickes Grießgericht konnte vor dem Schinken kommen. Lewis, der noch jung war, konnte mit diesen Abweichungen umgehen. Das Vergnügen dieses Abends lag nicht im Essen, obwohl es ihm natürlich immer willkommen war. Das Vergnügen dieses Abends lag für ihn vielmehr in der warmen, unkritischen Gesellschaft der Frauen, die alle nur vorübergehend hier wohnten, wie er auch, in der höhlenartigen Wohnung von Mme Roussel, der dreiundachtzigjährigen Witwe, unter deren Dach sie zufällig gelandet waren – für ein Jahr, für sechs Monate, für zwei Jahre –, so lange, wie ihre Tätigkeiten in Paris eben dauerten. Während Lewis’ Mitstudenten ihr Dasein in mageren Studentenunterkünften fristeten, wohnte Lewis dank eines Glücksfalls bei der französischen Sprachenschule und des Geldes, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, fast schon prachtvoll in der Avenue Kléber. Sein Zimmer war das kleinste in der Wohnung, wenig mehr als ein Anhängsel der Hauptwohnung, doch der überlegene Vorteil lag in der Geselligkeit seiner Mitmigrantinnen. Er bezeichnete sie in Gedanken als Mme Roussels Gäste, obwohl sie einen satten Preis für dieses Privileg zahlten. Mme Roussel selbst, die alt war und selten komplett bekleidet, glänzte durch wohlwollende Abwesenheit. Ihre Unterkunft, zu der nur Mme Doche Zutritt hatte, war abgetrennt, am Ende des Korridors. Ab und zu, wenn sie auf dem Weg zum Badezimmer waren – zu dem sie streng regulierten Zugang hatten –, konnten sie hören, wie sie Patiencen legte und mit sich selbst sprach, mit lauter, überraschend heiserer Stimme.

Nachdem er seinen Camembert oder seine Kirschen überreicht hatte, setzte sich Lewis mit Mme Doche, Roberta und Cynthia auf einen der Louis-XV.-Stühle mit ihren schäbigen Bezügen, die auf die unansehnliche Art von Wandteppichen abgewetzt waren, nach jahrelanger Abnutzung im flackernden Licht der in weitem Abstand montierten Wandlampen. Der Salon war dämmrig, sein ehemaliger Glanz nicht mal mehr eine Erinnerung. Dieser ausgeblichene Hintergrund unterstrich die Anwesenheit der Frauen nur noch stärker. Die abendliche Benutzung des Salons war eines der Privilegien, für die sie so teuer bezahlten. Und da sie schon so viel gezahlt hatten, nutzten sie ihn eben auch auf ihre Weise. Chesterfield-Zigarettenschachteln wurden nachlässig auf die Marmorplatten der verstreuten Tische mit den gusseisernen Beinen gelegt, neben Päckchen mit Räucherlachs und den Matzen, die Roberta so gerne aß. Durch ihre Arbeit bei der UNESCO konnte sie sich weit mehr Luxus erlauben als die anderen, und so erlaubte sie sich noch mehr: Ein fettiges Einwickelpapier, in dem sie ihren abendlichen Imbiss gewickelt hatte, konnte schon mal vom Kartentisch auf den Savonnerie-Teppich heruntersegeln, oder sie legte ihre Traubenkerne einfach auf eine Sèvres-Untertasse. Cynthia, die ebenso wie Lewis Studentin war, war da schon penibler, beinahe schon zu penibel für Lewis, obwohl er fast ein bisschen verliebt in sie war. Cynthia nippte an ihrem Kamillentee, während sie entsetzt zusah, wie Mme Doche Muscheln aussaugte oder Artischockenblätter mit den Zähnen ausstreifte. Mme Doche, die Einzige von ihnen, die hier quasi zu Hause war, war auch die Einzige, die regelmäßige Mahlzeiten zu sich nahm.

Man schrieb das Jahr 1959. Die Fenster des Salons waren wahrscheinlich seit 1950 nicht mehr aufgemacht worden, als Mme Roussel, damals noch »cette chère Mélanie«, zum letzten Mal die Gastgeberin für ihre vielbeschäftigten Freundinnen gespielt hatte, Frauen wie sie, die aus guten Familien stammten und deren Interessen und Aussichten limitiert waren. Seit damals hatte sie ihren flotten Abstieg ins Alter begonnen, unter der Fürsorge von Mme Doche, die zugleich Dienerin und Gesellschafterin war. Mme Doche war jedoch nie in die Position einer Freundin befördert worden, und deswegen wusste sie die Gesellschaft von Roberta und Cynthia und sogar die von Lewis zu schätzen. Was an den Abenden in diesem dämmrigen Salon herrschte, war eine Kameradschaft unter Mitgliedern der niederen Gesellschaft, bares Geld, das trotzig sein Gewicht gegen die Familienportraits und die Sèvres-Untertassen ausspielte. Robertas Gehalt und die allmonatlichen Zahlungen von Cynthia und Lewis drehten der verhaltenen Noblesse und dem ererbten Inventar einer längst verschwundenen französischen Großbürgerfamilie eine lange Nase. Lewis betrachtete ihre kleine Gruppe als ein vorübergehendes Lager auf fremdem Territorium und empfand ständig – und durchaus angenehm – eine geteilte Loyalität einerseits zu den realen, wenn auch schäbigen Stühlen und andererseits dem Bohème-Leben, das diese Stühle gezwungenermaßen mitansehen mussten. Dann wiederum schrieb er gerade seine Abschlussarbeit über das Konzept des Heroismus im Roman des 19. Jahrhunderts und musste sich gezwungenermaßen mit höheren Dingen beschäftigen, auch wenn er gerne frei von ihnen gewesen wäre.

In diesem Wettbewerb zwischen dem Etablierten und dem Importierten waren es die Frauen, die ihn jedes Mal besiegten. Ihnen verdankte er die Überzeugung, dass Frauen ein wesensverwandtes und empathisches Geschlecht waren. Als sie ihn mit seinem Camembert und seiner Tüte Kirschen willkommen hießen, mit einer offenkundigen Begeisterung, die eine gewisse versöhnliche Nachsicht mit seiner Jugend enthielt, mit seinem offensichtlichen Mangel an Raffinesse und seinem fragenden, erwartungsvollen Lächeln, wurde ihm das Herz ganz weit, und er spürte, dass er sich in einer Gesellschaft befand, die etwas Mütterliches in sich trug, etwas Bedingungsloses, sogar eine Spur Mitleid. In seinem späteren Leben sollte er genau dies als typisch weibliche Atmosphäre akzeptieren. So hatte er es im Hause seiner Mutter kennengelernt, und es wäre ihm nie eingefallen, es zu hinterfragen. Bescheiden und schüchtern freute er sich den ganzen Tag auf das, was er als sein Nachhausekommen betrachtete. Doch nicht der Salon bedeutete Zuhause. Die Frauen bedeuteten Zuhause.

Ein zusätzlicher Bonus bestand darin, dass sie ihm nach seiner Begrüßung sehr wenig Beachtung schenkten, sich aber weiter miteinander unterhielten, wie er fand, dass es sich für Frauen gehörte. Die Themen, über die sie sich unterhielten, waren fast immer dieselben: Robertas Arbeitstag im Büro, und was Mme Van de Waele, die belgische Delegierte, für die sie arbeitete, gesagt, getan und angehabt hatte – Letzteres fand Mme Doche besonders interessant –, und Cynthias Leiden, für die Mme Doche, eine ehemalige Krankenschwester, Rat und Gegenmittel anbot. Für Lewis war das alles wichtiges Material, und da es gewissenhaft auf Französisch besprochen wurde, hielt er es für den Gipfel der Weltläufigkeit. Während er sich schüchtern eine Scheibe von seinem eigenen Camembert auf eine Scheibe von Robertas Matzen legte, gab er sein tägliches Selbst auf, das Selbst, das in die Nationalbibliothek ging und mit irgendwelchen Romanhelden rang, gab es auf für diese warme Atmosphäre der Frauen, die ihm im Grunde wohlgesonnen waren – obschon sie ihn nach seiner Begrüßung größtenteils ignorierten – und ihm bei Bedarf als Schutz dienen würden. Insbesondere Mme Doche erschien ihm gütig: Ihre Wertschätzung für seinen kleinen Beitrag zum Abendbrot rührte ihn immer wieder, und, was noch wichtiger war, erleichterte es ihm, sich trotz seiner unbeholfenen Jugend wohlzufühlen, trotz der Fußknöchel und Handgelenke, die aus den Ärmeln seines Tweedjacketts herausschauten, und der Aufschläge seiner grauen Flanellhose, seiner Haare, die ihm senkrecht von der Stirn hochstanden und sich trotz großzügigen Einsatzes von Wasser nie glätten ließen. Ihre besondere Milde schrieb er dem Umstand zu, dass sie irgendwo einen Sohn hatte, und das, zusammen mit ihrem medizinischen Hintergrund, verlieh ihr eine gewisse Autorität in dieser Gruppe. Sie war eine üppige, friedfertige blonde Frau, die früher mal ein hübsches Mädchen gewesen war und immer noch einen Anflug von Koketterie zeigte. Trotzdem schien sie in Gesellschaft von Frauen auch glücklich zu sein.

Mme Doche mochte an die fünfzig sein, neben Robertas neununddreißig und Lewis’ zweiundzwanzig: Cynthia war fünfundzwanzig Jahre alt, wofür sie sich schämte. In Lewis’ Augen war Mme Doche die augenscheinlichste mütterliche Gegenwart, obwohl er durchaus sah, dass auch Roberta eine gewisse Mütterlichkeit besaß, denn sie war auf eine lebhafte und unbeherrschte Art liebenswürdig und rückhaltlos praktisch...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2024
Nachwort Volker Weidermann
Übersetzer Wibke Kuhn
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Booker Prize • Buchclub • Buchempfehlung • Einsame Helden • Einsamkeit • elegant • Empfehlung • Fiktion • Geschenk • Gesellschaftliche Normen • Gesellschaftsroman • Gesellschaftssatire • Happy End • Held • Heldentum • Herausforderungen in der Ehe • humorvoll • Identität • Identitätssuche • Ironie • Klassiker • Leseempfehlung • Lesekreis • Liebe • literarische Wiederentdeckung • London • Modern • Moderne Klassiker • Neuanfang • Paris • Satire • Selbstfindung • skurril • Sommer • Sommerbuch • Suche nach der Liebe • toxische männlichkeit • Trauer • Tugend • Urlaub
ISBN-10 3-96161-209-9 / 3961612099
ISBN-13 978-3-96161-209-3 / 9783961612093
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