Das Schweigen meiner Freundin (eBook)
500 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1065-0 (ISBN)
GIULIA BALDELLI, 1979 in Fano an der Adria geboren, arbeitet als Dozentin für Chemie und als Freelancerin im Bereich Risikomanagement und Lebensmittelsicherheit. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bologna. >Das Schweigen meiner Freundin< ist ihr erster Roman.
2
Seit vier Jahren schon lässt Lilli Cristi den ganzen Sommer über in ihrem Heimatort zurück. Wenn es wieder so weit ist, steigt sie mitten in der Nacht aus dem Taxi, ruft nach Ida, während Elmo, der einzige Taxifahrer im Ort, einen zerschlissenen Beutel und das spindeldürre Kind ins baufällige Haus bringt. Immer ist es Ida, die Lilli umarmt, niemals andersherum. Was sie ihr zuflüstert, wenn sie sie an sich drückt, versteht Elmo nicht, denn Lilli macht einen Heidenlärm. Sie lässt sich über Schulen und schlechte Zeugnisse aus. Über fehlendes Geld und wichtige Dinge, die sie mit Cristi am Rockzipfel nicht erledigen kann. Wenn Ida dann den Kopf schüttelt, verstummt Lilli, macht auf den hohen Absätzen kehrt und gibt dem Taxifahrer die Anweisung, sofort zum Busbahnhof zurückzukehren. Ohne sich von dem Kind zu verabschieden, das schwört er in der Bar auf dem Corso, und wer Idas Tochter kennt, weiß, dass er die Wahrheit sagt.
Als Lilli sich zum ersten Mal im Sommer vor vier Jahren Cristi vom Hals schafft, ist das Kind gerade einmal sieben Jahre alt, drei Jahre jünger als ich. Sie ist mit der ersten Klasse fertig und hat Ida nur zweimal gesehen; am Tag ihrer Geburt und einmal an Weihnachten in Bologna, in einer Bar am Bahnhof. Die Nachbarn hören sie nie reden, aber, wie sie meiner Mutter versichern, auch nicht streiten. Sie ist überaus neugierig, genau wie ich.
Wenn wir zusammen sind, ist Cristi nahezu stumm, und alles, was ich in diesen ersten Tagen seit ihrer Ankunft über sie weiß, weiß ich von meinem Vater oder verdanke ich meiner außergewöhnlichen Fähigkeit, die Gespräche meiner Mutter zu belauschen.
»Ida kann sich doch gar nicht um das Kind kümmern«, flüstert unsere Nachbarin eines Abends hinter vorgehaltener Hand.
»Doch, kann sie«, entgegnet meine Mutter gereizt.
»Eine Frau, die in einer heruntergekommenen Hütte haust und im Gefängnis kocht?«
Ich lausche gespannt. Meine Mutter erschaudert normalerweise beim bloßen Anblick des alten Gefängnisses am Flussufer. »Sie ist Köchin, und das ist eine Arbeit wie jede andere auch«, gibt sie jedoch gelassen zurück.
»Außerdem ist sie so gut wie Analphabetin«, fährt die Nachbarin fort. Aber meine Mutter ändert ihre Meinung nicht, weder an jenem Abend noch an einem der folgenden. Für sie ist Ida eine anständige Frau und wird Cristi guttun. Auch wenn sie ein schwaches Herz hat und weder lesen noch schreiben kann. Ein Segen sei sie, meint meine Mutter gar, weil sie nichts auf Lillis Schreierei gegeben hat, als diese ihre Tochter samt dem armseligen Beutel bei ihr abgesetzt hat.
»Was für eine Schreierei?«, will ich von meinem Vater wissen, als wir eines Nachmittags allein zu Hause sind. Er lächelt und erklärt, dass Lilli besorgt sei über Cristis Schulnoten. Ich werfe ihm einen verwunderten Blick zu. Meine Mutter will auch immer, dass ich gute Noten habe, warum sollte Lilli nicht das Gleiche von ihrer Tochter erwarten? Mein Vater lächelt, versteht mich wortlos. »Nun, bei anderen Dingen ist sie auch nicht so besorgt«, meint er. Ida hingegen verschwendet keinen Gedanken an die Schule, das ahne sogar ich. Ihr bereitet einzig Kopfzerbrechen, dass die Enkelin so mager ist. Dass sie Ringe unter den Augen hat, die sich je nach Stimmung grau oder grün färben. Sie arbeitet jeden Morgen, um Cristi frisches Fleisch kaufen zu können, sucht die Berge nach Kräutern ab, als Heilmittel gegen Augenringe.
Die ersten Wochen mit Cristi verlaufen eintönig. Ida bringt sie jeden Morgen zu uns, dann macht meine Mutter Frühstück. Ich murmle Cristi einen Gruß zu, gebe meiner Mutter einen Kuss und blicke ihr nach, während sie geschminkt und adrett gekleidet zur Arbeit geht. Mein Vater ist in jenem Sommer wochenlang unterwegs, und so sind Cristi und ich an den Vormittagen allein. Sie trinkt einen Schluck Milch, knabbert ein bisschen an ihrem Marmeladenbrot, und ich muss mich zusammenreißen, um ihre Portion nicht auch noch zu verputzen. Dann sehen wir im Wohnzimmer ein wenig fern. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich sie beobachte, wenn sie im Schneidersitz auf dem Teppich sitzt. Gerader Rücken, schmale Füße, den Blick nie auf den Fernseher gerichtet. Das macht mich nervös, ich schalte das Gerät aus und sage ihr, sie soll sich kämmen. Oder mir beim Abräumen helfen. Ja, murmelt sie immer nur und gehorcht augenblicklich. Sie ist es gewohnt, sich zu fügen, Anweisungen zu befolgen. Wir gehen jetzt raus, sage ich jeden Morgen um Punkt zehn Uhr und laufe rasch zu meinen Freundinnen vor der Kirche. Ohne einen Mucks rennt sie hinter mir her.
Cristi ist die Kleinste in unserer Gruppe, und sie ist die Schönste von allen. Über ihr Alter und ihre Kleidung tuscheln wir, doch über ihre Schönheit verlieren wir kein Wort. Allein ihr Anblick reicht, um sie nicht leiden zu können. Ihr Schweigen nutzen wir, um sie auf Abstand zu halten. Sie beschwert sich nie, grüßt immer alle, setzt sich mit ihren langen weißen Beinen auf den Boden und sieht uns beim Spielen zu. Ich gebe nur acht, dass sie ihre grässliche Baseballkappe nicht abnimmt. Meine Mutter hat mich tausendmal ermahnt, sie hat viel hellere Haut als du und verträgt die Sonne nicht. Milchig weiß, flüstern gehässig meine Freundinnen. Ich muss eher an den Mond denken, wie er in unseren Schulbüchern abgebildet ist, oder das Licht, in das der Vollmond unseren Ort taucht. Aber das sage ich ihr natürlich nicht.
In der sommerlichen Hitze konzentriere ich mich auf Monopoly oder auf unsere Spiele mit Straßenkreide, und wenn eines der Mädchen laut darüber lacht, dass Cristi in einer Tour aufsteht und sich wieder setzt, tue ich, als würde ich es nicht mitkriegen. Ob sie mitkriegt, was die anderen sagen, oder nicht, geht mich nichts an. Ich soll sie im Auge behalten, und das tue ich, sage ich mir immer wieder, um mein Gewissen zu beruhigen. Doch ich weiß sehr wohl, dass ich mehr tun könnte, bin ruhelos in diesem ersten Juni und jedes Mal erleichtert, wenn ich Cristi mittags wieder bei ihrer Großmutter abliefere. Ida erwartet uns normalerweise im Hof, und auf dem Gasherd brutzelt und duftet es immer verführerisch. Doch ich nehme ihre Essenseinladung nie an, und am Nachmittag lasse ich mich auch nicht mehr blicken.
Zu Hause warte ich auf meine Mutter und gehe dann raus zu Genny, unserer Anführerin, die toughste meiner Freundinnen. Wir sind die Klassenbesten, und sonst reden wir meistens über die Schule. Doch jetzt reden wir nur über Cristi. Gennys Neugier kennt keine Grenzen, und ich plaudere alles aus, was ich weiß.
Ich beschreibe Idas Haus, die rissigen Wände, das Bad, das aussieht wie ein Kellerloch, den Wassertank im Hof für die Dusche. Stimmt es, dass Cristi nur eine Hose hat? Ja, ihre Nonna wäscht sie jeden Abend.
Über die Ida, die in den Wäldern nach Heilkräutern für Cristi sucht, Cristi liebevoll anlächelt und sich für sie halb tot schuftet, verliere ich kein Wort. Vor dem Einschlafen habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen. Ich sage mir wieder und wieder, dass ich Genny zum Teufel schicken werde. Doch bei der nächsten Gelegenheit lasse ich mich wieder auf die Spielchen ein. Spioniere herum. Wenn der Postbote kommt, unterschreibt Ida mit einem X, sage ich, und meine Stimme zittert vor Bösartigkeit.
Eines Sonntagmorgens kommt mein Vater pfeifend in mein Zimmer. Er öffnet die Fensterläden und setzt sich aufs Bett.
»Weißt du, was heute für ein Tag ist?«
»Nein«, brumme ich.
»Der zweite Juli.«
»Das Fest am Fluss«, nuschle ich verschlafen. »Gehen wir zusammen hin?«
»Ich muss gleich wieder weg«, antwortet er sanft. Er macht eine Pause. »Ich dachte, du und deine Freundinnen, ihr könntet doch Cristi mitnehmen.«
»Es ist Sonntag, Papà«, maule ich. Es ist mein freier Tag ohne die Fremde, so nennen die netteren Mädchen Cristi, ohne die Stumme, sagen die gemeinen.
»Vielleicht überlegst du es dir ja noch anders«, gibt er nur zurück.
Ich weiß nicht, was der Grund ist oder ob ich einfach nur ein bisschen gefühlsselig bin, weil mein Vater zehn Tage fortbleiben wird, jedenfalls bitte ich meine Mutter, mir zwei zusätzliche Panini zu machen, für Cristi.
»Das ist sehr nett von dir«, sagt sie, bevor sie mir tausend Ermahnungen mit auf den Weg gibt. Nicht nach dem Essen schwimmen, immer bei den Freundinnen bleiben, mit Cristi nicht zu nah ans Wasser gehen und ein Auge auf sie haben. »Bestimmt kann sie nicht einmal schwimmen.«
»Warum nicht einmal?«
»Ach«, sagt meine Mutter mit einem genervten Stöhnen, »jetzt beeil dich, sonst wird es zu spät.«
Mit Sicherheit kann sie nicht schwimmen, denke ich, während ich die Treppe zur Altstadt hochsteige. Und wer weiß, was sie sonst noch nicht kann. Es ist heiß, meine Arme sind braun gebrannt, und die Sonne glüht. Das bedeutet für mich Sommersprossen noch und nöcher. Auf der Brust, an den Beinen und ganz besonders viele im Gesicht. Ich bin neidisch auf die Haut von Cristi, die duftet und keinerlei Farbe annimmt. Sie wird ein wenig rot, dann aber gleich wieder weiß. Wer weiß, vielleicht ist der Fluss zu kalt für sie. Möchte ich das Kind aus Bologna mit zum Fluss nehmen, damit sie darin ertrinkt? Nein, das nicht, sage ich mir und erschaudere.
Ich denke oft an diese Episode zurück, und jedes Mal habe ich eine andere Version im Kopf. Ich hole sie ab, weil sie mir leidtut. Weil ich vor meinem Vater gut dastehen möchte, weil ich will, dass ihre Haut im eisigen Wasser blau und hässlich wird. Jedes Mal, wenn ich mich an den Tag erinnere, an dem sich alles ändert, an dem alles anfängt, ist die jeweilige Erklärung plausibel, aber keine ist ausreichend für das, was dann kommt.
Bei dem Wort »Fluss« reißt Cristi am Sonntag die Augen auf. Geh schon,...
Erscheint lt. Verlag | 13.8.2024 |
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Übersetzer | Elisa Harnischmacher |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | L’estate che resta |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Coming-of-age • Debüt • Dorf • Dreiecksbeziehung • Familie • Freunde • Freundschaft • Freundschaft Frauen • Freundschaft zwei Frauen • Gastland Frankfurter Buchmesse • Gastland Italien • Geschenk Frau • Große Liebe • Italienische Literatur • Italienischer Roman • italienisches buch • Kindheit • Lebensgeschichte • Natur • Queer • queere Liebe • Sommerbuch • Sprache • Verbundenheit |
ISBN-10 | 3-7558-1065-4 / 3755810654 |
ISBN-13 | 978-3-7558-1065-0 / 9783755810650 |
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