Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen (eBook)

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2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30802-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen -  Wladimir Kaminer
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Das neue Buch des SPIEGEL-Bestsellerautors: Geschichten über die verbindende Kraft des Essens und die Schokoladenseiten unserer Nachbarn.
Kaum jemand ist so neugierig auf seine Nachbarn wie Wladimir Kaminer. Egal ob es um einzelne Menschen oder ganze Länder geht. Und wie könnte man einander besser kennenlernen als beim gemeinsamen Essen? Ist man zu Gast an fremden Tischen, verleibt man sich nicht nur die Kultur der anderen ein, man erfährt auch deren Träume, Wünsche, Sorgen und Hoffnungen. Auf seinen Reisen durch Europa nascht Wladimir Kaminer von den Tellern Portugals ebenso wie aus den Honigtöpfchen Bulgariens, er trinkt den Wein der Republik Moldau und tunkt den Löffel in die Töpfe Serbiens. Vor allem aber kommt er mit den Menschen ins Gespräch und taucht tief in deren Geschichte und Geschichten ein. Seine Streifzüge zeigen ein Europa, das so vielfältig, bunt und überraschend ist wie seine Speisen.

»Der fabelhafte Schriftsteller Wladimir Kaminer ist das, was manche vermeintliche und selbst ernannte Brückenbauer gerne wären, ein echter Brückenbauer nämlich.« Süddeutsche Zeitung

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.

Was uns verbindet:
Kohl und Pinkel, Bier und Schnaps


Wir beschimpfen uns gegenseitig als Egoistenbande, dabei beschuldigt jeder den anderen, er würde nur an sich denken und dadurch unseren Planeten zugrunde richten. Angeblich halten neunzig Prozent aller Menschen neunzig Prozent aller Menschen für gefühllose Egoisten. Das geht mathematisch nicht auf, ist aber als Überzeugung stark verbreitet. Die Menschen wollen einerseits so wenig wie möglich miteinander zu tun haben, meiden große Versammlungen, fahren nicht gern in einer überfüllten Straßenbahn, bestellen ihre Einkäufe online, schauen sich zu Hause Filme an, um nicht ins Kino gehen zu müssen, und treiben allein vor dem Bildschirm Yoga, statt mit Freunden Fußball zu spielen. Sie holen sich eine Yogamatte ins Zimmer und machen den »herabschauenden Hund«, wobei sie zwischen ihren eigenen Beinen durchblinzeln. Würde ein echter Hund so etwas tun, würde er höchstwahrscheinlich einen anderen Hund hinter sich sehen. Doch auf der kleinen Yogamatte zu Hause gibt es nur für einen Hund Platz – dich selbst.

Kinder bekommen bereits in zartem Alter beigebracht, dass sie nicht mit Fremden reden sollen, sondern nur mit Bekannten und Verwandten. Obwohl Bekannte und Verwandte immer dasselbe erzählen und auf Dauer nicht zu ertragen sind. Viel spannender wäre es für Kinder, mit Fremden zu reden, denn was die sagen, weiß man vorher nicht. Vielleicht sagen die Fremden etwas Gescheites. Kinder, die nie mit Fremden geredet haben, entwickeln später eine Soziophobie. Daher können viele Menschen auch als Erwachsene nicht mit Fremden kommunizieren. Stattdessen reden die einen bevorzugt mit sich selbst, die anderen nur mit einer künstlichen Intelligenz. Die natürliche ist ihnen zu blöd, sie trauen nur den Algorithmen.

Andererseits laufen wir Menschen permanent in Herden mit. Wir machen jede Straßenbahn voll, stehen einander bei Konzerten und Festivals auf den Füßen, verkleiden uns an Karneval als Kaninchen und wackeln selbstlos bei CSD-Paraden synchron mit dem Hintern. Wir brauchen die anderen, um Quatsch zu machen, niemand will allein auf der Straße mit dem Hintern wackeln. Wie funktioniert diese Mischung aus Selbstlosigkeit und Selbstbezogenheit? Gibt es einen Ausgang aus dieser Egoismus-Sackgasse, und sind nicht alle Lebewesen eigentlich solidarische Egoisten? Was ist mit den Waschbären, was ist mit den Tauben?

Amseln sind zum Beispiel viel größere Egoisten als wir. Ich weiß, wovon ich rede, ich beobachte sie nämlich seit drei Jahren, in denen sie regelmäßig im Aschenbecher auf meinem Balkon in Berlin brüten. Selbst ihre eigenen Kinder erfahren Elternliebe nur in geringem Maß. Die Betreuung des Nachwuchses geht ruckzuck: Zwei Wochen auf dem Ei sitzen, dann ein bis zwei Wochen feste Kindernahrung im Nest verabreichen und dann tschüss auf Nimmerwiedersehen: Die kleinen Amseln werden einfach von ihren Eltern aus dem Nest geschubst. Innerhalb kürzester Zeit müssen sie selbstständig fliegen lernen, andernfalls werden sie bei uns auf dem Hof von der Nachbarskatze Sandra aufgefangen und sofort als Speise in die natürliche Nahrungskette eingebunden.

Die meisten Amseln bestehen die harte Prüfung. Sie werden quasi im Flug erwachsen und kreisen fröhlich in dreißig Metern Höhe über den Dächern, kacken auf Sandra, auf den Hof und auf meinen Balkon, der einst ihr Kinderheim war, ihre vertraute Heimat, ihr Nest. Ihren Eltern gegenüber zeigen sie keine Gefühle. Sie erkennen sie nicht einmal, wenn sie neben ihnen auf dem Baum sitzen. Den Eltern sind sie ebenfalls völlig egal.

Wir Menschen hingegen schreiben dicke Wälzer über die richtige Erziehung, die mit den ersten Bewegungen des Kindes im Bauch der Mutter beginnen soll. Ich habe vor einiger Zeit in einem Ratgeber über glückliche Schwangerschaft gelesen, die mentale Verbindung mit dem Kind sei besonders wichtig. »Wissen Sie, wann Sie die ersten Bewegungen Ihres Kindes gespürt haben?«, fragte die Autorin ihre Leser. Ich wusste es sehr wohl. Ich habe die erste Bewegung meines Kindes gespürt, als es mit 24 Jahren endlich aus der elterlichen Wohnung auszog und sich ein Zimmer mietete. Davor haben wir uns alles geteilt und einander prima verstanden.

Im Vergleich zu Amseln sind wir Menschen vorbildliche soziale Wesen. Das liegt daran, dass wir alle unfertig auf die Welt kommen. Man darf uns nicht einfach so vom Balkon schubsen. Wir können uns jahrelang nicht selbstständig bewegen, krabbeln nur herum, werden von den Älteren hin und her getragen, in den Urlaub mitgeschleppt, an- und ausgezogen und im Kinderwagen herumgefahren. Der Dauer unserer Kindheit sind keine natürlichen Grenzen gesetzt. Oft sehe ich Nachwuchs, der kaum noch in den Kinderwagen passt und trotzdem weiterhin gefahren wird. Möglicherweise ist das Kind darin eingeklemmt, und die Eltern bekommen es mit bloßen Händen nicht mehr heraus, beschweren sich aber auch nicht darüber. Sie nehmen ihren Kinderwagen mit zum Joggen ins Stadion, zum Einkaufen oder ins Café und fahren damit bis an die Ostsee. Diese Kinderwagen sind auch größer und bequemer als früher, und sie halten länger. Manchmal dauert es eben dreißig Jahre, bis die sogenannten »Kinder« auf eigenen Beinen stehen, wie man so schön auf Deutsch sagt.

Hätte das jemand meinen Amseln erzählt, wären sie vor Lachen vom Balkon gefallen. Zumindest wissen unsere Kinder die Großzügigkeit ihrer Eltern zu schätzen. Neugeborene erkennen als Erstes die Gesichter anderer Menschen. Sie wissen auch um ihre Abhängigkeit für die nächsten dreißig Jahre und lassen sich mit ihrer Entwicklung Zeit. Wenn es sein muss, verstellen sie sich sogar und benehmen sich extra niedlich. Sie produzieren komische Geräusche, lutschen an ihren Fingern und lächeln die Erwachsenen an, um ihnen zu gefallen, damit sie gefüttert werden.

Sie wissen aber auch, dass diese Verstellung auf Dauer nicht funktioniert, und ändern daher alle fünf bis zehn Jahre ihre Anpassungsstrategien, um nicht geschubst zu werden. Sie kündigen an, sie wollten Künstler werden oder zuerst einmal die Welt kennenlernen. Gleichzeitig suchen sie nach einer Alternative zum elterlichen Haushalt, nach passender Gesellschaft, einem Kollektiv, das sie weitertragen könnte. Denn nur gemeinsam können wir uns entfalten, in der Einsamkeit verdorren und degradieren wir. Wir sind Weltmeister darin, Solidarität mit Fremden zu entwickeln, nach gemeinsamen Interessen zu suchen und eine Zukunft mit anderen zusammen zu gestalten. Darin sehe ich ein Paradox. Entstehung und Fortentwicklung des Menschen erfolgen in zwei Prozessen, die sich gegenseitig ausschließen: Abgrenzung und Zusammenkunft. Letzteres ist anstrengend. Wir beherrschen es wunderbar, einander aus dem Weg zu gehen. Viel schwieriger wird es, eine Zusammenkunft zu organisieren. Denn auch in der Menge, bei einem Konzert, einer Party, in der Straßenbahn, nackt im Liebesbett oder im Kaninchenkostüm während des Karnevals fühlen sich die Menschen oft allein. Physische Nähe gibt uns nicht immer das Gefühl, am gleichen Strang mit anderen zu ziehen.

Aus meiner Sicht eignet sich nur eine Situation perfekt für eine Zusammenkunft: eine gemeinsame Mahlzeit. Denn egal wie die Umstände unseres Lebens sind, ob wir gut oder schlecht drauf sind, in Deutschland oder in Guatemala leben, jung oder alt sind, links oder rechts, an Gott oder an den Urknall glauben, wir alle haben eines gemeinsam: Wir essen. Wir tun es jeden Tag, manche von uns sogar mehrmals am Tag. Morgens, nachmittags und abends lassen wir es uns schmecken und das gern in Gesellschaft. Egal wo ich hinfahre, überall sehe ich Menschen zusammen an einem Tisch sitzen und auf die Teller der Nachbarn schauen. Betrachtet man die Bilder einer beliebigen Gemäldegalerie in Europa oder besucht eine Ausstellung, egal aus welchem Jahrhundert, sieht man sie überall: große gedeckte Tische und Menschen, die an diesen Tischen zusammensitzen, essen und trinken.

Auch die christliche Kultur ist ohne Abendmahl nicht zu denken. An seinem letzten Abend vor der Kreuzigung entschied sich Jesus bekannterweise für ein letztes Geschäftsessen mit Freunden und Kollegen. Diese dreizehn Mann bei Tisch sind das berühmteste Bildmotiv des Abendlandes, ein Essen, das auf unzähligen Gemälden verewigt wurde. Heute fotografieren die Menschen ihr Essen so lustvoll, als wäre es ihr letztes, und teilen diese Bilder tausendfach in sozialen Netzwerken mit jenen Fremden, mit denen sie als Kinder nicht sprechen durften. Angeblich gibt es in der digitalen Welt zehn Mal mehr Bilder von Essen als von den Menschen selbst. Sollten Außerirdische irgendwann in ferner Zukunft anhand unserer digitalen Hinterlassenschaften unsere Zivilisation kennenlernen, werden sie denken, der Planet sei in erster Linie von Spiegeleiern und belegten Brötchen bewohnt gewesen.

Beim Essen lassen wir gerne alle Hemmungen fallen und kommen leichter mit Fremden ins Gespräch, beim Trinken führen wir vertrauliche Unterhaltungen. Mit Messer und Gabel in der Hand oder auch mit Stäbchen lernen wir, uns selbst zu offenbaren und den anderen zuzuhören. Als Buchautor, Geschichtenerzähler und Filmemacher bin ich in etlichen Ländern unseres Kontinents mit Fremden essen gegangen. Ich habe für das deutsche Kulturfernsehen Filme über die Frage gedreht, was die Menschen wo essen und warum. Dabei spielte die Qualität des Essens eine untergeordnete Rolle. Ich wollte vor allem die Menschen verstehen, die Länder kosten, mit fremden Kulturen ins Gespräch kommen. Am besten klappte das, wenn die Gastgeber einem etwas servieren, das ihnen selbst besonders wertvoll erscheint, was ihnen schmeckt. Die Frage, ob es dem Gast auch schmeckt, ist dabei nebensächlich. Das Geheimnis eines gelungenen Essens ist einfach: Man muss den...

Erscheint lt. Verlag 28.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • 3sat • Augenzwinkern • eBooks • essen verbindet • EU • Europa • Europareise • Gastfreundschaft • Kochen • Kulinarisch • Landesküche • Nachbarschaft • Neuerscheinung • Schlemmen • Schmunzeln • spiegel-bestseller autor • Völkerverständigung • was isst
ISBN-10 3-641-30802-X / 364130802X
ISBN-13 978-3-641-30802-5 / 9783641308025
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