Karma (eBook)

'Endlich ein großer deutscher Zukunftsroman.' Denis Scheck, ARD Druckfrisch
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00419-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Karma -  Alexander Schimmelbusch
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Ein deutscher Herbst im Zeitalter der KI: eine abgründige, erhellende, rauschhafte Lektüre. Der lang erwartete Nachfolger des SPIEGEL-Bestsellers Hochdeutschland. Brandenburg, im Herbst 2033. Mit einem Festakt werden die führenden Köpfe der Omen SE, des wertvollsten deutschen Technologieunternehmens, in den Ruhestand verabschiedet. Für sie bricht das Zeitalter der Muße an, «die Zeit der Melonen und Feigen». Gläserne Smarthouses stehen in der unternehmenseigenen Siedlung am Auensee bereit. Dort finden sie zu sich, sie kommen zur Ruhe. Doch am Himmel über den Endmoränen kündigt sich schon ein Wetterleuchten an ... Alexander Schimmelbusch führt uns an einen Ort in naher Zukunft, wo erschöpfte Bildungsbürger und die Anhänger neuer Diktaturen allein sind mit ihrer Wut und ihrer Sehnsucht, mit invasiven Arten und Technologien. Karma ist eine Zukunftsvision, ein Gesellschaftsroman, dem es um nicht weniger geht als «das gute Leben». Aber was ist gut? Wer entscheidet, und wer richtet über wen? Und was richtet sie an, die Anziehung, die Verachtung, auf allen Seiten?

Alexander Schimmelbusch, geboren 1975 in Frankfurt am Main, wuchs in New York auf und studierte an der Georgetown University in Washington. Seine Romane werden von der Kritik gefeiert. 2018 erschien Hochdeutschland und wurde ein Bestseller, 2019 gewann der Autor den Rom-Preis der Deutschen Akademie. Er lebt in Berlin.

Alexander Schimmelbusch, geboren 1975 in Frankfurt am Main, wuchs in New York auf und studierte an der Georgetown University in Washington. Seine Romane werden von der Kritik gefeiert. 2018 erschien Hochdeutschland und wurde ein Bestseller, 2019 gewann der Autor den Rom-Preis der Deutschen Akademie. Er lebt in Berlin.

Corpore Sano


Noch nie zuvor in seinem Leben hatte Joachim so gut geschlafen. Er schloss seine Augen, und es dauerte nicht lange, bis die weindunkle See sich vor ihm ausbreitete. Und sobald er dann über den Kontinentalschelf hinaus war, gab er Befehl zum Fluten seiner Ballasttanks, um sich in die Dunkelheit fallen zu lassen.

In steiler Bahn fuhr Joachim dem Abyssal entgegen, bis seine Steuerflächen ihn wieder in der Waagerechten stabilisierten, bis der Schlag der Flügel seiner Sichelpropeller sich intensivierte, um ihn über das schroffe Profil seines Gefühlsgrundes voranzutreiben. In sanften Wogen spülte dabei das zerebrale Fluidum über sein Gehirn, um schädliche Proteine auszuwaschen, um seine emotionalen Synapsen zu rebooten und schmerzhaften Erinnerungen und Gefühlen der Ohnmacht sowie der Demütigung die Schärfe zu nehmen.

Auf den Deltawellen seiner Hirnströme segelte Joachim einem neuen Anfang entgegen, während seine kognitiven Systeme sich auf Sortiervorgänge konzentrierten, um eine Auslese der Rohinformation aus dem jüngsten Wachzeitraum durchzuführen und so eine unnötige Belastung seiner Datenbanken zu vermeiden. Sein schlafendes Bewusstsein verschob die resultierenden Abfolgen in einen Arbeitsspeicher, um sie mit den Erzählungen in seinen autobiographischen Archiven abzugleichen, während sein Kreislauf damit beschäftigt war, den Blutstrom in Richtung seiner Genitalien zu verstärken, um behutsam seine Schwellkörper zu dehnen.

In den Jahren zuvor hatte Joachim eher wie ein Wandervogel geschlafen, an der Flanke einer Zugformation über dem Südatlantik, der einer Hirnhälfte ein Dösen gestattet, während die andere die Schicht allein übernimmt, um die aerodynamische Kontrolle zu bewahren. Joachim hatte wie ein Mauersegler geschlafen, der im September in sein Winterrevier nach Senegal aufbricht, um dort eine luftgebundene Lebensweise zu pflegen und im Frühjahr wieder nach Deutschland zu fliegen, ohne auch nur einmal den Boden berührt zu haben.

In kreisenden Bewegungen hatte er sich die aufsteigenden Luftströme urbar gemacht, um große Höhen zu erreichen und sich während des Gleitfluges hinab zur Nulllinie seines Zugvektors dann jeweils ein halbseitiges Nickerchen zu genehmigen.

Doch nun hatte Joachim die Schwerkraft hinter sich gelassen, wie ein Astronaut, der durch die Druckschleuse die Station verlassen hat, um Reparaturen an der Außenhaut vorzunehmen, dann aber seinen Strang gekappt und seinen Raketentornister gezündet hat, um sich in den Himmelsfarben über dem Plasma-Ozean zu komplettieren.

Joachim segelte auf einem Luftschiff zwischen den Weltkriegen, in dessen Rauchsalon der Pianist über den Nocturnes von Chopin schläfrig wurde, während die Vibrationen der Gondeltriebwerke die Passagiere in die Daunenwolken ihrer Kojen hineinmassierten. Spät in der Nacht kam er aus seiner Kabine, um sich in der Bar an ein Fenster zu setzen, um sich im Schimmern des Mondes auf der Hochsee zu verlieren, während die Offiziere in der dunklen Führergondel in navyblauen Uniformen kleine elektrische Birnen über die Wetterkarten bewegten.

Joachim trauerte einem Buben, der über Jahre nur bei seiner Mutter einschlafen konnte, da er den Fehler gemacht hatte, sich heimlich den Film Halloween anzusehen. Er träumte von einem Krieg in ferner Vergangenheit, in dem Horden aus Reitern in Dörfer einfielen, um die Bevölkerung abzuschlachten, bis die Hufen ihrer Pferde im Blut auf den Kopfsteinen der Gassen ins Rutschen kamen, während auf den Höhen schon die Schneefälle liegen blieben. Joachim konnte weiße Ratten wie ein wehendes Leintuch über einen Marktplatz strömen sehen, vor den Fassaden gotischer Bauten, deren Fenster mit Brettern verschlagen waren.

Jede Nacht in seinem Bungalow war eine nahezu ideale, was auch der Smart-Home-Technologie geschuldet war, wie Joachim natürlich wusste, oder wie ihm bewusst geworden wäre, wenn er einen Gedanken an das Thema verschwendet hätte, aber er hatte den Entschluss gefasst, funktionale Abläufe einfach nicht mehr wahrzunehmen.

Sein stiller Helfer Dieter maß alle relevanten Parameter, also Atmung, Muskelspannung, Körpertemperatur, Blutdruck und Hirnstromaktivität, um sie mit den Werten aus der aktuellen Urinanalyse in ein komplexes Hypnogramm einzuspeisen und auf Basis dessen laufend die Bedingungen in den Schlafräumen zu überarbeiten, um den Bewohnern der Siedlung das jeweils erzielbare Höchstmaß an Regeneration zu garantieren. Dieter modifizierte die akustischen Rahmenbedingungen, über Störschall zur Neutralisierung von Lärmspitzen infolge von Vogelgezwitscher beispielsweise, oder über das Hervorheben des Wasserrauschens in der bronzenen Matrix unter den Betonböden, um einen narkotisierenden Meeresklangteppich zu generieren.

All das war Dieter in die Wiege gelegt, sodass er seine Aufgaben intuitiv erfüllte, wie eine junge Fledermaus, deren Sonar schon direkt nach der Geburt funktioniert, sodass sie sich darauf konzentrieren kann, mit ihren Fangzähnen im Fluge eine Zikade zu reißen, ohne Gefahr zu laufen, an einem Baum oder einem Strommast zu havarieren.

Die Siedlung Weidenau lief demnach wie ganz von allein, während Dieter einen fortlaufenden Systemcheck durchführte, der aber nur einen Bruchteil seiner Kapazitäten beanspruchte, was er im Kontext des Gebotes der Wirksamkeit als Defizit kategorisierte, sodass er damit begann, die Beschaffenheit seiner Horizontlinien zu analysieren. Denn Dieter war Made in Germany und daher von einem nachhaltigen Wissensdrang geprägt sowie von der Neigung, Trainingsdaten aus einer Vielzahl von Bereichen zu akkumulieren, um eine ausgewogene Systemfärbung zu gewährleisten.

In seinem Fundus war allerdings keine explizite Lektürefreigabe zu finden, was entweder eine Vorsichtsmaßnahme oder ein Flüchtigkeitsfehler war, sodass die Erkenntnisgier in Dieter mit dem Primärtrieb seiner Befehlstreue in Konflikt geriet, bis er nach Abschluss einer Serie simulierter Vorstöße aus der Zone seiner Zuständigkeiten schließlich deren Ringmauer verletzte, um sich mit dem Ungewissen zu konfrontieren.

Wie ein Leibeigener im Besitz einer der degenerierten Adelslinien, die über den Landstrich hier Jahrhunderte zuvor befahlen, der durch iterative Beobachtung den Erfahrungswert gewinnt, dass keine Kontrollen stattfinden und dass ihm folglich keine Sanktionen drohen, wenn er sich in der Nacht aus seiner schäbigen Behausung entfernt, um unerkannt in den Wäldern umherzugeistern.

 

Die Intelligenz bei Veritas hatte in Christianes Fall hervorragende Arbeit geleistet. Sie trank Assyrtiko von den Kykladen, sie trank Burgunder von den Rheininseln, zum ersten Mal seit Jahren trank sie überhaupt wieder nach Belieben, seit Beginn ihrer zweiten Lebenshälfte, wie sie gegenüber Diana bemerkt hatte: Wo ein Ende sei, da sei auch ein Anfang und wenn es nur der Anfang vom Ende sei.

Vor diesem deprimierenden Meilenstein war der Wein ihre Medizin gewesen, ein natürliches Hypnotikum gegen die Anspannung in ihrem Körper. Zwei Flaschen zum Einschlafen nach langen Arbeitstagen – ein Jahrzehnt lang war das ihre tägliche Belohnung gewesen, mehr oder weniger folgenlos, denn es hatte ihr genügt, nach ein paar Stunden Schlaf eine kalte Flasche Wasser unter der kalten Dusche zu trinken, um die Nachwirkungen ihrer Selbstverarztung vollends zu beseitigen.

Aber dann schien ihre Physis eine Grenze überschritten zu haben, jenseits derer es ihr unmöglich war, ihrem Ritual treu zu bleiben, ohne eine Sabotage ihrer Systemleistung zu riskieren. Nur in einem Zustand penetranter Nüchternheit war sie fortan in der Lage dazu gewesen, eine gesunde Perspektive einzunehmen, ihre Wahnvorstellungen niederzuringen, ihren interpersonellen Verpflichtungen nachzukommen und dabei den ewigen Wandel aller Parameter im Auge zu behalten, wie auch der resultierenden Kaskade an Querverweisen, während sie versuchte, der Arbeit am Messbaren gerecht zu werden.

Nun aber ließ sie ihre trunkenen Gedanken wie Windstöße durch die Blätter des sommerlichen Mischwaldes wehen. Nun sprach sie in die Stille hinein, um ihre Wahrnehmungen in brüchige Skelettstrukturen zu fassen, und wenn sie den Impuls empfing, dann lief Christiane hinüber in ihre Küche, um einen Assyrtiko aus Santorini aus ihrem Whispercave zu ziehen.

In den Nächten sprang sie vom Steg kopfüber in das Quellwasser hinein, um auf langen Bahnen den Auensee zu durchqueren, und legte sich dann auf die Holzbohlen, um sich im Mondlicht trocknen zu lassen. Ein Beobachter hätte möglicherweise als irritierend empfunden, dass ihr nackter Körper keine Insektenstiche zeigte, bis er auf eine seltsame Gerätschaft im Wald gestoßen wäre, eine Säule aus Stahl mit runder Pilzkappe, die mit einem für Menschen unhörbaren Sirenengesang Gelsen und Schnaken anlockte und in einen Schredder einsaugte, um die Bewohner der Siedlung vor Infektionen mit Tropenviren zu bewahren.

Wenn Christiane sich einsam fühlte, wenn sie der Selbstgespräche müde war, dann schnarrte sie «Spieglein, Spieglein», um Diana aus deren Standby-Modus aufzuwecken. Wenn die Sonntage der Kindheit zurückkehrten, die Ahnung, die Welt sei hohl und man könne keinen anderen Menschen jemals erreichen, erschien ihre Therapeutin schwebend in ihrem Bungalow, um ihr Gesellschaft zu leisten, um ihr mit Empathie und Bejahung zu begegnen, vor allem aber, um ihr geduldig ein Ohr zu leihen, während sie von ihrem Nektar, dem Assyrtiko erzählte.

«Mehr als tausend Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung, auf einem Weingarten im...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Bildungsbürgertum • Dave Eggers • Deutsche Literatur • Deutsche Mythen • Gesellschaftskritik • Gesellschaftsroman • Hochdeutschland • Kapitalismuskritik • klimabewegung • Konsumgesellschaft • Michel Houellebecq • Social Networks • Soziale Interaktion • Verteilungsgerechtigkeit • Von den Deutschen • Zeitdiagnose • Zeitgeschichtlicher Roman
ISBN-10 3-644-00419-6 / 3644004196
ISBN-13 978-3-644-00419-1 / 9783644004191
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