Doppler (eBook)

Roman

(Autor)

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2024
224 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-32274-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Doppler - Thomas Oláh
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Ein Reifenplatzer. Als erstes fliegen die Boccia-Kugeln durch den Fahrgastraum, dann Mutti und Vati. Der unversehrt gebliebene Junge wird zu den Großeltern verbannt, sein Exil heißt: Frankenhayn. Ein Schelm, wer dabei an Frankenstein denkt - auch wenn das Dorf, in einer weinseligen Gegend Österreichs zu verorten, und sein Personal durchaus schaurige Züge aufweisen. Der Alkohol (serviert in monströsen Zweiliterflaschen, »Doppler« genannt), der Glaube (an die Kirche und Familie) und archaisch anmutende Traditionen spielen die Hauptrolle in diesem Sommer 1970, nach dem nichts mehr so ist wie vorher. Thomas Oláhs erster Roman ist ungeheuer komisch und nichts für schwache Nerven.

Thomas Oláh, geboren 1966 in Wien, lebt und arbeitet in Wien und Berlin als Kostümdesigner für Kino und TV sowie als Kulturhistoriker mit dem Schwerpunkt Modetheorie / Geschichte des Körpers. Arbeiten u. a. mit Leander Haußmann in »Kabale und Liebe«, mit Oskar Roehler in »Jud Süß«, mit Detlev Buck in »Die Vermessung der Welt«, mit Shirin Neshat in »Women without Men« (Silberner Löwe in Venedig), mit Brad Anderson in »Stonehearst Asylum«; 2013 wurde er mit dem Österreichischen Filmpreis für »Die Vermessung der Welt« ausgezeichnet, ferner erhielt er mehrere Nominierungen zum Deutschen Filmpreis. Zuletzt erschien »Wozu mich das Glück noch brauchen wird? Leben und Sterben des Herrn Winckelmann in sechs Monologen« (2017). »Doppler« ist sein Romandebüt.

Moment


Aus einer spontanen Laune heraus greift Dietrich Nikolaus Winkel nach dem Perpendikel, hält es still, befreit es aus der Aufhängung und stellt es auf den Kopf. Jetzt ist das runde Metall oben, und kurz vor dem anderen Ende des Gestänges soll der Drehpunkt sein, darunter ein solides Konterstück. Wenn er dann noch das obere Gewicht verschiebbar macht, dann kann man das Tempo des Taktes frei wählen. Damit kann jedermann sein ganz persönliches „Memento mori: Höre, wie deine Lebenszeit verticktackt!“ einstellen und seinen bislang nur innerlich spürbaren seelischen Takt für alle anderen vernehmbar machen. „Winkels Chronometer“, so sieht er schon die Überschriften in den Journalen, die seine Erfindung feiern werden.

Sein Versuch, den Geist der Romantik mit den Mitteln der Bureaucratie in einen Rahmen zu fassen, das ist schon eine schöne Idee, die aber leider niemand versteht, die Romantiker nicht und die Verwalter der Industrialisierung auch nicht. Und das macht Dietrich Nikolaus Winkel traurig und einsam.

Als er eines Tages vom bevorstehenden Besuch des legendären Schachtürken liest, beschleicht ihn eine Ahnung, die sich binnen kurzem zu einem starken Gefühl auftürmt. Er spürt, weiß es: Zwischen seiner einsamen Seele und jenem Türken besteht eine geheime Verbindung, eine transzendentale Verwandtschaft. Die allermeisten seiner Zeitgenossen würden über diese Anwandlungen wohl nur lachen, denn der Schachtürke ist ein Automat, eine seelenlose Maschine. Die lebensgroße Puppe ist „alla turca“ kostümiert, sitzt vor einem Schachbrett und wartet auf den Eröffnungszug des – menschlichen – Gegners. Und dann. Aus der großen Kiste, auf der das Brett steht, dringen Geräusche drehenden Mahlens von Räderwerk, von Federn, die sich anspannen und tick-tack klicken, bis sich die linke Hand der Puppe hebt, eine Figur greift, den Zug ausführt, um schließlich wieder auf dem kleinen brokatenen Kissen neben dem Spielbrett zu liegen zu kommen.

Der Präsentator dieser Maschine, ein gewisser Johann Nepomuk Mälzel, steht eine gute Armlänge entfernt, und man könnte nicht sagen, ob er die Spielzüge des automatischen Türken nur kritisch beobachtet oder, durch irgendeine metaphysische Konnexion mit der Maschine verbunden, diese insgesamt befehligt.

Winkel ist in Bann geschlagen, er sieht bei mehreren Partien zu, die allesamt der Automat gewinnt, und während zunächst die Zuschauer, bald aber die halbe Stadt darüber rätseln, wie dieses Wunderwerk bloß funktioniert, nicht nur mechanisch und motorisch, sondern vor allem, wie eine Maschine imstande sein kann, besser Schach zu spielen als jeder Mensch, da weiß Winkel, er hat die Tiefe seiner Jahre durchlitten und seine Einsamkeit bezwungen, denn im milden Lichte dieses Nachmittags, da hat er endlich einen Bruder gefunden.

Wie gut kennt er dieses Gefühl der in mechanistischen Bewegungsabläufen eingeschlossenen Seele, die Momente, die sich zu sauber geordneten Stunden aufbauen, zu Tagen verbinden und sich wie ein Räderwerk mit den Handlungsabläufen der anderen verzahnen. Genau das ist Winkel bisher nicht gelungen, jedenfalls nicht reibungslos, weil – das sieht er deutlich – keiner außer ihm selbst sich an die Ordnung hält: Schon eine leichte Verlangsamung im Gefüge reicht aus, um ein gewaltiges Knirschen zu produzieren, ein Stocken in der komplizierten Maschinerie des Alltags. Und das treibt Winkel immer weiter hinaus auf die endlosen Ebenen der Einsamkeit: Nur er selbst kann seinen Ansprüchen genügen.

Und jetzt der Automat, als Türke kostümiert zum Gaudium fürs Volk. Winkel blickt tiefer und erkennt als einziger die wahre Schönheit des Automaten, die Perfektion des Melancholischen, den geordneten Ausdruck reinen Willens. Jetzt endlich ist Winkel nicht mehr allein.

Das muss er dem Präsentator des Automaten, diesem Mälzel, sagen, der soll wissen, dass er, Winkel, verwandt ist mit dem Automaten, den alle Welt bloß den Schachtürken nennt. Und zum Beleg dafür präsentiert er sein Werk, seine große, noch von niemandem erfasste Erfindung: den Chronometer der Momente, der nicht nur mit absoluter Ebenmäßigkeit das Leben in gleich große Stücke zerteilt, nein, darüber hinaus, und das ist das Geniale seiner Konstruktion, kann man durch simples Verschieben des Gewichts seinen ganz persönlichen Seelentakt zum Ausdruck bringen. „Winkels Chronometer der Momente.“

Johann Nepomuk Mälzel, eigentlich Deutscher, doch die Jahre in Wien haben seine teutonische Aufrichtigkeit etwas verfärbt, was, je nach Beleuchtung, als schillernd-charmant oder trüb-verschlagen erscheinen kann. Kaiserlich-königlicher Hofmaschinist und Reisender in Sachen neuerster Errungenschaften. Nebst dem Schachtürken tourt er mit einem automatischen Trompeter, der Mälzels Klavierspiel mit viel Gefühl accompagniert, und einem Violine spielenden Automaten, der, von zwergenhafter Gestalt zwar, das Instrument doch wie ein Großer beherrscht.

Zirkus und Wissenschaft führt Mälzel wie zwei Zügel in einer Hand. An Eintrittsgeldern zu diesen festlichen Präsentationen seiner Automaten nimmt er in zwei oder drei Wochen mehr ein, als sein Salär als k. k. Hof-Beamter eines ganzen Jahres beträgt, aber der Titel ist wichtig, er hilft, den Geist zu vernebeln: Die Illusion kann nur gelingen, wenn sein Publikum keinen klaren Gedanken mehr fassen will. An sich sollte jeder Idiot erkennen können, wie der Automat funktioniert. Weil es so naheliegend ist, kommt aber niemand drauf. Man gibt sich lieber der eigenen Täuschung hin und lässt sich forttragen von den magnetisierenden Blicken Mälzels, von der Fremdheit des Türken, der sogar mit dem Auge blinzelt und den Kopf schüttelt, wenn sein Gegenüber durch einen törichten Zug seine eigene Niederlage besiegelt.

Mälzel folgt der Einladung in Winkels Haus. Wo einen früher vielleicht ein protestantisch-nüchterner Salon empfing, herrscht jetzt völlige Leere, der Raum ist ausgeräumt bis auf einen schmucklosen Tisch in der Mitte. Und darauf steht ein Uhrkasten, allerdings auf dem Kopf, sodass dessen Pendel steil nach oben zeigt. Winkel zieht die Uhr auf, setzt das Pendel in Schwung, und still lauschen beide dem Takt des Chronometers der Momente: Tick. Tack.

Winkel ist froh. Und lächelt. Mälzel blickt auf den Apparat, schaut durch ihn hindurch, sieht einen Nimbus, ein glorioses Leuchten, das Prosperität und, wer weiß, am Ende sogar Unsterblichkeit verspricht. Er wird das Prinzip patentieren lassen, den Uhrkasten durch ein schlichtes, an einen Obelisken erinnerndes Gehäuse ersetzen, das Zifferblatt entfernen, sodass nur der Pendelstab mit verschiebbarem Gewicht und ein kleiner Schlüssel zum Spannen der Feder übrigbleiben. 100 Stück wird er davon auf eigene Kosten anfertigen lassen und an die ersten Kapellmeister und eminentesten Kompositeure verschicken: Sie sollen „Mälzels Metronom“ in aller Welt bekannt machen. Und jeder Sohn, jede Tochter aus besserem Hause soll hinkünftig die Qualen der Klavierstunden unter dem gleichgültig unerschütterlich gleichmäßigen Tick-Tack seines Automaten durchleiden. Jetzt lächelt Mälzel auch.

Ich will nicht lauschen, gar nichts von dem hören, was sie reden. Ich will das nicht, ihr Gemurmel. Der böse Mälzel. Und der arme Winkel. Tick macht die Pendeluhr, tack antwortet der Chronometer der Momente.

Ich will nicht aufwachen, doch die Stimmen aus der Küche zerren und ziehen. Und nicht nur zwei, mehrere sind es, im Rhythmus gemeinsamer Litanei, ein mehrstimmig eiernder Leierkasten.

„Für uns Blut geschwitzt hat und für uns gegeißelt worden ist.“

Wer ist gebenedeit, was soll das heißen. Frucht deines Leibes. Für uns Sünder. Knecht Israel und Abraham mit seinen Nachkommen.

Ich will das nicht, will weg. „Lass uns wieder gut sein, bitte, kein Blut mehr in den Augen.“

„Dich, oh Jungfrau, im Himmel gekrönt.“

Die dicken Federbetten liegen aufgeschlagen wie verratene Versprechen, es ist dunkel draußen. Die Stimmen sind noch da. Besuch, mitten in der Nacht?

Von der Schlafkammer schaut ein kleines Fenster zur Küche hinüber, allerdings ist es so hoch oben in der Wand eingelassen, dass es mir nur mit Hilfe eines herangeschobenen Stuhles und eines kleinen Balanceaktes auf dessen Arm- und Rückenlehne gelingt, durchzuspähen. Doch nichts ist zu sehen, der kleine Vorhang vor dem Fenster zugezogen. Helles Licht schimmert dahinter, Schluss mit Nacht, hell ist der Tag und was ist geträumt?

„Wie im Anfang so auch jetzt. Und allezeit und Ewigkeit. Amen.“

Bewegung kommt in die Küche, Stühlerücken, Räuspern.

„Ja. Nein. Wird nicht. Und wenn, im besten Fall. Das ist.“

„Wenn überhaupt. Ist doch nix, so.“

„Eine Erlösung. Wer weiß. Wär’s.“

Vorsichtig und leise das Fensterl aufgemacht. Und den Vorhang, einen Spalt nur. Geheimer Beobachter bin ich.

„Wir bleiben da, bei ihm, ihr fahrt, zu ihr, jetzt. Wir passen hier auf.“

„Der Bub braucht’s nicht wissen. Wir fahren jetzt hin. Den Kleinen ihr zeigen. Soll sehen. Zum Trost. Aber der Bub soll sie so nicht sehen. Ist ja kaum mehr Gesicht, nur Verband und dazwischen Bluterguss.“

„Das soll er nicht sehen, erst wenn wieder alles gut, dann ja, schon.

„Alles wird wieder gut.“

„Ja, eh. Immer. Schon.“

Mein Bruder, mein weinender, schreiender, quengelnder Bruder: Da ist er wieder. Die...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1970er Jahre • 2024 • Coming of Age • eBooks • Familiengeschichte • Neuerscheinung • Österreich • Österreichische Provinz • Roman • Romane • Schwarzer Humor
ISBN-10 3-641-32274-X / 364132274X
ISBN-13 978-3-641-32274-8 / 9783641322748
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