Nach dem Tod ihres Zwillingsbruders reist eine einsame junge Frau von Rom nach Shanghai. Dort träumte ihr Bruder, ein talentierter Koch, davon, ein Restaurant zu eröffnen. Sie beginnt als Italienischlehrerin zu arbeiten und lernt eine mysteriöse junge Frau namens Xu kennen, die ebenfalls vor einer turbulenten Vergangenheit davonläuft. In der Düsternis verlassener Textilfabriken und verfallener Schlachthöfe entdecken die beiden eine extreme und erfüllende Dimension des erotischen Rituals.
»Blauer Hunger« nimmt die Leser*innen mit auf eine fesselnde Reise in die Tiefen der Psyche und in eine Stadt voller bildgewaltiger Träume und Geschichten.
Viola Di Grado wurde 1987 in Catania geboren. Sie lebte in Kyoto, Leeds und London, wo sie Sinologie und Östliche Philosophie studierte. Ihr erster Roman »Siebzig Acryl, dreißig Wolle« (Luchterhand) erschien in 15 Ländern und wurde 2011 mit dem renommierten Campiello First Novel Award und dem Rapallo Opera Prima Award ausgezeichnet. Ihre Kurzgeschichten und Essays wurden in zahlreichen Zeitschriften und Magazinen veröffentlicht.
1 MUND
Wenn Xu mich beißt, wenn sie auf mir ist, nackt und böse, und mich zwischen den Zähnen hat, geht es mir gut. Es ist nichts Menschliches, aber es ist trotzdem geschehen, so wie Taifune oder Erdbeben geschehen. Es begann an einem Novembernachmittag, am Fenster ihrer Wohnung in Wujiaochang, das bläuliche Flutlicht der Einkaufszentren voll im Gesicht, und setzte sich an weniger persönlichen Orten fort. In ehemaligen Textilfabriken und Schlachthöfen aus den 1930er Jahren, Orten strotzend vor Logik und Verlassenheit, eiskalte stählerne Architektur, über Reihen ausrangierter Bleche driftendes Herbstlicht. Ich war erst seit gut einem Monat in Schanghai, doch ich kannte die Stadt bereits in- und auswendig. Die Nanjing Road, die sich wie eine Wirbelsäule durch sie hindurchzieht, die staubigen Vororte entlang des Huangpu-Flusses, die riesigen Parks mit ihren flatternden Fahnen und den Päonien so groß und rot wie die Köpfe von Neugeborenen. Die glitzernden Wolkenkratzer am Bund und den trockenen Wind, der nach Westen bläst und alles durchdringt, alles erzittern lässt, das Glas, den Stahl, die prächtigen Hecken, die zerfallenden Industriekomplexe, die Platanenreihen in den westlichen Vierteln. Ich war erst seit einem Monat da, und schon kam es mir wie ein Zuhause vor, so wie einem alles wie ein Zuhause vorkommt, das einen zugleich erstickt und beschützt.
Ich habe Xu noch nie gefragt, ob sie es auch schon mit anderen gemacht hat. Ich habe sie noch nie gefragt, ob ich die Erste bin. Aber wenn ich abends mit ihr und ihren wasserstoffblonden mageren Freundinnen ins Poxx gehe, ertappe ich mich dabei, wie ich nervös auf deren Handgelenke, die Haut, die zierlichen Fesseln schaue, voller Angst, Zeichen gleich den meinen zu entdecken. Manchmal schimmert kurz ein rosafarbener Kratzer auf einem Finger oder am Rand eines Lächelns auf. Aber das reicht nicht als Beweis, es heißt nichts: Unter dem Stroboskoplicht ist die Haut nicht gut zu sehen.
Es endet jedes Mal damit, dass ich zu viel Import-Sake trinke und allein nach Hause torkle. Nachts wirken die Straßen der französischen Konzession derart elegant, dass sie meine Unsicherheit noch verstärken. Boutiquen, Bistros, Brasserien, indirekt beleuchtete Schaufenster voller dickbäuchiger Croissants, aufgebläht von Hefe und Vanillepudding oder phosphorgrüner Matcha-Creme. Früher einmal war hier nur ein riesiger Sumpf. In den 1940er Jahren verwandelten ihn die Franzosen in ein schwüles Puppenhaus voller Huren. Wohlfeile zierliche Körper, gebadet in teurem Eau de Toilette. Der Bordeaux in den Kristallkelchen meilenweit entfernt von den angeschlagenen Keramikschalen der Arbeiterviertel, die aseptischen Parfümerien weit weg von den nach Pisse stinkenden Gassen und den steinernen Gossen, über denen sich Kinder händchenhaltend erleichterten. Heute ist sie das schicke Gerippe einer verlorenen Zeit. Die Geschäftsleute aus dem Westen genießen an Tischchen im Freien Avocadosalat und Prosecco, unter den beleuchteten Platanen, und fühlen sich besonders, weil sie in China leben, fühlen sich sicher, weil sie niemals den Fuß über die französische Schwelle hinaussetzen, weil sie niemals wirklich in China sein werden.
Wenn ich nicht aufpasse, biege ich falsch ab, denn viele Straßen in Schanghai haben denselben Namen und unterscheiden sich nur durch den Zusatz Nord oder Süd, Ost oder West. Ich muss nach Osten. Osten ist ein kleines Ideogramm, das einer geschlossenen Schachtel mit schief wachsenden winzigen Wurzeln im Inneren ähnelt. Sollte ich mich verlaufen, werde ich trotzdem früher oder später auf die Läden im Viertel Jing’an stoßen, meinem Viertel, die getrocknetes Rindfleisch und gedämpfte Brötchen verkaufen. Einwegrasierer, Einweggesichtscremes. Hellgelbe Suppen zum Aufwärmen. Feuchtigkeitsmasken mit einem lila Gesicht als Kappe, die Augen geschlossen, die Lippen kreisrund, wie um männliche Genitalien zu verschlingen. An der Ladendecke leuchten die ledernen Schweinsköpfe.
Sie heißt Xu, aber ich spreche ihren Namen falsch aus. Die Zunge müsste unbeweglich im hinteren Gaumen liegen bleiben, dort wo der Rachen beginnt, dann ein poetisches und fernes Pfeifen produzieren, wie gewisse Nachtvögel. Ich jedoch sprach ihn wie das X der Xanthippe oder der bunten Xylophone für Kinder aus. Ein prosaisches X, stimmlos. Es war der kakofonische Beginn unserer Liebe. Dann wurde ich besser und begann Schhhh zu sagen, als wollte ich jemanden zum Schweigen bringen. Auch das war falsch. Ich bekam den wahren Klang des Mädchens, das mir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, einfach nicht zu fassen. Also gewöhnte ich mir an, sie nicht beim Namen zu nennen. Mein Mund öffnete sich, zitterte leicht, gab auf: Von außen betrachtet, gleicht das Nicht-Beim-Namen-Nennen der Person, die man liebt, dem Hunger nach Luft am Grund des Meeres.
Der Kassierer schlürft Nudeln und hört nicht, dass ich ihn grüße. »Ni hao«, wiederhole ich, »ni hao.« Es bedeutet Dir geht es gut, so begrüßt man sich hier: mit einer banalen Lüge über den, der vor dir steht. Auf dem Stuhl liegt eine angeleinte weiße Katze. Reglos, mythologisch. Wenn ich mich verlaufe, lande ich jedes Mal im selben convenience store, wie eine Kugel, die im Flipperautomaten nach unten fällt. Ich frage den Kassierer nach dem Weg zum Tempel des Friedens und der Ruhe, denn dort gegenüber befindet sich mein Hotel, das Zimmer weit oben, im einunddreißigsten Stock, wohin der Lärm der Erde nicht vordringt.
Der Kassierer ist immer der gleiche. Auch wenn ich ein anderes Geschäft betrete. Bartloses, strenges Gesicht, schmale Augen. Er öffnet eine Karte auf seinem Handy, vergrößert und verkleinert, zeigt mir Dinge, die ich nur mit Müh und Not verstehe. Komplizierte blaue Zeichen auf weißem Grund. Eine Route. Ich finde, er sieht gut aus, aber vielleicht ist das nur so, weil ich mich schon so lange einsam fühle. Wenn er mich fragt, wie ich heiße oder was ich in China mache, zeige ich ihm auf dem Handy das Ideogramm für Haus, um auszudrücken Ich gehe nach Hause, ich will nur nach Hause. Das Wort Haus kann zu einem reinen Flehen werden. Er lächelt. Ich danke ihm und kaufe White-Rabbit-Bonbons. Sie sind von einer essbaren Folie umhüllt, die man nicht ablösen kann, die Zunge muss sie zerteilen, um an die Milch zu gelangen. Auch die Milch schmeckt nach nichts. Auf der Papierverpackung ist ein Kaninchen aufgedruckt. Es erinnert mich an ein Plüschtier, das ich mir als Fünfjährige zu Weihachten wünschte und nicht bekam. Stattdessen bekam es mein Bruder. Mein Bruder, der lauter schrie, lauter forderte, der mit seinem Geheul ganze Einkaufszentren erbeben ließ. Ich komme im Hotel an. Das ist der Ort, den ich Haus nenne. Das Ideogramm für Haus zeigt ein Schwein, das unter einem Dach liegt: Die chinesischen Bauern herzten ihre Schweine wie man ein Neugeborenes herzt, mit einer zutiefst bestürzten Zuneigung.
Auf dem Bett checke ich mein Handy und entdecke Xus Nachrichten. Sie sind auf Chinesisch. Es ist ihre Art, mich zu dominieren. Indem sie sich unergründlich macht, mich zwingt, sie mühsam zu enträtseln. Ich öffne die Wörterbuch-App, dann überlege ich es mir anders und schließe sie wieder. Sadistin, Narzisstin, stoße ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Diese heimlichen Beschimpfungen sind die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich noch Italienisch spreche.
Xu mag nur wenige Dinge auf der Welt. Sie mag die Stille, Lippenstifte, die Lichtflecke auf der Wand gegenüber den halbgeschlossenen Jalousien. Sie mag Schweinemagen in hongshao-Soße und sie mag es, mich zu verletzen. Das Schwein in hongshao-Soße ist ganz einfach zuzubereiten: Man kocht es langsam in Wein, Sojasoße und Unmengen von Zucker. Wenn er fertig ist, leuchtet der Schweinemagen rot wie ein Rubin.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich war, bevor ich ihr begegnet bin. Ich erinnere mich an bestimmte Dinge von mir, die jeder wissen könnte. Zum Beispiel, dass ich seit meiner Geburt in Rom gelebt habe und unzählige Fernsehserien geschaut habe, zu Hause auf dem Sofa. Ich erinnere mich, dass ich Eltern hatte, die ich liebte, ich habe sie heute noch, und dass ich bis vor sechs Monaten auch einen Bruder hatte. Ich erinnere mich an die Sukkulente mit den braunen Rändern – einen chinesischen Geldbaum – auf der Fensterbank meines Zimmers und den ohrenbetäubenden Lärm der Altglassammlung auf dem Corso Vittorio Emanuele. Ich erinnere mich, dass ich mich mit gedämpfter Stimme mit meiner Mutter stritt und von der ersten Sekunde an erschöpft war und dass meine Gefühle mitten im Streit plötzlich zu etwas Mechanischem wurden: zu etwas, mit dem ich mich kaum mehr identifizieren konnte. Ich erinnere mich, dass der Ort, an dem wir uns heftiger stritten, das Zimmer meines Bruders war. Ich erinnere mich, dass ich lange Haare hatte und viel schlief und dass ich mir vor dem Einschlafen sagte, dass ich die Pflanze am nächsten Morgen gießen würde, ganz sicher, was ich dann aber nie tat.
Mein Hotelzimmer mag ich sehr. Es ist grau und kahl und das Parkett ist unecht. Es gibt weder Vorhänge noch Jalousien, und man sieht Schanghai von oben, was schöner ist als alles, was ich je gesehen habe. Der Ventilator der Klimaanlage draußen vor dem Fenster macht ein despotisches schleifendes Geräusch, das niemals endet. Wie ein Alarm dringt es bis in meine Träume vor. Es verdrängt die Musik, wenn ich von meinem Bruder träume, der Klavier spielt und lacht.
Ich weiß, dass jedes Zimmer der sechsunddreißig Stockwerke des Hotels denselben Ventilator hat, und das beruhigt mich: die Vorstellung, etwas mit den anderen gemeinsam zu haben, abgesehen von den grundsätzlichen...
Erscheint lt. Verlag | 16.10.2024 |
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Übersetzer | Stefanie Römer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Fame Blu |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Blau ist eine warme Farbe • China • eBooks • italien ehrengast frankfurter buchmesse 2024 • Liebesgeschichte • Neuerscheinung • Queere Literatur • Roman • Romane • Shanghai |
ISBN-10 | 3-641-28843-6 / 3641288436 |
ISBN-13 | 978-3-641-28843-3 / 9783641288433 |
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