Akikos stilles Glück (eBook)
384 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-22767-8 (ISBN)
Die neunundzwanzigjährige Akiko lebt als Single und in selbstgewählter Einsamkeit in Tokio. Eines Abends begegnet sie zufällig Kento wieder, ihrer ersten Liebe aus Schulzeiten. Kento führt ein zurückgezogenes Leben als ein Hikikomori, der sich nur nachts auf die Straße traut. Gleichzeitig entdeckt Akiko im Nachlass ihrer Mutter eine Lebenslüge, die all ihre Gewissheiten infrage stellt. Sie muss sich eingestehen, dass sie nicht weiß, wer sie ist. Mit Kentos Hilfe begibt sich Akiko auf eine Reise zu ihrer eigenen Geschichte, die ihr Leben in unverhoffte Bahnen lenkt und sie zu den Fragen führt, die sie sich bisher nicht zu stellen wagte: Wie will ich leben? Und habe ich den Mut, jemanden zu lieben?
Jan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asienkorrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung Risse in der Großen Mauer. Nach dem Roman-Bestseller Das Herzenhören (2002) folgten Das Flüstern der Schatten (2007), Drachenspiele (2009), Herzenstimmen (2012), Am anderen Ende der Nacht (2016), Das Geheimnis des alten Mönches (2017), Das Gedächtnis des Herzens (2019), Die Rebellin und der Dieb (2021) und Akikos stilles Glück (2024). Seine Romane sind in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 4 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.
1
Ich erkannte die Komposition nach den ersten Tönen. Chopin. Eine Nocturne. Die achte. Am Klavier saß eine unscheinbare Frau im Alter meiner Mutter. Links und rechts von ihr standen zwei prall gefüllte Einkaufstüten. Sie spielte mit geschlossenen Augen und so gut, dass schnell die ersten Passanten stehen blieben. Das Stück war eigentlich viel zu ruhig für ein öffentliches Klavier in einer lauten Einkaufspassage, gleichwohl schlug sie immer mehr Zuhörer in ihren Bann. Schon bald war kein Schritt mehr zu hören, kein Husten, kein Flüstern.
Die Frau nahm sich Zeit.
Ihr Oberkörper wiegte sich langsam im Rhythmus der Musik, ich konnte nicht glauben, wie viel diese Fremde in der Öffentlichkeit von sich preisgab, welche Töne sie dem Instrument entlockte.
Jeder einzelne versetzte mir einen Stich ins Herz.
Da, wo es am meisten wehtut. Wo sonst niemand hinkommt.
Ausgerechnet die Lieblingskomposition meiner Mutter.
Seit dem Tag ihrer Einäscherung hatte ich sie nicht mehr gehört.
Ich schluckte und biss mir auf die Lippen.
Nach dem letzten Ton ließ die Frau ihre Arme sinken und verharrte einen Moment regungslos. Um uns herum herrschte Stille. Niemand bewegte sich.
Sie öffnete die Augen, bemerkte ihr Publikum. Ein kurzes Lächeln flog über ihr Gesicht, unsicher und verlegen. Zögernd stand sie auf, griff nach ihren Einkaufstaschen und verschwand in der Menge, als wäre nichts gewesen.
Es dauerte, bis die Menschen ihrer Wege gingen. Ich blieb allein zurück.
Mein Herz pochte, als wäre ich gerannt.
»Bitte entschuldige die Verspätung.« Vor mir stand Naoko, sie war außer Atem. »Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?«
»Doch, warum fragst du?«
»Du zitterst!«
»Alles gut. Wahrscheinlich habe ich nur Hunger.« Was sollte ich sagen? Naoko interessierte sich nicht für Musik.
Sie hakte sich bei mir unter, und wir gingen in ein Izakaya, in dem wir schon häufiger gegessen hatten. Das Essen war gut und günstig, der Sake ebenfalls. Wir bestellten Edamame, Sashimi, gegrillten, in Miso marinierten Fisch, Tamagoyaki, ein paar Yakitori-Spieße und zwei große Gläser Bier.
Noch immer ging mir Chopins Melodie nicht aus dem Kopf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Naoko noch einmal.
Ich nickte.
Nachdem der Kellner gegangen war, zog sie ein pinkfarbenes Fotoalbum aus ihrer Tasche und legte es vor mir auf den Tisch. Auf dem Cover klebte das Foto einer strahlend schönen Frau in einem weißen Brautkleid. In der Hand hielt sie einen Brautstrauß. Das Bild war von der Seite aufgenommen, die Frau hatte den Kopf leicht gedreht und lachte in die Kamera. Durch die tief stehende Sonne oder einen Scheinwerfer erstrahlte sie in einem warmen, weichen Licht. Mein Blick wanderte von dem Album zu Naoko und wieder zurück.
»Bist du das?«, entfuhr es mir.
»Wer sonst?«
Zu erstaunt, um etwas zu antworten, starrte ich auf das Bild. So schön hatte ich Naoko noch nie gesehen, wenn ich ehrlich war, überraschte es mich, dass sie überhaupt so schön aussehen konnte. Nicht, dass sie eine hässliche, unscheinbare Frau gewesen wäre, überhaupt nicht. Naoko war einen halben Kopf kleiner als ich, etwas stämmig, mit großen Brüsten und kräftigen Oberarmen und Beinen, ohne dabei plump oder dick zu wirken. Sie hatte ein rundes, etwas flaches Gesicht, volle Lippen, schmale Augen, und trug, seit ich sie kannte, einen Pagenschnitt, der ihr ausgezeichnet stand. Sie stammte aus Osaka und war die einzige Frau in der Firma, die sich traute, bunte Farben zu tragen. Gelbe Strickjacken. Geblümte Blusen. Rosa, grüne oder pinkfarbene Schals. In ihrem roten Mantel war sie auf der Straße oder im Bahnhof in dem Meer von schwarz, grau und dunkelblau gekleideten Passanten immer schon von Weitem zu erkennen.
Auf Männer hatte sie eine besondere Wirkung. Ich vermute, bei uns in der Abteilung gab es kaum einen Mann, der nicht gerne mal mit ihr in ein Love Hotel gegangen wäre.
Beeindruckt schlug ich die erste Seite des Albums auf. Auf dem nächsten Bild sah sie noch schöner aus. Es war von vorn aufgenommen, im Ausschnitt ihres eng geschnittenen Kleids zeichneten sich die Umrisse ihres Dekolletés ab, im Hintergrund erkannte ich verschwommen die Silhouette eines Tempels. Sie strahlte, und das war kein Lächeln, das ich von ihr kannte.
Vorsichtig blätterte ich Seite um Seite um. Die Fotos zeigten eine glückliche Naoko beim Anprobieren verschiedener Hochzeitskleider. Naoko beim Friseur. Naoko beim Make-up. Naoko in einem Blumengeschäft. Immer umringt von lachenden, ihr zugewandten Frauen, die ihr die Haare machen, Augenbrauen nachziehen, einen Schleier halten oder eine Wagentür öffnen. Naoko in einer Limousine, fröhlich aus dem offenen Fenster winkend. Naoko in einem Garten auf einer roten Brücke, davor ein Schwan.
Was fehlte, war ein Bild von ihr und dem Bräutigam, was kein Wunder war. Naoko hatte sich selbst geheiratet.
Als sie mir vor einem Jahr von ihrer Idee erzählt hatte, dachte ich, sie mache einen Scherz. Sie werde bald dreißig Jahre alt und wolle vorher noch heiraten. Schon als kleines Mädchen habe sie von einer Hochzeit in Weiß geträumt, von sich als Braut mit einem Schleier, einer Krone im Haar und in einem Kleid, wie eine Frau es nur einmal in ihrem Leben trägt.
Aber nie von einem Bräutigam.
Daran, erklärte sie, habe sich bis heute nichts geändert. Sie wolle ihr Leben nicht mit einem Mann verbringen, und auch nicht mit einer Frau. Sie wolle nicht jeden Abend neben demselben Menschen einschlafen und am Morgen neben ihm aufwachen. Sie wolle ihr Frühstück mit niemandem teilen. Sie wolle ins Bett gehen, wenn ihr danach sei und nicht, wenn es von ihr erwartet werde. Sie wolle auf niemanden warten müssen, und, noch wichtiger, sie wolle sich nicht schlecht fühlen, weil sie jemand anderen warten ließ. Sie hasse den Geruch eines anderen Menschen in ihrem Bett oder in ihrem Badezimmer, weshalb sie eine regelmäßige Besucherin von Love Hotels sei.
Weil sie aber nicht auf eine Hochzeit verzichten wollte, hatte sie beschlossen, sich selbst zu heiraten.
In den folgenden Monaten erzählte Naoko mir jedes Mal, wenn wir uns trafen, von ihren Hochzeitsvorbereitungen. Sie beschrieb ausführlich, welche Art von Kleid sie in Betracht zog und wie viel Spaß ihr die Anproben machten. Sie wollte von mir wissen, ob sie einen Schleier tragen solle und wo ich an ihrer Stelle die Hochzeitsnacht verbringen würde.
Ich hatte mir alles angehört und trotzdem nicht geglaubt, dass sie es wirklich machen würde. Nun klappte ich das Album zu und war sprachlos. »Wow«, war alles, was ich herausbrachte.
Der Kellner stellte unser Bier auf den Tisch. Wir stießen auf das Brautpaar an.
»Hättest du gedacht, dass ich so schön aussehen könnte?«
»Nein … ich meine, ja«, stammelte ich etwas verlegen.
»Ich nicht. Wirklich nicht. Am Anfang dachte ich, es geht nur um ein paar gerahmte Fotos und ein Album zur Erinnerung, aber da habe ich mich getäuscht. Ich schaue mir die Bilder an und sehe, wie schön ich sein kann. Ich, ganz allein, ohne Mann.«
Sie hob ihr Glas. »Kampai.«
»Kampai«, erwiderte ich.
Eine Kellnerin brachte einen Teller mit rohem Thunfisch. Wir bestellten gleich noch zwei Gläser Sake.
»Selbst meiner Mutter hat das Album gefallen.«
»Du hast es deiner Mutter gezeigt?«
»Und meiner Schwiegermutter …«
»Was hat sie gesagt?«
»Ich hätte eine gute Wahl getroffen.«
Wir kicherten und lachten, bis uns der Küchenchef hinter dem Tresen einen neugierigen Blick zuwarf. Naoko bat um Entschuldigung, was wir im Laufe des Abends noch mehrmals taten, so laut waren wir. Wir überlegten, wohin die Hochzeitsreise gehen könnte, was es für ein Segen war, dass Naoko ihre Schwiegermutter schon so gut kannte und mochte und dass es zwischen Eltern und Schwiegereltern in dieser Ehe vermutlich keinen Streit geben würde, wobei Naoko einwandte, dass man bei ihren Eltern nie sicher sein konnte. Ich fand, es wäre von großem Vorteil, dass in Naokos Ehe kein Partner den anderen betrügen und belügen könnte, worauf sie mir jedoch widersprach. Es gebe genug Menschen, die sich selbst belügen und betrügen würden. Nach kurzem Nachdenken stimmte ich ihr zu. Sorgen bereitete uns eine eventuelle Scheidung: Wie trennt man sich von sich selbst?
Es war spät geworden. Wir verabschiedeten uns an der Shinjuku Station, sie fuhr Richtung Shibuya, ich ging weiter zur Odakyu-Linie.
Als ich durch die langen Gänge zu den Gleisen lief, kam mir die Pianistin wieder in den Sinn. Im Nachhinein bereute ich es, ihr nicht gefolgt zu sein, um mich zu bedanken. Es war lange her, dass mir jemand so viel von sich gegeben hatte. Ich sah sie vor mir, mit ihren strähnigen Haaren, ihrer etwas altmodischen Jacke und den gefüllten Einkaufstaschen. Sie hatte wie eine gewöhnliche Hausfrau ausgesehen.
Ich dachte an meine Mutter. Übermorgen war ihr dritter Todestag.
Ich glaube nicht an Zufälle, hatte sie immer gesagt. Alles, was passiert, geschieht aus einem Grund.
Zu Hause öffnete ich noch eine Dose Bier. »Fisch muss schwimmen«, war eine Redewendung meiner Mutter gewesen, wenn sie sich zum Essen ein weiteres Bier oder die Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank holte.
Mein Handy summte. Naoko schickte mir ihr Hochzeitsfoto mit einem dicken roten Herz und den Worten »trau dich« darunter. Sie hatte mir angemerkt, wie sehr mich die Bilder und ihre Erzählung...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Bestsellerautor • eBooks • Einsamkeit • Hikikomori • Japan • Junge Frau • Liebe • Neuerscheinung • Roman • Romane • Tokio |
ISBN-10 | 3-641-22767-4 / 3641227674 |
ISBN-13 | 978-3-641-22767-8 / 9783641227678 |
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