Das Wohlbefinden (eBook)

Roman

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
336 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12346-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Wohlbefinden -  Ulla Lenze
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»Ulla Lenze schreibt eine tolle, empfindungsintensive Prosa. Echt und wahr und ehrlich.«David Wagner Die Fabrikarbeiterin Anna wird als Medium verehrt, Johanna Schellmann ist Schriftstellerin. In den Heilstätten Beelitz entsteht eine Verbindung zwischen den ungleichen Frauen, von der beide profitieren - bis der Kampf um Anerkennung und Aufstieg sie zu Rivalinnen macht. Ulla Lenze hat in ihrer unvergleichlich kristallinen Prosa einen großen Roman über die Verführungskraft der Selbsterlösung geschrieben.   Versteckt in den Kiefernwäldern vor den Toren Berlins liegen die Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz. Als sich die Fabrikarbeiterin Anna Brenner und die Schriftstellerin Johanna Schellmann hier im Jahr 1907 begegnen, hat das für beide Frauen existenzielle Folgen. Anna gilt als hellsichtig, und obwohl die Avantgarde der Kaiserzeit begeistert mit dem Okkulten experimentiert, wird Annas wachsende Anhängerschaft für den Leiter der Heilstätten zum Problem. In Johanna legt die Begegnung eine tief verschüttete Spiritualität frei, und sie ahnt, dass Anna eine Schlüsselrolle in ihrem literarischen Schaffen spielen könnte. Nur: Anna lässt sich nicht vereinnahmen, von niemandem. Sechzig Jahre später versucht Johanna Schellmann Worte für ihre Verstrickungen in der Vergangenheit zu finden, doch erst Vanessa, ihre Urenkelin, bringt Licht ins Dunkel - mitten in einem luxussanierten Beelitz, durch das noch die Geister der Vergangenheit wehen. Vom Kaiserreich bis in die Gegenwart porträtiert Ulla Lenze drei Frauenleben, die Befreiung und Aufstieg erfahren und sich doch nicht vor dem drohenden Bedeutungsverlust retten können.  

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln. Für ihre Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2003, dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. 2016 erhielt Ulla Lenze für ihr Gesamtwerk den »Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft« und 2020 den Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld. Ihr Roman »Der Empfänger« (2020) wurde in elf Sprachen übersetzt. Im Frühjahr 2023 hatte sie die renommierte Max-Kade-Gastprofessur am Dartmouth College (USA) inne. Ulla Lenze lebt in Buckow in der Nähe von Berlin.

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln. Für ihre Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2003, dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. 2016 erhielt Ulla Lenze für ihr Gesamtwerk den »Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft« und 2020 den Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld. Ihr Roman »Der Empfänger« (2020) wurde in elf Sprachen übersetzt. Im Frühjahr 2023 hatte sie die renommierte Max-Kade-Gastprofessur am Dartmouth College (USA) inne. Ulla Lenze lebt in Buckow in der Nähe von Berlin.

2

West-Berlin 1967


Im Fernsehen war stundenlang das Pontifikalrequiem übertragen worden, nun fuhr man Adenauer in einem Schiff hoch nach Rhöndorf. Zweiundneunzig war er geworden, aber Hoffnung machte das nicht, in letzter Zeit geriet bei Johanna vieles durcheinander. Sie schaltete den Fernseher aus, griff nach Mantel, Hut und Regenschirm, um die Runde im Park zu drehen, die der Hausarzt ihr verordnet hatte.

Bei ihrer Rückkehr ragte unten aus dem Briefkasten ein dicker Umschlag. Als wäre er nichts Wichtiges, stopfte sie ihn unter den Arm. Den Supermarktprospekt legte sie obenauf, um die Beiläufigkeit der Situation zu unterstreichen. Aber auch vor sechzig Jahren bedeutete ein zurückgesandtes Manuskript immer nur eins: eine Absage.

Die Stufen kosteten Kraft. Sie schnappte nach Luft, und hatte plötzlich Sorge, im Treppenhaus zu sterben. Sie wollte nicht im Treppenhaus sterben, wenigstens in ihre Wohnung wollte sie es noch schaffen.

Das Nächste, was sie wahrnahm, war ein Standardschreiben. »Sollten Sie in absehbarer Zeit wieder eine Geschichte für uns haben, sind wir …«

Sie nahm im Sessel Platz und starrte auf das Manuskript. Zwei Jahre hatte sie geschrieben. Sie hatte es selbst kaum für möglich gehalten, aber ja, sie hatte jeden Tag mit der Schreibmaschine Buchstaben ins Papier gehauen, und die Einkaufsliste für Klaus bestand zeitweise nur aus Papier und Farbband. Man vergaß im Alter vieles, aber sie konnte erfreut feststellen, dass der alte Mechanismus noch wirkte, die Worte begannen zu ihr zu strömen, aus jenem tiefen Alleinsein, in dem sie mit allem verbunden war. Sie hatte das Manuskript in einen großen Umschlag gesteckt und ihn eigenhändig am Postschalter abgegeben.

Sie suchte nach einer Telefonnummer auf dem Anschreiben. Ihr Herz klopfte erneut unerträglich hart, als sie mit jeder Drehung der Wählscheibe dem gefürchteten Gespräch näherkam.

»Wolkenfeld Verlag, guten Tag«, hörte sie eine freundliche junge Stimme.

»Guten Tag, Sie sprechen mit Johanna Schellmann.«

Sie hielt inne und wartete ab, was ihr Name auslöste, und als der Sekundenbruchteil eines jubelnden Erkennens überschritten war, fügte sie hinzu: »Junge Dame, mein Name sagt Ihnen doch etwas?«

»Ich bin neu hier.«

»Sie sollten mich kennen, egal wie kurz oder lang Sie im Verlag arbeiten!«

Das Fräulein schwieg einen Moment und sagte dann reserviert: »Was kann ich für Sie tun?«

»Den Verleger bitte.«

»Herr Dobenrath ist gerade nicht zu sprechen.«

Diesen Namen hörte Johanna zum ersten Mal. Zuletzt hatte sie mit Franz Wolkenfeld zu tun gehabt. Lebte Franz nicht mehr?

»Sie haben mir einen Absagebrief zukommen lassen«, sagte Johanna vorwurfsvoll.

»Wir verschicken täglich Dutzende Absagen. Wir erhalten auch täglich Dutzende unverlangt eingesandte Manuskripte.«

Unverlangt eingesandt. War da plötzlich eine leicht hochmütige Note in der Stimme?

»Hören Sie mal gut zu, mein Fräulein. Sie würden heute nicht auf Ihrem Platz sitzen, hätte mein Roman Das Schmuckzimmer damals nicht den Verlag gerettet, er stand kurz vor der Schließung. Das war 1909. Jetzt haben wir 1967. Dass es den Verlag noch gibt, ist mir zu verdanken. Und jetzt holen Sie den Verleger ans Telefon.«

Sie nahm mit Genugtuung wahr, dass ihr Vorgehen Wirkung zeigte. Das Fräulein bat um ihre Nummer, der Verleger rufe zurück. Begann ihre Nummer mit sechs sieben oder sieben sechs? In letzter Zeit verdrehte sie die Zahlen und ihr Hirn reproduzierte jedes Mal einen Augenblick der Verwirrung statt den der Lösung.

»Ich kann meine Nummer gerade nicht finden.«

Sie spürte ihre Zunge übergroß und schwer werden, und da war nun auch dieses mitleidige Zögern am anderen Ende, das sie so oft in letzter Zeit im Kontakt mit anderen wahrnahm.

»Frau Schellmann, warten Sie bitte.«

Es wurde still. Auf dem Literaturkalender mit Gedichten von Theodor Storm stand der 25. April 1967. Den Kalender schickte Emmy jedes Jahr aus Kanada, auf diese Weise begleitete ihre Tochter sie Tag für Tag. Zweimal im Jahr telefonierten sie, hielten sich aber kurz wegen der hohen Kosten. Auch Emmy war inzwischen eine alte Frau mit Rheuma und Arthrose, und sie hatten sich dreißig Jahre nicht gesehen.

Sie hörte ein Knacken in der Leitung und meinte, noch die Ausläufer eines Gelächters zu hören.

»Frau Schellmann? Herr Dobenrath ruft Sie in etwa einer Stunde zurück. Wir haben Ihre Nummer.«

»Selbstverständlich haben Sie die.«

Ja, man wusste, wer sie war.

Radieschen, Leber, Kochkäse, sie machte mit Kugelschreiber Kreuze in den Prospekt, für Klaus. Manchmal ritzte sie das Papier versehentlich ein und dachte dann große Gedanken wie die Verletzlichkeit der Dinge. Früher hätte sie so etwas notiert. Sie glaubte nicht mehr, durch Worte etwas bewahren oder beschwören zu können. Das war alles an Erkenntnis, nachdem sie zuvor ein Leben lang mit dem Wort gegen dieses Wissen angekämpft hatte.

Das Schreiben ihrer Memoiren war von anderer Art gewesen. Ohnehin schien der Verlag jene Werke, die sich über Jahrzehnte blendend verkauft hatten, jetzt für seicht zu halten, gar für Frauenliteratur, dabei war sie damals als Pionierin einer neuen Epoche gefeiert worden, innovativ in ihrer Ehrlichkeit und Drastik, ja, Das Schmuckzimmer galt als Identifikationsbuch einer ganzen Generation. Und nun wurde sie nicht mehr nachgedruckt.

Eine Kritikerin namens Dr. Angelika Röttel hatte vor drei Jahren in der F.A.Z. schließlich mit ihr abgerechnet, völlig gefahrlos, denn wer würde die in Vergessenheit geratene Dichterin schon verteidigen? Der Beitrag »Dichterinnen der Kaiserzeit – Wegbereiterinnen und Verräterinnen der Frauenbewegung« warf Johanna Schellmann Erzählmuster vor, die dem wilhelminischen Denken verhaftet seien und das Klassendenken nie überwunden hätten. Schellmann habe damals mit ihrem Lamento zweifellos einen Nerv getroffen, aber nur in der eigenen großbürgerlichen Schicht, eine gesamtgesellschaftliche Vision sei sie schuldig geblieben. Die beiden grausamsten Sätze lauteten: 1. Johanna Schellmann war zwar eine erfolgreiche Frau, aber dadurch noch lange keine Feministin. 2. Das Herz auf der Zunge hatte Schellmann durchaus, aber das macht noch keine große Literatur.

Tagsüber war Johanna wütend, nachts machten sich diese beiden Sätze in ihrer hässlichen Gleichgebautheit über sie her und drehten Runden in ihrem Kopf, als müsste sie bloß endlich rufen: Frau Dr. Röttel, ja, Sie haben recht, es stimmt alles! Ich bin keine gute Schriftstellerin und zu Recht bin ich heute vergessen!

Aber etwas in ihr war überzeugt, dass sie gut war. Die Worte von Angelika Röttel waren ungerecht.

Eines Morgens begann sie, dieser Ungerechtigkeit etwas entgegenzusetzen. Eine eigene Erzählung über ihr Leben, und zwar von Anfang an.

Hochverehrte Herrschaften,

in meinem fünfundachtzigsten Lebensjahr habe ich mich entschlossen, meine Erinnerungen für die Nachwelt niederzuschreiben. Sie halten mein Leben in Händen, beginnend mit meiner Kindheit in Konstantinopel als Tochter eines Diplomaten, einer glanzvollen Jugend in Berlin, dem Ringen um den Sinn des Lebens als junge Ehefrau, hin- und hergerissen zwischen bürgerlichen Pflichten und dem Drang nach einer Freiheit, wie sie uns nur in der Zwischenwelt des Geistigen geschenkt wird. Sie lesen von meinem Durchbruch als Schriftstellerin im zarten Alter von nur siebenundzwanzig Jahren. Mögen Ihnen meine Erzählungen gefallen!

Hochachtungsvoll

Johanna Schellmann

Sie ließ das Anschreiben sinken. So schrieb man heute nicht mehr, das wusste sie. Nun war es sowieso zu spät. Sie griff nach den Manuskriptseiten und versuchte, an kleinen Abnutzungszeichen zu erkennen, ob überhaupt zu Ende gelesen worden war. Auf Seite zweiundfünfzig entdeckte sie am Rand einen Bleistiftstrich: »Ich habe Anna nie zu ihrer Arbeit in der Fabrik befragt.«

Eine Seite später ein nervöser Kringel, als wären die Bedenken bereits in die Hand gekrochen und schüttelten vor Entsetzen den Bleistift: »Anna konnte im stockdunklen Keller die richtige Flasche Wein finden.«

Aber wenn es doch so war? Um sich abzulenken, blätterte sie erneut im Supermarktprospekt. Sie war aufgewühlt und erschöpft zugleich, ein grässlicher Zustand. Wie gern hätte sie jetzt jemanden zum Reden gehabt, einen verständnisvollen Zuhörer. Sie schaltete den Fernseher wieder ein; das Schiff fuhr den toten Adenauer immer noch über den Rhein. Sie starrte auf den Bildschirm, Menschenmassen am Ufer, Traurigkeit und Feierlichkeit, trauriger grauer Himmel und trauriger Rhein.

Sie wachte von einem Geräusch auf, und als Nächstes stand Klaus in der Wohnzimmertür. Sie hatte es nicht klingeln gehört, aber er hatte ja neuerdings einen Schlüssel.

»Ah, gut, Sie leben, Frau Schellmann.«

»Ja, immer noch. Und klingeln Sie bitte das nächste Mal.«

»Was glauben Sie, was ich getan habe?«

Sie hörte ihn in die Küche gehen und dort den Kühlschrank einräumen. Sie meinte, jedes einzelne Teil am Klang erkennen zu können, das Hühnerbrustfilet, die Petersilie, Karotten und Schnittlauch.

»Klaus? Klaus? Klaus!«

Die Dielen knarrten, dann stand er vor ihr. Sie schämte sich ihres kindlichen Gequengels, denn Klaus war, nach wie vor, ein Mann. Ein gutaussehender, junger Mann mit glattrasiertem Kinn, schönen starken Augenbrauen, sensibel geschwungenen Lippen und mit dieser weißen Porzellanhaut, auf der sich Gemütsregungen immer als plötzlich aufblühende Rötungen verrieten. Solche Männer überspielten ihre Sensibilität in besonders ruppigem...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beelitz • Beelitzer Heilstätten • Berlin • Der Empfänger • Deutsche Literatur • Deutscher Buchpreis 2024 • Die Pfaueninsel • Feuilleton • Frauenroman • Fräulein Nette • Generationenroman • Geschenk für Frauen • Karen Duve • komplexe Frauen • Literatur • neue Bücher 2024 • neuerscheinung 2024 • NS-Zeit • Okkultismus • Schriftstellerin • Starke Frauen • Thomas Hettche • Weihnachtsgeschenk • Weihnachtsgeschenk Mama • Zauberberg
ISBN-10 3-608-12346-6 / 3608123466
ISBN-13 978-3-608-12346-3 / 9783608123463
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