Glück (eBook)
432 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3231-4 (ISBN)
Jackie Thomae, geboren 1972 in Halle, ist Journalistin und Fernsehautorin. 2015 erschien ihr Debütroman Momente der Klarheit. Mit ihrem zweiten Roman, Brüder, stand sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 und wurde mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
Jackie Thomae, geboren 1972 in Halle, ist Journalistin und Fernsehautorin. 2015 erschien ihr Debütroman Momente der Klarheit. Mit ihrem zweiten Roman, Brüder, stand sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 und wurde mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
Verlangen
Als Marie-Claire Sturm eines Morgens aus wilden Träumen erwachte, betrachtete sie ihr langes Bein, das unter der Bettdecke hervorragte, ihre großen Füße mit den ziegelrot lackierten Nägeln, ihre Brüste, die auseinanderfielen, denn sie lag nackt auf dem Rücken, ihre Unterarme, die sie im Gegensatz zu ihren Beinen nicht mit Wachs enthaarte, wobei sie sich seit Jahren fragte, ob sie es tun sollte, und ihre lange, schlanke Hand, die nach dem Telefon griff, und war zum ersten Mal in ihrem Leben als Frau glücklich mit ihrem Körper. Mehr als glücklich, sie fand ihn perfekt, so wie er war. Und sie war ihm dankbar, dass er sich schmerzfrei bewegte, dass in ihm alles floss, arbeitete, Signale sendete, Hormone und Botenstoffe ausschüttete, so wie es sein sollte, und dass er dieses Wunder jeden Tag ohne Hilfe von außen vollbrachte. Obwohl sie ihm Dinge zugemutet hatte, die keine Hilfe gewesen waren. Obwohl sie nicht jung war, zumindest nicht im medizinischen Sinn. Obwohl beides, Lebensstil und Alter, sowieso keine Garantie für irgendetwas waren. Sie hatte schlicht Glück gehabt mit diesem Körper, und sie hatte tausendmal gehört, wie dankbar man dafür zu sein hatte, was sie verstanden und pflichtschuldig versucht hatte, doch erst jetzt, an diesem Morgen, konnte sie diese Dankbarkeit zum ersten Mal empfinden.
Die Sonne schien ihr ins Gesicht, ließ die Wände und die Bettwäsche erstrahlen wie frischen Schnee und verstärkte den Kontrast zu ihren braunen Beinen, die angewinkelt aussahen, als würde sie an einem Strand liegen. Das einzige nicht perfekte Detail waren die Fensterscheiben, die dringend geputzt gehörten. Sie umfasste ihr Telefon, beobachtete bewusst die routinierten Bewegungen ihrer Finger und erfreute sich an ihnen. War das die totgefeierte Achtsamkeit? 11:27 stand auf dem Display, sie stellte das Telefon zurück in den Flugmodus, es war Samstag.
Sie sank auf den Rücken. Der Zustand hielt an. Ihr Herzschlag war spürbar, vielleicht leicht beschleunigt. Ihr Solarplexus schien zu pulsieren. Wie bei Angst. Es war ihr nie aufgefallen, dass die körperlichen Symptome für Angst und Euphorie dieselben waren. Vielleicht war das hier ja eine Panikattacke, missdeutet als Hochgefühl?
Sie schloss die Augen, tauchte in das Orange hinter ihren Lidern, hatte das Gefühl, sie würde schweben, und fragte sich, ob nicht doch etwas vorgefallen war, was sie gerade vergessen hatte. Es war einiges vorgefallen, ja. Aber nichts davon hatte das hier ausgelöst. Unbegründetes Glück. Vollständige Zufriedenheit. Tiefe Dankbarkeit. Es war fast beängstigend. So überwältigend, dass es sich anfühlte wie ein Erweckungserlebnis, was nicht zu Marie-Claire passte, schon gar nicht am Morgen.
Normalerweise wachte sie auf, als hätte man direkt neben ihrem Kopf einen Gong geschlagen. Ich habe kein Kind. Das war ihr erster Gedanke, klar, deutlich, wahr und jedes Mal so schockierend, dass sie Herzrasen bekam. Sie hatte von Trauernden gelesen, die sich vor dem Aufwachen fürchteten, weil es sich anfühlte, als würden sie jeden Morgen aufs Neue erfahren, dass der geliebte Mensch nicht mehr da war. So war es bei ihr auch. Was, während sie tagsüber ihr Leben lebte, mehr oder weniger laut ein Hintergrundrauschen bildete, wurde ihr morgens als Ohrfeige serviert. Dann stand sie auf. Und funktionierte.
Das Verlangen hatte spät eingesetzt. Marie-Claire, the late bloomer.
Sie hatten fünfundzwanzig Jahre Zeit, Mutter zu werden, sehen Sie’s mal so. Das ist ein Vierteljahrhundert.
Das hatte Dr. Nonnenmacher, ihre Frauenärztin, gestern Nachmittag zu ihr gesagt und dabei die Augen so begeistert aufgerissen, als hätte sie ihr eine Lösung präsentiert. Hatte sie nicht. Dafür hatte sie Marie-Claire einen neuen Satz geliefert, mit dem sie sich selbst terrorisieren konnte, neben diesen: Ich habe versagt. Ich habe mich verzockt. Ich habe es verpennt, verpeilt, verkackt. Das Einzige, wozu ich hier auf dieser Welt bin, habe ich nicht gebacken gekriegt. Ich habe meine Lebenszeit verplempert. Warum ist mir nicht früher aufgefallen, dass ich unter Zeitdruck stehe? Dass ich die einzige wichtige Deadline meines Lebens im Blick hätte haben müssen? Was habe ich die ganzen letzten Jahre über gemacht? Bin ich dümmer als andere? Werde ich jetzt dafür bestraft? Und, jetzt neu, mit herzlichem Dank an Frau Dr. Nonnenmacher: Ich hatte ein Vierteljahrhundert Zeit. Sogar noch mehr, denn ich habe meine Tage mit zwölf bekommen.
Dazu kamen die Metaphern. Sie war Mitte dreißig gewesen, als sie anfing, die Welt anders zu sehen. Als sie anfing, zu sich selbst in Metaphern zu sprechen und auch zu einigen auserwählten anderen, denen das nicht aufzufallen schien, was wohl hieß, dass ihre Metaphern nicht besonders originell waren. Oder dass die anderen ihr nicht wirklich zuhörten.
Ich sehe einen Zug davonfahren, sagte MC. Ich sehe die Rücklichter. Und ich hasse es, zu rennen. Ich sehe eine Tür, die sich langsam schließt, ich bleibe allein in einem dunklen Zimmer zurück. Ich sehe eine Sanduhr, durch die rieselt die Zeit, die mir noch bleibt. Ich sehe mich selbst bei der Reise nach Jerusalem. Heißt dieses Spiel noch so? Jedenfalls sehe ich mich herumtanzen und keinen freien Stuhl finden. Ich sehe mich selbst auf einem Wühltisch. Gehöre ich auf einen Wühltisch? Gibt’s mich jetzt im Ausverkauf? Und auch ich selbst wühle auf einem Wühltisch herum und suche nach Ladenhütern. Die Guten sind weg. Ich bin zu spät.
Wie viel Zeit bleibt mir denn noch?
Das hatte sie gestern ihre Frauenärztin gefragt, und es hatte sich angehört, als ginge es um ihre Lebenszeit. Und Dr. Nonnenmacher, deren Nachname nichts Gutes verhieß, wenn man ein Kind wollte, wie Marie-Claire erst jetzt auffiel, hatte den Blick von ihrem Bildschirm gelöst und sie angelächelt.
Einen exakten Zeitpunkt kann ich Ihnen leider nicht nennen, aber wie gesagt, Sie sind nicht zu alt. Ihre Werte sind okay. Und es gibt Möglichkeiten.
Diese Möglichkeiten zählte sie dann auf: IVF, ICSI, IUI und GIFT, was man mittlerweile kaum noch anwendete, Marie-Claire hatte sich das alles erlesen, die Petrischalen und Spritzen vor sich gesehen, Zuchtstuten vor sich gesehen, die mit unterarmgroßen Kanülen besamt wurden, denn daran erinnerten sie diese Methoden und Begriffe wie intrauterine Insemination. Sie hatte Paare vor sich gesehen: traurige Paare, bestehend aus Mann und Frau, bei denen einer nicht performte; entschlossene Paare, die aus zwei Männern oder zwei Frauen bestanden, die vielleicht beide performten, aber nicht an einer Zeugung durch Heterosex interessiert waren. Marie-Claire hatte zwei dieser Paare in ihrem Freundeskreis, sie hatten sich nach sorgfältiger Abwägung und Planung zu diesem Schritt entschlossen, und sie beneidete sie um ihren Pragmatismus – darum, dass sie nicht an das Märchen vom richtigen Partner zum Kinderzeugen und Kindergroßziehen glaubten, der dann auch noch zum richtigen Zeitpunkt im Leben aufzutauchen und anschließend zu bleiben hatte.
Es war schön, dass all diesen Leuten jetzt geholfen werden konnte, aber: thanks, but no, thanks.
Es ist nun aber so, sagte Marie-Claire, dass ich weder unfruchtbar bin noch ein Kind ohne Partner will.
Gut. Wenn Sie auf den richtigen Partner warten möchten, dann ist das ebenfalls in Ordnung, sagte die Ärztin und schaute wieder auf ihren Bildschirm, als stünde dort etwas Wichtiges, vielleicht noch eine Methode, vielleicht eine lustige Privatsache. Schlechter Stil, dachte Marie-Claire.
Die gute Nachricht bei diesem Arztbesuch, der angestanden hatte, um sie nach Jahren der Ignoranz auf den aktuellen Stand ihrer Reproduktionsfähigkeit zu bringen, war die Gewissheit, dass sie intakt war. Die Worte warten und richtiger Partner trieben Marie-Claire trotzdem aus ihrem Stuhl. Das Angebot, Frau Dr. Nonnenmachers Therapiegruppe für Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch beizutreten, nickte sie eilig weg, während sie ihre Handtasche und ihre Jacke nahm.
Bei Ihnen ist es natürlich noch nicht endgültig, aber es könnte hilfreich sein, zu hören, was Frauen in einer ähnlichen Situation sagen. Ich biete auch Einzelsitzungen an, wie Sie ja vielleicht wissen, bin ich auch ausgebildete Psychotherapeutin.
Nein, das hatte Marie-Claire nicht gewusst. Es wunderte sie jedoch nicht, dass Dr. N. eine Zusatzqualifikation hatte, vermutlich hatte sie auch mehrere Kinder, ein Haus, ein Auto und ein Pferd – und einen perfekten Mann, ebenfalls Arzt, vielleicht auch Unternehmensberater. Es war auf jeden Fall nicht zu übersehen, dass es bei ihr lief, sie hatte die Aura und das Aussehen einer Frau, die ihr gesamtes Abstraktionsvermögen brauchte, um sich in eine Versager-Biografie wie die von Marie-Claire hineinzuversetzen, und da hatte sie sich wohl gedacht, dass es nicht schaden könnte, dieses Herz für Verliererinnen auch noch zum Zusatzberuf zu machen.
Danke, ich denke darüber nach, murmelte Marie-Claire entkräftet, unabsichtlich gedemütigt von der Fachärztin, deren letzte Sätze sie nur noch in Schlagworten registrierte: Therapie, Voraussetzung, Teilnahme, in Kooperation mit der Uniklinik, neue Methode. Sie wollte keine neue Methode. Sie wollte nichts einfrieren, entnehmen, injizieren lassen. Sie...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Angst • Buchpreis • Entscheidung • Frau • Glück • Kind • Kinderlosigkeit • Kinderwunsch • Lebensmodell • Literatur • Mutter • Mutterschaft • Selbstfindung • Shortlist |
ISBN-10 | 3-8437-3231-0 / 3843732310 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3231-4 / 9783843732314 |
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