Alle wissen hier alles (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60880-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alle wissen hier alles -  Mareike Krügel
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»Glück ist gar nicht das, was ich anstrebe« Martina Voß kennt sich aus mit den nicht so schlimmen Kleinigkeiten, die einer Frau zustoßen können. Deshalb nimmt sie ohne lange nachzudenken Kasia und ihre Tochter auf. Platz hat sie in ihrem großen Haus, nachdem sie sich ohne lange nachzudenken von ihrem Mann getrennt hat. Außerdem ist Sommer, und die Welt verliert ihre Ecken und Kanten, wenn die beiden Frauen Apfelsaft mit Wodka trinken. Aber lange kann das nicht gutgehen. Denn im Dorf wissen immer alle alles. Zielstrebig und intelligent, ohnmächtig und töricht: Als unzuverlässige Erzählerin bietet diese Heldin keine einfachen Wahrheiten an.

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet. Mareike Krügel hat fünf Romane veröffentlicht, zuletzt »Schwester«, außerdem im Sommer 2022 die »Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein«. Mareike Krügel lebt zusammen mit dem Schriftsteller Jan Christophersen und den gemeinsamen Kindern an der Schleswig-Holsteinischen Küste.

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet. Mareike Krügel hat fünf Romane veröffentlicht, zuletzt »Schwester«, außerdem im Sommer 2022 die »Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein«. Mit ihrem Mann Jan Christophersen und den gemeinsamen Kindern lebt sie an der Küste Schleswig-Holsteins.

I


Als ich Kasia zum ersten Mal rettete, war ich spät dran. Carsten hatte immer geschimpft, dass ich zu lange duschte, aber was wusste er schon. Er benutzte ein Deodorant, auf dem stand, es würde achtundvierzig Stunden halten. Und dann hatte ich ja auch noch Annalena davon überzeugen müssen, sich Schuhe anzuziehen, die sie bereits im Kindergarten wieder ausziehen würde.

Das letzte Stück rannten wir. Trotzdem war die Garderobe leer, und Annalenas Unterlippe begann zu beben. Sie hasste es, den Gruppenraum zu betreten, wenn die Tür schon geschlossen war. Ich redete ununterbrochen, um sie bei Laune zu halten, reimte und witzelte. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ihre Schuhe, ihre Tasche, ihre Stimmung, und so registrierte ich zwar, dass noch eine Mutter mit ihrem Kind in die Garderobe kam, und natürlich grüßte ich, wie es sich gehörte, aber ich schaute kaum auf. Annalena ging es schlagartig wieder gut, sie würde nicht die Einzige sein, die zu spät kam und den heiligen Morgenkreis störte, und tatsächlich nahm sie Danuta sogar bei der Hand, um dem Feind als geschlossene Reihe zu begegnen.

Ich hörte die Stimmen von drinnen, bevor die Tür sich hinter den Mädchen schloss, und während ich selbst tief durchatmete, hörte ich noch einen anderen Laut. Es klang wie ein Igel, der sich bedroht fühlte. Ein Schnaufen und Aufseufzen zugleich, wahrlich kein menschlicher Laut. Ich musste erst den Mittelpfeiler umrunden, um Danutas Mutter sehen zu können. Da saß sie, unter dem Garderobenhaken von Terror-Benni, auf dem viel zu kurzen, viel zu niedrigen Bänkchen und hielt sich ein Taschentuch an die Stirn.

»Was ist dir denn passiert?«, fragte ich. Sie ließ das Taschentuch sinken, und der Anblick des hühnereigroßen Blutergusses mit dem aufgeplatzten Riss in der Mitte ließ mich zusammenzucken.

»Bin gegen einen Schrank gelaufen, ich Dussel.«

Ihr Akzent war nur ganz leicht zu hören, ich konnte ihn nach diesem kurzen Satz keiner bestimmten Muttersprache zuordnen.

Es war nicht so, dass ich ihr grundsätzlich nicht glaubte. Ich lief selbst gelegentlich gegen Türen, stieß mir die Zehen an Schwellen blau, goss mir gedankenlos kochendes Wasser über die Hand. Niemand, der kleine Kinder hatte, wunderte sich über diese Art von Haushaltsunfall aus Mangel an Konzentration und Selbstfürsorge. Aber die Verletzung sah aus wie etwas, das ich kannte, obwohl ich es in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte. Sie sah nicht aus wie ein Missgeschick, sondern als hätte jemand dieser Frau eins übergebraten. Und das wusste ich: Wenn mir morgens mein Mann ein solches Ei verpasst hätte, würde ich einer vollkommen unbekannten Kindergartenmutti in der Garderobe unter Terror-Bennis Haken ganz sicher auch etwas von einem Schrank erzählen. Alles andere war zu kompliziert, zu demütigend, zu intim. Wer wollte so etwas hören? Man wäre gezwungen zu handeln. So eine Geschichte war im Grunde eine Nötigung zur Hilfeleistung.

»Da sollte ein Arzt draufgucken«, sagte ich sanft. »Könnte sein, dass es genäht werden muss.«

»Ich muss nicht zum Arzt.«

»Es gibt eine Narbe, wenn das nicht ordentlich versorgt wird.«

»Ich hab kein Auto.«

»Ich kann dich hinfahren.« Ich wusste nicht, was ungewöhnlicher war: die Tatsache, dass irgendein Mensch in Niewohld kein Auto zur Verfügung hatte, oder mein Angebot, das mir eigentlich überhaupt nicht ähnlichsah. Ich mischte mich üblicherweise nicht ein.

»Danke. Aber ich brauche keinen Arzt.«

Und damit war die Sache für mich klar. Welchen Grund gab es, eine Narbe in Kauf zu nehmen, wenn es wirklich ein Schrank gewesen war?

»Alle Männer sind krank«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Das war ein Zitat.« Ich hielt ihr die Hand hin. Sie ergriff sie und erhob sich stöhnend. Der Schrank schien noch mehr Unheil angerichtet zu haben. Ich hörte mich selbst sagen: »Und jetzt gehen wir zu mir.«

 

Kasia kam mit mir, und ich war nicht sicher, warum. Sie wirkte selbst mit einem Hühnerei am Kopf nicht wie jemand, der einfach folgte wie ein braves Schaf. Und wenn meine Erfahrungen mit Annalena irgendein Maßstab waren, hatte ich keinen Grund anzunehmen, dass klare Ansagen meinerseits Auswirkungen auf andere Menschen hatten. Es musste so etwas wie einen Überlebensinstinkt geben, auch wenn ich ihn selbst nicht kannte – ich war vertrauter mit dem Gegenteil –, und womöglich hatten gerade Frauen, die in gewaltvollen Beziehungen lebten, besonders viel davon. Womöglich war Überlebensinstinkt die Antwort auf all ihre Entscheidungen.

Im Haus meiner Großmutter, das inzwischen mein Haus war, würde sie jedenfalls sicher sein, das war die Hauptsache. Denn in Sicherheit musste ich sie bringen. Dieser Igellaut, den ich vorhin gehört hatte, war mir tief in die Knochen gefahren.

Ein netter Nebeneffekt war, dass ich mit Kasia im Schlepptau die Leere nicht spüren musste, die mich nach dem Abgeben meiner Tochter im Kindergarten stets überfiel und dazu brachte, wie ein Kind auf der dunklen Kellertreppe vor mich hin zu summen. Ich hatte gelesen, dass Singen auf irgendeine Weise das Gehirn daran hinderte, Angst zu signalisieren. Offenbar funktionierte es auch bei mütterlichen Verwaisungsgefühlen. Natürlich ging es Annalena im Kindergarten sehr gut, das Abholen konnte sich sogar manchmal zum reinsten Drama entwickeln, und natürlich musste ich arbeiten und brauchte auch Zeit ohne sie, aber den Schmerz interessierte nicht, ob es für alle Beteiligten gut war, was passierte. Er behauptete unbeirrbar, dass man mir mein Kind entrissen hatte und mir fortan ein entscheidender Teil meines Organismus fehlte.

Auf dem Weg, den wir langsam, beinahe schlendernd, zurücklegten, sagten wir uns unsere Vornamen. Ich brauchte ein paar Anläufe, bis ich ihren richtig aussprach, den Zischlaut, der irgendwo zwischen ch und sch angesiedelt war – »Kaschcha« –, die polnische Koseform von Katarzyna, wie sie mir erklärte. Wir redeten belangloses Zeug über den Kindergarten und das ungewöhnliche Wetter, über Sommerferienpläne und unsere derzeitigen Lebenssituationen. Sie wirkte erleichtert, als ich ihr sagte, ich sei alleinerziehend. Aber womöglich interpretierte ich ihren Gesichtsausdruck falsch.

Im Übrigen war es wahrscheinlich nicht korrekt, wenn ich behauptete, ich sei alleinerziehend. Carsten hätte sich aufgeregt, wenn er mich das hätte sagen hören. Er erzog schließlich mit, und bis heute hatte er nicht verstanden, warum ich ihn weggeschickt hatte. Es war vielleicht auch nicht zu verstehen. Aber wenn ich eins begriffen hatte in meinem noch nicht allzu langen Leben, dann, dass es einem sowieso nichts nützte, etwas zu verstehen, wenn man nicht wusste, wie man es ändern konnte.

»Warum hast du kein Auto?«, fragte ich.

»Mein Mann hat den Landmaschinenhandel im Gewerbegebiet. Wenn ich vorher weiß, dass ich unser Auto brauche, fahre ich ihn hin. Sonst nehme ich den Bus und hole es mir da ab.«

»Das ist ja grausam.«

»So selten fährt der Bus gar nicht.«

Zu Hause, in meinem großen, kühlen Steinhaus, schloss ich die Tür hinter uns und führte Kasia direkt zum Sofa. Ich desinfizierte die Wunde. Dann schnitt ich vom Rand eines sterilen Haftverbands schmale Streifen, die ich als Klammerpflaster über den Riss legte, bevor ich den Verband aufklebte, damit das Ganze nicht so gruselig aussah und die Kinder erschreckte. Ich gab Kasia ein Kühlkissen gegen das Dröhnen im Kopf, legte ihr eine Wolldecke über, zog die Vorhänge vor die Terrassentür und sah zu, wie ihr die Lider schwer wurden.

»Schlaf ruhig ein bisschen«, sagte ich. »Ich bin in spätestens drei Stunden wieder da. Ruf den Notdienst, wenn dir plötzlich übel wird oder du doppelt siehst oder so was.«

Für einen Moment blickte ich auf Kasia hinab, die auf dem Sofa bereits döste, und sie sah so schön aus, trotz des Verbands über der Schläfe, dass mir ganz warm ums Herz wurde. Ein schlafendes Dornröschen in meinem Wohnzimmer. Eines mit kurzen, wasserstoffblonden Haaren, hager und so lang, dass die Knie eingeknickt werden mussten, damit die Füße nicht über die Seitenlehnen ragten – das genaue Gegenteil von mir: klein, pummelig und dunkelhaarig. Was, wenn sie nicht mehr hier sein würde, wenn ich zurückkam? Vielleicht sollte ich die Haustür abschließen. Von...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ausgrenzung • Deutsche Literatur • deutscher Roman • Dorfgeschichte • Ehedrama • Erziehung • Fallwickl • gewaltätige Männer • Gewalt in der Ehe • Kindererziehung • Missbrauch • Norddeutschland • Psychische Gesundheit • Realitätswahrnehmung • Rollenbilder • Scheidung • Schumacher • Sexualisierte Gewalt • Sexualität der Frau • Sieh mich an • Spiegel-Bestsellerautorin • Übergriffigkeit • Unterdrückung • Unterwerfung • unzuverlässige Erzählerin
ISBN-10 3-492-60880-9 / 3492608809
ISBN-13 978-3-492-60880-0 / 9783492608800
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