Sunny (eBook)

Oder die Geometrie der Liebe. Roman | Episch, eindringlich und präzise: Der neue Roman der Bestseller-Autorin von »Sungs Laden«

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45386-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sunny -  Karin Kalisa
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Zwei Staaten, zwei Epochen, vier Liebende: der große Roman von Bestseller-Autorin Karin Kalisa Bevor Jon die Schule abschließen kann, schließt sie mit ihm ab. Er ist draußen. Und Sunny, nach der er sich sehnt, wie er sich noch nie nach jemanden gesehnt hat, meldet sich nicht Unter der sengenden Sonne eines Jahrhundertsommers streift er durch die Wälder vor den Toren Berlins und stößt auf die darin verborgenen Gebäude der ehemaligen Jugendhochschule der DDR - und auf Benno, der hier einst die Liebe seines Lebens gefunden hatte, Alemee aus Äthiopien, und dieser Liebe wegen ausgebürgert wurde. Nach langen Jahren in Afrika ist er allein zurückgekehrt in ein ihm unvertraut gewordenes Land. Jon und Benno werden zu Gefährten, die einander helfen, ihre Lebenslinien nicht als abschüssige Bahnen zu begreifen. Sunny und Alemee, um die ihre Gedanken nicht aufhören zu kreisen, mischen sich in die gleißende Gegenwart wie Luftspiegelungen am Horizont einer stillgestellten Zeit. Aber dann bringen ein ramponierter japanischer Jeep, frisch gebrühter Kaffee aus Sidamo und einige überaus glückliche Formfehler der Berliner Verwaltung auf einmal Bewegung in alles, was festgefahren schien.  Hochaktuell und zugleich ein Echolot in die Epoche der Weltrevolution - von Berlin bis Addis Abeba und darüber hinaus. Karin Kalisa erzählt von den Passagen eines Sommers, in der eine nie gekannte Hitze die Grenze zwischen Realem und Irrealem ins Schlingern geraten lässt. Völlig real ist dabei ihr entlarvender Blick auf das seltsame System Schule und auf ein kaum bekanntes Stück deutscher Vergangenheit.

Karin Kalisa, geboren 1965, lebt nach Stationen in Bremerhaven, Hamburg, Tokio und Wien seit einigen Jahren im Osten Berlins. Sowohl als Wissenschaftlerin als auch mit dem Blick einer Literatin forscht sie in den Feldern asiatischer Sprachen, philosophischer Denkfiguren und ethnologischer Beschreibungen. Nach Karin Kalisas erstem Roman 'Sungs Laden' erschienen ihre Wintererzählung 'Sternstunde' und ihre weiteren Romane 'Radio Activity', Bergsalz' und 'Fischers Frau'. Zuletzt erschien von ihr 'Magst Du die Nacht?'.

Karin Kalisa, geboren 1965, lebt nach Stationen in Bremerhaven, Hamburg, Tokio und Wien seit einigen Jahren im Osten Berlins. Sowohl als Wissenschaftlerin als auch mit dem Blick einer Literatin forscht sie in den Feldern asiatischer Sprachen, philosophischer Denkfiguren und ethnologischer Beschreibungen. Nach Karin Kalisas erstem Roman "Sungs Laden" erschienen ihre Wintererzählung "Sternstunde" und ihre weiteren Romane "Radio Activity", Bergsalz" und "Fischers Frau". Zuletzt erschien von ihr "Magst Du die Nacht?".

1


JON

Freier Fall

Die Mauern des Schulgebäudes sind aus Backsteinen zusammengefügt, die mehr als hundert Jahre lang ihre Fähigkeit zum Temperaturausgleich unter Beweis gestellt haben. Bevor aus solchen Wänden im Winter die Restwärme des Sommers ganz gewichen ist, wird es erneut Sommer, und bevor sich im Sommer die Hitze durch die Steine gearbeitet hat, gibt es die ersten Nachtfröste. Dieser Hitzewelle aber waren selbst die Steine nicht gewachsen. Wie ein riesiger Akku hatten sie sich bereits seit Mitte Mai mit Hitze vollgesogen, Ende Juni war ihre Speicherkapazität erschöpft, und sie begannen, schon vor den Sommerferien, einer widersinnigen Wandheizung gleich, die Wärme statt nach außen nach innen abzugeben.

Auch die Jalousien hatten aufgegeben. Die jedenfalls, auf die Jon gerade schaute, hatte sich auf halber Höhe verhakt und hing schief, die linke Seite ein gutes Stück höher als die rechte, wo die Lamellen sich wie in einer letzten verzweifelten Dienstleistung auffächerten, sinnloserweise. Auf der abschüssigen Aluleiste tanzte ein greller Funke, mittendrin eine Spinne, die sich geradewegs ins Leere gleiten ließ, um vor Jons Augen in der Luft stehen zu bleiben; in einer Luft, die selbst stand. Vielleicht half ihr das. Geradezu auffordernd verharrte sie dort, als suche sie das Gespräch mit ihm. Im gleißenden Licht präsentierte sie sich seltsam überwirklich. Ihm war, als habe er noch nie eine solche Spinne gesehen, ja, als habe er überhaupt noch nie eine Spinne gesehen, wie sie wirklich war. Standen Spinnenaugen tatsächlich so nah zusammen? Sahen diese hier ihn an, so, wie seine Augen sie ansahen? Hatten Spinnen tatsächlich derart viele Haare am Leib? Und warum war diese hier gelbschwarz gestreift wie eine Wespe? Ob die hier überhaupt heimisch war? Womöglich war sie von weit her eingewandert, auf langen Wegen, über die nachzudenken ziemlich unterhaltsam wäre.

Als könne sie Gedanken lesen, fing die Spinne an, sich an ihrem seidenen Faden zügig auf und ab zu bewegen. Sie nickt, dachte Jon. Wie macht sie das bloß? Saugte sie den Faden ein, oder spulte sie ihn auf? Wo in diesem winzigen Körper verschwand er, und wie wurde er wieder ausgestoßen? Ob ihr schwindelig wurde bei diesem heftigen Auf und Ab? Oder war so ein Spinnengehirn unerschütterlich? Wie viel Kraft sie dieses Freeclimbing wohl kostete? Wo in diesen dünnen Beinchen versteckte sich die erforderliche Muskelmasse? Ihm fiel auf, dass er so gut wie nichts über Spinnen wusste. Aber schön war es, in den Halbschatten zu blinzeln und dieser Art Fragen nachzuhängen, die nicht unmittelbar beantwortet werden mussten; so schön, dass Jon die Änderung in der Stimmung erst spürte, als es im Klassenraum bereits sehr still geworden war. Wie lange hatte es schon gedauert, dieses stumme Schauen der Anderen, halb gelangweilt, halb sensationslüstern – bis er Sunnys Blick gefunden hatte, fragend und beschwörend? Wie lange hatte es gedauert, bis er Hören und Sehen wieder halbwegs zusammengebracht hatte und die Worte des Chemielehrers an sein Ohr drangen?

»Wir wünschen Jon, der die Schule verlässt, jedenfalls alles Gute für seinen weiteren Weg«, sagte der Lehrer, und, wieder an die Klasse gewandt, »wir anderen sehen uns dann in alter Frische nach den Ferien.«

Was war das hier? Ein Tagtraum? Ein Witz? Es musste doch irgendwie zur Versetzung gereicht haben. Hatte er nicht sogar zwei, wenn nicht drei Einsen eingeheimst, und die Fünfen – nicht mehr als sonst, würde er meinen. Es hatte keine Briefe, keine Gespräche, nur die üblichen Ermahnungen gegeben. Es musste sich um ein Versehen handeln, denn selbst wenn er sitzenbleiben würde, wäre Sitzenbleiben immer noch das exakte Gegenteil von ›die Schule verlassen‹. Sitzenbleiben, dachte er. Sitzenbleiben. Wieso blieb er sitzen? Er blieb sitzen, weil er nicht aufstehen konnte, nicht aufstehen konnte er und nicht gehen und schon gar nicht die Schule verlassen. Er starrte auf die Hände des Lehrers, die die ledernen Laschen seiner Aktentasche schlossen.

»Sag nicht, dass du das nicht wusstest.«

Was war das – das, was er nicht wusste?

»Nun, es hat wieder nicht gereicht. Und inzwischen hast du genug Schuljahre hier abgesessen. Tja …«

In Jons Kopf verfingen nur das erste und das letzte Wort. Alles, was zwischen nun und tja gesagt worden war, hatte er gehört, aber nicht verstanden. Aber nun tja signalisierte, dass etwas beschlossen und besiegelt war, gegen ihn, ohne ihn. Nun tja sagte nicht viel, aber immerhin eines, nämlich, dass er hier wegmusste. Jon stand auf, ihm wurde schwarz vor Augen. Wenn du jetzt nicht sofort losläufst, dachte Jon, wenn du dich nicht in Sicherheit bringst, bevor du umfällst, wird er dich hier liegen lassen und mit einem nun tja über dich hinwegsteigen, alle werden das tun, dachte Jon. Alle außer Sunny. Er lief am Lehrer vorbei auf den Flur, wo sie wartete, leichenblass.

»Du bist ganz blass«, sagte Sunny.

Er sah, dass ihre Knie zitterten, und er sah, dass sie seine Knie zittern sah. Er fühlte es nicht, er sah es.

»Ich muss nur kurz noch mal rein, bin gleich wieder da«, sagte Sunny.

Sie ging rein, und er war draußen.

Seit Sunny, die Nomadin, in seine Klasse gekommen war vor einem guten halben Jahr, hatte er Angst davor gehabt, dass sie wieder gehen würde. Diese Schule passte nicht zu ihr, aber er, Jon, er passte zu Sunny, und es hatte eine Weile gedauert, bis Sunny das wahrgenommen hatte, und wo anders als in der Schule hätte er sie das merken lassen können? Und jetzt, gerade jetzt, nachdem auch Sunny begriffen hatte, wie gut sie zusammenpassten, obwohl sie und er auf unterschiedliche Weise nicht in die Schule passten, und es jetzt so hätte weitergehen können, denn jetzt waren sie zu zweit, war es andersrum gekommen, dachte er, und genau in diesem Moment fing es an. Zuerst drehten sich die Schließfächer um ihre eigene Achse, dann kippten die Kakteen auf der Fensterbank weg. Der Boden hob und senkte sich. Die Bewegung der Dinge um ihn herum erfasste seinen Magen, es stieg ihm sauer die Kehle hoch, er schaffte es gerade noch aufs Klo. Kein Fenster war hier zu öffnen, kein Papier im Halter, keine Seife, um, was auf seinem T-Shirt gelandet war aus einem sich mehrfach umdrehenden Magen, wegzuwischen. Er versuchte, die Flecken mit Wasser auszuwaschen, sah sein Gesicht im Spiegel, weiß, wie die Kacheln hinter ihm. Jon lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. So, wie er aussah, konnte er nicht zurück auf den Flur.

Er wartete ab, bis die Pause vorbei war und es draußen still wurde. Sicher würde Sunny vor der Tür des Klassenzimmers auf ihn warten. Aber sie war nicht da. Er suchte sie auf allen Stockwerken, raste die Treppen rauf und runter, fand sie nicht. Es konnte nicht sein, dass sie einfach wieder reingegangen war in den Unterricht. So war sie nicht. Sie war keine von der Nun tja-Fraktion. Oder doch? Jon setzte sich auf einen Treppenabsatz. Wie still es hier war während der Unterrichtszeit. Waren die Wände immer schon gelb gewesen? All die Jahre? Er stand auf und legte eine Hand auf die Wand – vielleicht war sie ja gerade frisch gestrichen worden, und er hatte es mal wieder nicht mitbekommen, wie er das meiste, was hier ablief, nicht mitbekam. Aber die Farbe war nicht frisch. Er konnte sich gerade noch beherrschen, den Schüler, der ihm auf der Treppe entgegenkam, danach zu fragen, ob die Wände immer schon so gelb gewesen waren, so gelb, so unfassbar gelb. Das Gelb schmerzte in seinen Augen.

Als er die Tür zum Hof öffnete, war es, als würde eine Flut von Scheinwerfern dieses Gelb in seinen Augen anstrahlen und seine Sehkraft auslöschen. Wie blind musste er sich darauf verlassen, dass seine Beine den Weg finden würden. Seine Beine, die so unwirklich leicht gewesen waren beim Hoch- und Runterlaufen. Jetzt waren sie ohne jedes Gewicht, nicht mehr zu fühlen, obwohl sie liefen und liefen. Wie ein Hund oder eine Katze wissen, wohin sie zurückmüssen, so wussten es auch seine Beine. Geblendet, körperlos, wie ein Geist auf der Flucht, lief er nach Hause.

Er schloss die Wohnungstür auf und sah seine Mutter in der Küche sitzen, ein Buch in der Hand. Neben ihr der dampfende Reiskocher. Immer kochte sie Reis, nein, sie ließ den Reiskocher Reis kochen, saß daneben und las. Im Reiskocher konnte der Reis nicht anbrennen, im Gegenteil, der Reiskocher hielt den Reis genau richtig warm, auf den konnte man sich verlassen, daneben sitzen und so tun, als würde man kochen. Gerade im Sommer könne man sehr gut von Reis, Ketchup und Salatgurken leben – meinte seine Mutter. Und Geld spare es auch. Geld war in letzter Zeit ein Thema gewesen.

»Ich bin raus aus der Schule«, sagte Jon.

Seine Mutter hob kurz den Kopf. Sie sah aus wie jemand, der von sehr weit herkam, für eine kurze Zwischenlandung.

»Sehr schön, Essen ist gleich fertig.«

Der dampfende Reiskocher, die aufgeschnittene Salatgurke und die Flasche Ketchup daneben brachten Jon mit einem Ruck zurück in einen halbwegs normalen Zustand. Er spürte seine Beine wieder, schwerer als sonst. Einen viel zu leichten Körper auf viel zu schweren Beinen musste er in sein Zimmer balancieren. Er konnte gerade noch das T-Shirt ausziehen und die Vorhänge zuziehen gegen das gleißende Mittagslicht, bevor er aufs Bett fiel – und nicht aufhörte zu fallen. Was war das? Langsam und intensiv, fast genüsslich zeigte ihm das Fallen, was es war: eine bodenlose Senkrechte. Er fiel und wollte es nicht. Niemand will in eine solche Bodenlosigkeit fallen. Er müsste sich wieder hochhangeln wie die Spinne an der Jalousie, aber er fiel. Fiel immer schneller. Das...

Erscheint lt. Verlag 4.11.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 70er Jahre • 80er Buch • 80er Jahre • äthiopischer Kaffee • Bergsalz • Bestseller-Autorin • Bildungsmisere • Bildungsroman • Brandenburg • buchempfehlungen romane • Coming-of-age • deutschland äthiopien • FDJ • Fischers Frau • freundschaft zwischen jung und alt roman • Gegenwartsliteratur • Geschichte DDR • Gesellschaftsroman • Gute Romane • Heranwachsen • Hitzesommer • Hitzewelle • jugendhochschule der fdj • Jugendlicher • Kaffeekrise • karin kalisa bücher • Klimawandel Romane • Kraft der Liebe • Liebesgeschichte • Lost Places • Radio Activity • Roadmovie • roman ddr jugend • romane über aussenseiter • romane über das leben • romane über die ddr • romane über erste liebe • Romane über Freundschaft • romane über kaffee • romane über schule • romane übers erwachsenwerden • romane zeitgeschichte • Romane zum Nachdenken • Schulgeschichte • Schulkrise • Sehnsucht • spiegel bestseller • Sungs Laden • Teenager
ISBN-10 3-426-45386-X / 342645386X
ISBN-13 978-3-426-45386-5 / 9783426453865
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