Der Silberriese -  Andreas Moster

Der Silberriese (eBook)

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2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Arche Literatur Verlag AG
978-3-03790-147-2 (ISBN)
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Er gibt sich ganz hin und droht dennoch zu scheitern - als Sportler, als Mann und vor allem als Vater Patrik und seine zwölfjährige Tochter Ada waren immer zu zweit. Gerade sind sie wieder einmal umgezogen, und Ada hat mit dem Geräteturnen angefangen. Wenn Patrik zusieht, wie sie mit zusammengebissenen Zähnen am Stufenbarren hängt, denkt er an seine eigene Karriere als Leistungssportler zurück. Doch die olympische Silbermedaille, die er einst im Diskuswurf gewonnen hat, liegt verstaubt in der Schublade. Während Patrik und Ada zusammen trainieren und versuchen, sich in dem neuen Leben einzurichten, driften sie immer weiter auseinander. Je mehr sie ihm entgleitet, desto heftiger fallen Patrik Erinnerungen an all die Jahre mit seiner Tochter an. Der verzweifelte erste Versuch, sie zum Trinken aus dem Fläschchen zu bewegen, die Nachmittage auf dem überfüllten Spielplatz, wo weit und breit kein Mann zu sehen war, schon gar kein kraftstrotzender Hüne wie er. Als Ada eines Tages verschwindet, begreift Patrik, dass er sich endlich der Lücke in ihrer beider Leben stellen muss: Wo ist Adas Mutter?

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren. Er studierte Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitet heute als freier Übersetzer in Hamburg. 2017 erschien sein Debütroman »Wir leben hier, seit wir geboren sind«. Sein zweiter Roman »Kleine Paläste« wurde 2021 als Buch des Jahres mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet. 2022 nahm Andreas Moster am 46. Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Er ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren. Er studierte Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitet als freier Übersetzer. 2017 erschien sein Debütroman Wir leben hier, seit wir geboren sind. Sein zweiter Roman Kleine Paläste wurde 2021 als Buch des Jahres mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet. 2022 nahm Andreas Moster am 46. Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Hamburg.

Ada, zwölf Jahre alt


Sie sind zu spät.

Sie nehmen den falschen Eingang, sie irren durch Gänge und Umkleidekabinen, durchqueren eine leere Halle, reißen eine schwere Tür auf, schlängeln sich zwischen Rucksäcken, Jacken und Kleinkindern hindurch, hasten die Treppe der Zuschauertribüne hinauf, stoßen gegen Knie und stolpern über ausgestreckte Beine, lassen sich schließlich in der letzten Reihe auf die Bank fallen, vollkommen außer Atem, zu spät, weil Ada im Bad ewig gebraucht und ihm dann auch noch die falsche Adresse genannt hat. Patrik schließt die Augen zu Schlitzen gegen die Sonne, die ihm durch die breite Fensterfront der Halle entgegenfällt. Staub glitzert im Licht, für einen Moment stehen die Körper der turnenden Mädchen an vier Geräten gleichzeitig in der Luft. Die Welt in der Schwebe, in ihren Bewegungen angehalten, bewahrt im Zustand dieser einen goldenen Sekunde. Am Barren wirbeln Talkumwolken auf, hinter dem Sprungtisch liegen blaue Weichbodenmatten bereit, ihre kühlen und glatten Oberflächen fast einladend in der Treibhausluft. Patrik legt einen Arm um die schmalen Schultern seiner Tochter, spürt ihre Knochen und wie wenig darüberliegt, ein paar Muskeln, ein bisschen Haut, das durchgeschwitzte weiße T-Shirt, das sie sich von ihrem eigenen Geld im Einkaufszentrum gekauft hat.

»Was?«, fragt Ada.

»Beruhig dich mal«, sagt er, »wir haben’s ja noch geschafft.«

»Ja, toll.«

»Diskutieren wir das jetzt?«

»Nein, schon gut.«

Sie rückt von ihm ab und beugt sich vor, sodass seine Hand von ihrer Schulter rutscht. Aus einem Lautsprecher scheppert die Titelmelodie von Fluch der Karibik, und das Mädchen am Sprung reckt die Arme in die Höhe und dreht sich zum Kampfgericht, nickt, wendet sich ab und atmet tief durch, setzt die ersten Schritte auf die Bahn.

Carla.

Wegen ihr sind sie hier, wegen ihr turnt Ada seit ein paar Wochen im Verein, nachdem sie sich bis dahin allen Sportarten verweigert hat. Adas glühende Wangen, als sie Patrik das Anmeldeformular für den WTV zur Unterschrift vorlegte, ihre Verliebtheit in die Vorstellung, mit diesem Mädchen befreundet zu sein. Er hatte nichts dagegen. Er war froh, dass Ada nach dem Umzug so schnell Anschluss zu finden schien, brachte sie zum Probetraining und wartete zwei Stunden im Auto, sprach danach kurz mit Carlas Mutter, die die Gruppe als Trainerin leitet. Dort steht sie am Rand der Bahn und begleitet den Anlauf ihrer Tochter mit nickendem Kopf, eine Frau in einem weiten grauen Sweater und schwarzen Leggings, die dunklen Haare aufgesteckt, die Hände im Rücken verschränkt. Letzten Mittwoch hat sie Ada erklärt, dass auch sie im nächsten Jahr an diesem Wettkampf teilnehmen wird. Ada tut so, als wäre es nichts, aber sie kann ihm nichts vormachen. Seit zwölf Jahren liest Patrik die Empfindungen aus ihrem Gesicht, erkennt darin auch jetzt auf der Tribüne ihre Angst zu stürzen, abzurutschen oder sich bei einer Drehung auf den Arsch zu setzen, begleitet vom Raunen im Publikum und dem unterdrückten Kichern der anderen Mädchen. Er hatte damals wenigstens seine Muskulatur als trügerische Rüstung gegen die Blicke, Ada dagegen hat nichts, den schwarz-roten Turnanzug vom WTV und einen Körper, der sich viel zu schnell verändert, als dass er ihr in irgendeiner Form Schutz bieten könnte. Elf Zentimeter ist sie im letzten Jahr gewachsen, ihre kindliche Statik hat sich verschoben, ein breiteres Becken unter einem gestreckten Rumpf, Storchenbeine, die eine höhere, neu verteilte Last tragen müssen. Er kann sich nur vorstellen, wie schwer es sein muss, einem solchen Körper zu vertrauen. Darauf zu vertrauen, dass er sie im entscheidenden Moment nicht im Stich lässt, dass er gehorcht, wenn sie nach dem Absprung die Rotation einleitet und am höchsten Punkt kopfüber in der Luft verharrt, so wie Carla, die nach einem gehockten Vorwärtssalto auf den Füßen zu stehen kommt, mit einem leichten Ausfallschritt zur Seite, der sie einen Zehntelpunkt Abzug kosten wird.

»Ich kann dir helfen«, sagt Patrik.

»Wie willst du mir helfen?«, fragt Ada.

»Ich weiß, wie man sich vorbereiten muss. Wenn ich was kann, dann trainieren.«

»Aber doch nicht Turnen!«

»Turnen ist nicht nur hier«, sagt er und umfasst Adas Bizeps mit der rechten Hand, »sondern auch hier.« Er macht eine Faust und klopft mit den Knöcheln gegen ihre Stirn, streicht seiner Tochter über den Kopf, bis sie sich gegen ihn lehnt, bereits jetzt erschöpft von dem Wettkampf, den sie in einem Jahr turnen soll. Nach ihrem Sprung posiert Carla, die Arme erhoben, vor dem Kampfgericht und wartet auf ihre Wertung. Strahlend steht sie im Licht und wirft einen Schattenbalken, Schattenholme auf dem Boden, die riesigen Schatten der Fensterkreuze.

 

Sie beginnen am nächsten Samstagvormittag mit dem Training. Er hat Mühe, Ada aus dem Bett zu schaffen, wie eine Larve aus ihrer Hülle muss er sie aus der Decke schälen und in die Küche scheuchen, beim Frühstück zupft sie winzige Stücke vom Toast, kaut jedes einzeln. So isst sie, lernt sie, zieht sie sich an, so packt sie ihre Sachen fürs Training, wartet, bis Patrik schon in der Tür steht, und stopft erst dann den Turnanzug, das Handtuch, die Wasserflasche in einen Beutel, muss auf der Straße noch einmal zurück, weil sie ihre Bandagen vergessen hat. Es ist wenig Verkehr, sie fahren schweigend, finden nur langsam in den Tag. In der Sporthalle am Lokstedter Steindamm ziehen sie sich in getrennten Kabinen um. Alter Schweiß, Leder, Schimmel. An Patriks Unterarmen stellen sich die Härchen auf, der Geruch holt alles hoch, Erinnerungen aus der Magengrube, wie er vornübergebeugt auf der Holzbank sitzt und um Atem ringt, über Wochen die Ausbreitung eines Wasserflecks an der Decke beobachtet, Matteo Kaller am Hosenbund an einen Kleiderhaken hängt. Tausende Stunden hat Patrik in solchen Davor- und Danachräumen verbracht, als Kind, als Teenager, als Mann, Holzpaneele an den Wänden, die Böden aus welligem Linoleum. Das Eigentliche fand dazwischen statt, die Trainingseinheiten, die seinen Körper veränderten, die Wettkämpfe, von denen er heute noch zehrt, und doch gehörten die Kabinen nicht weniger zu seinem Leben als der Ring und die von Weitenlinien durchzogenen Rasenflächen. Langeweile und Angst hat er in diesen Räumen empfunden, Abscheu und Euphorie. Er nimmt seine Klamotten aus der Tasche, riecht den Kleiderschrankmuff, kurze Sporthosen und ein Muscleshirt, die er seit Jahren nicht getragen hat. Barfuß betritt er die dunkle Halle, findet nach einigem Tasten den Lichtschalter, wie Korffmacher es bei der Schlüsselübergabe beschrieben hat, links an der Wand neben dem Tor zum Gerätelager. Korffmacher, der Hausmeister und Kumpel eines Arbeitskollegen: »Ich hab dich damals werfen sehen, weiß ich noch genau, gegen den Alekna, richtig? Ich hab geglaubt, den packst du noch, hab ich wirklich geglaubt, im letzten Versuch. Der sah nach Gold aus. Hab dich noch genau vor Augen, wie du dem Wurf nachgesehen hast, hast es selbst geglaubt, oder? War ein Wahnsinnsding, eigentlich unmöglich, dass der nicht gereicht hat. Ja, scheiße. Aber egal, ist lange her. Hast deinen Moment gehabt, kann auch nicht jeder von sich behaupten.«

Auch fünfzehn Jahre nach den Olympischen Spielen in Athen gilt Patriks Name bei einigen noch etwas, nur deshalb hat er den Schlüssel bekommen. Mit einem elektrischen Summen springen die Leuchtröhren an, und er steht für einen Moment blind auf dem kalten Boden, das Licht kaum weniger kalt, fast weiß, als er die Augen langsam öffnet. Die leere Halle am Morgen, auch das eine Erinnerung: als Erster kommen, weit vor allen anderen, die Gewichte über die Schmerzgrenze stemmen und reißen, endlose Wiederholungen in der Stille, kein Geräusch bis auf die kreischenden Maschinen und den eigenen schweren Atem. Er tritt auf der Stelle, dann öffnet er das Tor zum Geräteraum, zieht einen Mattenwagen heraus.

»Das sind die falschen«, sagt Ada.

»Es gibt falsche Matten?«

»Ja.«

Sie zeigt ihm die richtigen, zeigt ihm, wo der Schwebebalken steht und wie man ihn aufstellt, wie man ihn sichert und Matten über die seitlich abstehenden Füße legt, um sich bei einem Sturz nicht daran zu verletzen. Dann stemmt sie sich hoch, schwingt die Beine auf den Balken, setzt die Füße hintereinander.

»Musst du dich nicht erst aufwärmen?«, fragt er.

»Mach ich gleich.«

Die Arme ausgebreitet, steht sie lang und schlank über ihm. Sie lacht ihn an, dann dreht sie den Kopf und macht zwei Schritte, schwankt leicht, geht in die Knie und setzt zum Sprung an, springt, die Arme noch immer gestreckt, rutscht bei der Landung mit dem rechten Fuß ab und hält sich gerade so, richtet sich auf, geht weiter. Patrik folgt ihr auf gleicher Höhe, spürt das Adrenalin bei jedem ihrer Wackler, bei jedem unsicheren Schritt als heiße Welle in seinem Körper. Fast wünscht er sich, sie würde fallen, nur damit er tun kann, was er ihr Leben lang getan hat: Ada auffangen und heil wieder absetzen, wenn sie vom Klettergerüst in seine Arme stürzte, halb im Spiel, zur anderen Hälfte die Welt darauf testend, ob sie halten würde, so wie er es ihr versprochen hatte.

Vom Klettergerüst.

Von der Mauer, auf der sie balancierte.

Von ihrem Fahrrad.

Aus einer Hochstimmung am Morgen in eine tiefe Traurigkeit am Nachmittag, weil sie in der Pause von ihrer besten Freundin aus dem Kreis der galoppierenden Mädchen ausgeschlossen worden war, den Parcours nicht reiten durfte, den sie gemeinsam mit Stöcken und Steinen gebaut hatten.

Er hat Ada so oft fallen sehen.

Aus größerer Höhe als jetzt, wenn...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte alleinerziehend • Elternschaft • Kind • Leistungssport • Männlichkeit • Mutterlos • Sport • Vater • Vaterschaft • Vater-Tochter-Beziehung
ISBN-10 3-03790-147-0 / 3037901470
ISBN-13 978-3-03790-147-2 / 9783037901472
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