Die Schatten alter Sünden (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
448 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9667-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Schatten alter Sünden -  Nicola Upson
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Wenn alte Verbrechen lange Schatten werfen

London, 1903. Zwei Frauen werden im Holloway-Gefängnis wegen Babymordes gehängt. Dreißig Jahre später soll Josephine Tey einen Roman über die Täterinnen schreiben. Als zeitgleich mehrere junge Frauen tot aufgefunden werden, wird Inspector Archie Penrose' Misstrauen geweckt. Es beginnt die Suche nach einem bösartigen Mörder, der die Vergangenheit nicht ruhen lässt.

Nicola Upson wurde 1970 in Suffolk, England, geboren und studierte Anglistik in Cambridge. Ihr Debüt Experte in Sachen Mord bildet den Auftakt der erfolgreichen, mehrbändigen Krimireihe. Bei deren Hauptfigur Josephine Tey handelt es sich um eine der bekanntesten Krimiautorinnen des Britischen Golden Age. Mit dem Schnee kommt der Tod war nominiert für den CWA Historical Dagger Prize (2021). Nicola Upson lebt in Cambridge und Cornwall.

1


Josephine Tey nahm die aufwendig verpackte Hutschachtel entgegen und befestigte sie mithilfe der perfekten Selfridge-Schleife am Rest ihrer Päckchen.

»Und Sie sind sich sicher, dass wir nicht liefern sollen, Madam?«, fragte die Verkäuferin nervös, als wäre die selbstständige Abreise des Hutes eine Beleidigung ihrer professionellen Standards. »Das wäre wirklich nicht die geringste Mühe.«

»Nein, danke, ich komme zurecht.« Josephine lächelte die jungen Damen hinter der Theke schuldbewusst an. »So schwer bepackt schaffe ich es in kein anderes Geschäft mehr, und das ist wahrscheinlich auch besser so. Wenn ich noch mehr in meinen Club schicken lasse, berechnen sie mir bald ein zusätzliches Zimmer.«

Voll beladen mit ihren leichtfertigen Einkäufen betrat Josephine die Rolltreppe ins Erdgeschoss. Die gemächliche Fahrt bot ihr Gelegenheit, das weitläufige, offene Kaufhaus zu bewundern, das sich so sehr von den anderen Geschäften Londons unterschied. Das gesamte Gebäude glitzerte mit dem Wissen um die Verbindung zwischen dem Blick einer Frau und ihrem Portemonnaie; selbst auf den prominent platzierten Schnäppchentischen waren die wunderschönen Kisten fein säuberlich gestapelt, und nichts wies auf ihren herabgesetzten Preis hin. Bis Dezember war es zwar noch eine Woche, doch die Mitarbeiter schmückten die Gänge bereits für die Weihnachtszeit, und der vertraute Kaufhausgeruch – weiche Teppichböden und frische Blumen – hatte einem warmen Zimtduft Platz gemacht, dem lediglich die Parfümwolke der Kosmetikabteilung etwas entgegensetzen konnte. Anscheinend funktionierte der Plan, das Fest näher wirken zu lassen, als es wirklich war: Selbst am späten Nachmittag herrschte Hochbetrieb, und Josephine kämpfte sich an den Schminktheken vorbei hinaus in den Trubel der Oxford Street.

Sie bog nach links ab Richtung Oxford Circus, folgte der langen Reihe Schaufenster bis zur Ecke Duke Street. Hinter den Scheiben drängten sich die Schaufensterpuppen, die an Salzsäulen erinnerten, auf ewig in ihren Gesten gefangen. Manche lockten neugierige Betrachter ins Innere, andere gingen ihrem imaginären Leben nach, ungeachtet der leibhaftigen Frauen, die von draußen jedes Detail genau studierten, und alle waren vor einem Hintergrund aus Licht und Farbe arrangiert, der so kunstvoll geplant war wie eine Theaterkulisse. Josephine blieb vor einer besonders beeindruckenden Schlafzimmerszene stehen. Eine umwerfende Wachsfigur in einem Nachthemd aus Crêpe de Chine trat aus einem Nest seidener Laken und Kissen. Ihr rosafarbener Fuß ruhte leicht auf dem Boden, und sie streckte die perfekt manikürte Hand nach ihrem Nachttisch aus, auf dem eine Morgenzeitung, ein Roman – Die Lady vom Lande in Amerika – und ein Tablett mit feinstem Tee-Porzellan standen. Auf ihrem Schminktisch, dem Hort weiblicher Ausschweifungen, glänzten Kristallflakons mit goldenen Stopfen. Das Bild war bestechend, doch die Botschaft, häusliches Glück stünde ein jeder zur Verfügung, die wusste, wo man einzukaufen hatte, wirkte auf manche Betrachterinnen so schmerzhaft wie auf andere verlockend. Einer ganzen Generation Frauen war die Verwirklichung dieser Vorstellung verwehrt geblieben; einer Generation, deren Chance auf Zufriedenheit und Sicherheit, sogar auf Zweisamkeit, von einem Krieg zerstört worden war, und diesen Verlust konnten selbst die schönsten Satinlaken der Welt nicht dämpfen. Sie warf einen Blick auf die alten Jungfern zu ihrer Rechten und Linken, doch sie verwendete das Wort halbherzig, war sich darüber im Klaren, dass sie sich etwas vormachte, indem sie sich von der Gruppe abgrenzte. In jedem Fall steckte hinter den sorgenvollen Mienen mehr als nur Bedenken darüber, ob die spärliche Bekleidung der Schaufensterpuppe der Novemberkälte gewachsen war.

Der Bürgersteig war gerade breit genug, um zwei Fußgängerströmen Platz zu bieten, und Josephine ging langsam weiter, wobei sie sich in den Kleinstadtfrauen wiedererkannte, die völlig in ihren Besorgungen aufgingen und nichts verpassen wollten. Es war nach siebzehn Uhr, und im Laufe der letzten Stunde waren die Rosa- und Orangetöne des winterlichen Sonnenuntergangs von einem blau-schwarzen Himmel verdrängt worden. Straßenlaternen erstreckten sich vor ihr wie Perlen auf einem Faden, verloren sich in der Ferne und nahmen der Einkaufsmeile – der Damenmeile, wie sie allgemein genannt wurde – die Gewöhnlichkeit des Tages. Einige der kleineren Geschäfte hatten bereits geschlossen und entließen ihre Mitarbeiter auf die Straße, und ein paar Verkäuferinnen hielten inne und betrachteten sehnsüchtig die Schaufenster der größeren Läden. Der lange Arbeitstag hatte den Wunsch nur noch verstärkt, einmal auf der anderen Seite der Theke zu stehen. Die meisten jedoch machten sich rasch auf den Weg zur U-Bahn oder reihten sich in die Busschlangen ein, die mit jeder Sekunde länger wurden, wobei sie ungeduldig vor sich hinmurmelten und es kaum erwarten konnten, die wenigen freien Stunden zu genießen, bevor die alltägliche Routine aufs Neue begann.

So beeindruckend die aneinandergereihten Geschäfte auch sein mochten, die Oxford Street war einer der Teile Londons, die Josephine am wenigsten mochte, und sie ertrug sie aus einer puren Schwäche für Bekleidung, aber keine Sekunde länger als nötig. Sie war froh, das Gedränge und Geklapper hinter sich zu lassen und in die weniger überlaufenen Straßen Richtung Wigmore Street einzubiegen. Das Gefühl der Anonymität bei einem frühabendlichen Spaziergang durch London begeisterte sie nach wie vor. Niemand auf der Welt wusste, wo sie sich befand oder wie sie zu erreichen war, und sie genoss den Frieden, der damit einherging. Sie war vor zehn Tagen aus Inverness eingetroffen, hatte ihre Ankunft in London jedoch erfolgreich geheim gehalten, von ein paar Bekannten in ihrem Club einmal abgesehen. Es würde nicht ewig anhalten; in der nächsten Woche standen ihr mehrere Verpflichtungen bevor, und irgendwann würde sie den Hörer abheben und sich einer Flut von Einladungen stellen müssen. Doch damit hatte sie es nicht eilig. Eine Welt ohne Zeitpläne und Abgabetermine, in der niemand Nachrichten für sie hinterließ, war Josephine mehr als recht. Sie war fest entschlossen, sie so lange wie möglich auszukosten.

Trotzdem war ihr die ungezwungene Geselligkeit des Einkaufsnachmittags nach einem einsamen Morgen auf ihrem Zimmer willkommen gewesen – nur sie und ihre Schreibmaschine und ein paar unscharfe Figuren aus einer Vergangenheit, die sich völlig fremd anfühlte. Sie war sich mit dem Roman, an dem sie gerade arbeitete, noch immer nicht sicher – war der Wunsch, etwas anderes zu schreiben als einen Kriminalroman, wirklich so weise gewesen? Als ihr Verleger ein Buch mit historischem Einschlag vorgeschlagen hatte, war sie mit der Idee der fiktiven Verarbeitung eines realen Verbrechens sehr zufrieden gewesen, insbesondere, da eine persönliche Verbindung bestand, doch der klaustrophobische Schrecken von Holloway schlug sich allmählich auf ihre Stimmung nieder, und sie hatte gerade erst begonnen. Der Sommer – sowohl der echte, den sie in Cornwall verbracht hatte, als auch die imaginäre Version, die sie vor Kurzem bei ihrem Verlag eingereicht hatte – kam ihr weit entfernt vor, und sie sehnte sich nach der wärmenden Sonne auf ihrem Rücken und der tröstlichen Gesellschaft Inspektor Alan Grants, dem Helden ihrer zwei ersten Kriminalromane. Die frühen Stadien eines Buches, in denen die Figuren ihr noch nicht vertraut waren, fielen ihr stets am schwersten. Es fühlte sich an, als beträte sie einen Raum voller Unbekannter, was dank ihrer Schüchternheit eine entsetzliche Vorstellung war. Sie freute sich schon darauf, mit dem Text voranzukommen, obwohl die Welt, die sie erschuf, vermutlich nicht fröhlicher werden würde.

Der Times Book Club auf der anderen Straßenseite war noch geöffnet, und es amüsierte sie, dass Bücher es stets schafften, den inneren Einkäufer im männlichen Geschlecht zu wecken. Eine Lampe unter der Markise warf warmes gelbes Licht auf die Regale, in denen verblasste Umschläge beliebter Romane an obskuren politischen Pamphleten lehnten – die Mischung war so willkürlich wie die Kundschaft, die darin stöberte. Sie überlegte, ob sie hineinschauen sollte, doch sie war zu schwer bepackt, um sich in Ruhe umzusehen, und ging weiter Richtung Cavendish Square. Dort waren die Straßenlaternen nachgiebiger, die Lichtkegel von längeren dunklen Abschnitten unterbrochen, und der Gegend wohnte eine beschauliche Eleganz inne. Der Platz hatte mehr Glück gehabt als andere Teile Londons, in denen Wohnhäuser sich nun an moderne Bürobauten drängen mussten, und bestand zum Großteil noch aus wunderschönen alten Häusern. Es war Feierabend, und auf ihrem Weg zur Nummer 20 beobachtete Josephine, wie in den oberen Stockwerken die Lichter angingen, und stellte sich vor, wie Türen geöffnet wurden und Stimmen nach oben riefen, während sich das Leben vom Büro ins Wohnzimmer verlagerte.

Der Cowdray Club befand sich in einem besonders ansehnlichen Stadthaus aus dem achtzehnten Jahrhundert an der Ecke Henrietta Street, im Herzen der schicksten Gegend des georgischen Zeitalters. Das Gebäude war Lord Asquith abgekauft worden – dem letzten einer Reihe namhafter Eigentümer – und im Jahr 1922 von Annie, Viscountess Cowdray, in einen Club für Krankenschwestern und berufstätige Frauen verwandelt worden. Lady Cowdray, deren Bekanntschaft Josephine nie gemacht hatte, musste eine herausragende Spendensammlerin und treue Unterstützerin des Schwesternberufs gewesen sein, hatte sie doch außerdem ein neues Hauptquartier für das College of Nursing in Asquiths ehemaligem Garten finanziert; dank eines...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2024
Reihe/Serie Josephine Tey und Archie Penrose ermitteln
Sprache deutsch
Original-Titel Two for Sorrow
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 20. Jahrhundert • 30er-Jahre • Archie Penrose • baby farming • Belletristik • Britischer Krimi • Cozy Crime • Golden Age • Historischer Kriminalroman • Holloway Gefängnis • Josephine Tey • London • Mord • Roman • Serienmörder
ISBN-10 3-0369-9667-2 / 3036996672
ISBN-13 978-3-0369-9667-7 / 9783036996677
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