Soledad (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
448 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491471-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Soledad -  Thorsten Nagelschmidt
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BRD, Palmen und wie man einfach verschwindet: Nach »Arbeit« der neue Roman von Thorsten Nagelschmidt März 2020, eine abgeschiedene Lodge in dem kolumbianischen Dschungeldorf Soledad. Die Hamburger Fotografin Alena will nach einer schmerzhaften Trennung nur ein paar Tage bleiben. Doch mehr und mehr verfällt sie dem mystischen Charme des Ortes und den Erzählungen Rainers, dem deutschen Betreiber der Lodge, dessen Lebensgeschichte mit Alenas ersten Eindrücken von diesem seltsamen und charismatischen Mann nur wenig zu tun hat: In seiner Kindheit immer für zu weich gehalten, rebelliert er in den sechziger Jahren gegen das spießige Nachkriegsdeutschland, arbeitet als Vertreter für gefälschte Jeanswaren und landet nach einer Odyssee durch Lateinamerika in Kolumbien, wo er einem hochrangigen Drogendealer ein Stück Land abkauft, um aus dem Nichts seine Lodge zu errichten.  Wie in seinem hochgelobten Roman »Arbeit« erzählt Thorsten Nagelschmidt in »Soledad« mit beeindruckendem Einfühlungsvermögen und Witz von auf den ersten Blick sehr ungleichen Menschen, die sich in ihrem Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit näher sind, als sie anfangs dachten.

Thorsten Nagelschmidt, geboren 1976 in Rheine, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter und veröffentlichte die Bücher »Wo die wilden Maden graben« (2007), »Was kostet die Welt« (2010) und »Drive-By Shots« (2015). Zuletzt sind seine Romane »Der Abfall der Herzen« (2018) und »Arbeit« (2020) erschienen. 2024 wurde »Arbeit« für die Aktion »Berlin liest ein Buch« ausgewählt.

Thorsten Nagelschmidt, geboren 1976 in Rheine, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter und veröffentlichte die Bücher »Wo die wilden Maden graben« (2007), »Was kostet die Welt« (2010) und »Drive-By Shots« (2015). Zuletzt sind seine Romane »Der Abfall der Herzen« (2018) und »Arbeit« (2020) erschienen. 2024 wurde »Arbeit« für die Aktion »Berlin liest ein Buch« ausgewählt.

Das zeigt vor allem, was für ein toller Erzähler Thorsten Nagelschmidt ist. [...] Ein cooler, weltläufiger Pageturner.

I. Alles auf Position


Es kam nichts. Ich hielt das Teil senkrecht, probierte verschiedene Winkel, versuchte es mit Schütteln und mit ruckartigen Stößen, doch es kam einfach nichts raus aus dem Ding.

»Das Teil pfeift aus dem letzten Loch«, sagte ich.

»Auf«, sagte Sonja. Sie saß mir gegenüber und tippte unter dem Tisch auf ihrem iPhone herum. Ihr Garnelen-Ceviche hatte sie kaum angerührt.

»Was?«

»Es heißt auf dem letzten Loch. Nicht aus dem letzten Loch.«

»Sehr hilfreich, danke.«

Sie sah mich an. Ihr Gesicht war ausdruckslos, doch ich wusste, dass sie tief im Innern triumphierte. Wie sehr sie ihre Überlegenheit genoss, was für eine Befriedigung ihr Spitzfindigkeiten dieser Art verschafften. Ich knallte den Salzstreuer zweimal hintereinander auf den Tisch und probierte es erneut. Nichts. Überall im Raum wurden die Köpfe gereckt, und ich konnte sehen, welche Anstrengung es Sonja kostete, mich zu ignorieren. Hinter mir ertönte eine Stimme.

»Problemas, señora?«

Ricardo, der Kellner. Beim Einchecken in der Casa Isabella vor zwei Tagen hatte er sich uns gleich mit Namen vorgestellt. Woher wir kämen, hatte er gefragt und auf Sonjas Antwort gerufen: »Ah, Hamburg, Deutschland, bienvenidos a Cartagena!« Als wir am nächsten Morgen zum Frühstück runtergekommen waren, hatte er uns begrüßt wie alte Bekannte und zu einem Zweiertisch ganz hinten geführt, der seitdem unser Stammplatz war und an dem wir auch an diesem Abend saßen. Nach einer schweißtreibenden Wanderung auf den Islas del Rosario hatten wir beschlossen, im Hotelrestaurant zu essen, und auf Ricardos Frage, was wir trinken wollten, hatte Sonja una copa de vino tinto y una copa de vino blanco bestellt, por favor. Obwohl er die Frage auf Englisch gestellt hatte.

»No, no«, sagte sie nun, »todo bien.«

Ihr joviales Getue. Ganz die weltgewandte Travellerin. Bloß nie bedürftig erscheinen, bloß nie jemandem zur Last fallen. Lieber später eine schlechte Bewertung auf Trip Advisor hinterlassen. Ricardo richtete einen Zeigefinger auf sie, kniff ein Auge zusammen und schnalzte mit der Zunge – Wir verstehen uns. Schwule Männer standen auf Sonja, war schon immer so. Je unterkühlter sie sich gab, desto mehr lagen sie ihr zu Füßen.

Mit einer leichten Verbeugung zog Ricardo wieder ab. Ich streckte mich zum Nebentisch, den das schweigsame Rentnerpaar aus den USA gerade verlassen hatte, und griff nach deren Salzstreuer. Ein trauriges Wölkchen Salzstaub rieselte auf meine zerkochte Pasta hinab.

»Nimm den Deckel doch einfach ab«, sagte Sonja.

»Ich möchte das Salz dosieren«, antwortete ich. »Kennst du, dosieren

Seufzend beugte Sonja sich vor und nahm mir den Salzstreuer aus der Hand. Sie schraubte den Deckel ab und befreite die Innenseite mit ihrem Messer von den verkrusteten Ablagerungen. Dann schraubte sie den Deckel wieder fest, schüttete sich ein paar flockige Krümel in die Hand und verteilte sie mit spitzen Fingern auf meinem Teller. Sie sah mich an: Siehste, geht doch. Dann rieb sie sich die Salzreste von den Fingerkuppen, stellte das Gefäß ordentlich zurück auf den Nachbartisch und wandte sich wieder ihrem iPhone zu.

Den ganzen Tag über behandelte sie mich schon so. Wie die letzte Idiotin. Ihr Augenrollen, als ich am Kiosk auf dem Boot zwei Empanadas und Wasser bestellen wollte, wie sie vor der gesamten Schlange mein Spanisch verbessert und den restlichen Tag nur noch das Nötigste mit mir geredet, mich bei der Wanderung über die Isla Grande regelrecht geghostet hatte. Ihre gelangweilten Mhms, diese alles abwürgenden Ja, voll interessant-Konversationsboykottkommentare und dann, beim Abstieg eines weiteren beschissenen Hügels, ihr genervt nach hinten geworfenes »Alles okay, Alena?«, als wäre ich irgendwie stulle oder fußlahm oder so, ein lästiges Anhängsel, eine Zumutung.

Ich spürte etwas in mir wachsen. Ein dumpfes Gefühl, das ich nur zu gut kannte. Ich drehte ein paar Nudeln auf die Gabel. Steiger dich da jetzt nicht rein, dachte ich, konnte mich dann aber doch nicht beherrschen.

»Was unterscheidet uns eigentlich noch von den anderen Ehepaaren hier?«

»Wir sind nicht verheiratet«, antwortete Sonja tonlos.

Ich ließ die Gabel auf den Teller sinken. »Ist das alles, was dir dazu einfällt?«

»Cómo?«, fragte Sonja.

»Cómo?«, äffte ich sie nach.

Endlich legte sie ihr iPhone auf den Tisch. »Alena, nerv mich nicht. Was willst du von mir?«

»Ich will wissen, ob wir jetzt eines dieser Paare sind, die sich schweigend im Restaurant gegenübersitzen und in ihrem Essen stochern.«

»Sieht ganz so aus«, sagte Sonja mit einem Blick auf meine Gabel. Sie lachte.

Ich ließ mich gegen die Stuhllehne fallen und schaute an die Decke, unter der sich träge der Ventilator drehte. Es war unmöglich, mit ihr zu diskutieren. Alles prallte an ihr ab, alles musste sie ins Lächerliche ziehen. Das dumpfe Gefühl wurde stärker. Eine Anspannung im Nacken, ein Druck auf der Brust. Ich nahm einen großen Schluck Weißwein. Bei den Blumen auf unserem Tisch handelte es sich um Nelken. Beerdigungsblumen. In meinem Kopf erklang ein gedämpfter, statischer Ton. Ich dachte: Gleich schleudere ich ihr mein Glas in die Fresse.

»Du bist eine dumme Sau, weißt du das?«

»Tja«, sagte Sonja. »Augen auf bei der Partnerwahl.«

Ich starrte sie an, dann schoss ich aus dem Stuhl hoch, schwarze Punkte vor den Augen. Mein Kreislauf, ich war zu schnell aufgestanden. Beim Versuch, meine Handtasche von der Stuhllehne zu ziehen, verlor ich das Gleichgewicht und stieß mit der Hand gegen die Blumenvase, die mit einem lauten Krachen auf den Fliesen zerschellte. Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Spürte ein Dutzend Augenpaare auf mir. Ich ging in die Hocke und begann, ein paar der größeren Scherben aufzusammeln. Auf einmal stand Ricardo neben mir. Er bat mich, ein Stück zur Seite zu treten, und winkte eine Kollegin mit Handfeger und Kehrblech heran.

»Perdón, lo siento«, sagte Sonja zu Ricardo, und dann noch etwas, das ich nicht verstand. Es klang, als würde sie sich für ihren tollpatschigen Nachwuchs entschuldigen.

Betont vorsichtig nahm ich meine Handtasche vom Stuhl und drehte mich um. »Ich geh nochmal kurz um den Block.«

»Tu das«, hörte ich Sonja hinter mir sagen.

 

Mit schwirrendem Kopf, nun auch spürbar angeschickert, trat ich hinaus in die schwüle Nacht. Ziellos lief ich durch die Gassen der Altstadt, bis ich zur Plaza de Bolívar kam, wo ich mich an den Tresen einer Bar in einem dieser historischen Kolonialgebäude klemmte und einen Ron Collins bestellte, und dann noch einen. Die von einer ratternden Klimaanlage durch den Raum geschobene Luft kitzelte auf meiner schweißnassen Haut, aus den Boxen schepperte kolumbianischer Reggaeton. Neben mir saß ein Deutscher in meinem Alter, ein paar Jahre jünger vielleicht, Anfang bis Mitte dreißig. Er trank Bier, nuckelte an einer Zigarette und gab sich abgeklärt. Die Altstadt von Cartagena sei eine einzige tourist trap, sagte er, ein zu Tode aufgehübschtes Museumsdorf für Touris aus Amiland und Europa. Er hieß Sven oder Jens, war freier UX-Designer in Essen und schon seit vier Monaten mit dem Rucksack unterwegs durch Lateinamerika. »Sabbatical oder so«, sagte er achselzuckend und dass er außerdem Gitarrist in einer Rockband sei, »eher so Folkrock, kennst du nicht.« Nach Cartagena habe es ihn nur wegen der Scheißeritis verschlagen, die er sich bei einer mehrtägigen Wanderung durch die Sierra Nevada eingefangen habe, vermutlich Denguefieber. »Ich war so dehydriert, ich wär beinahe abgenippelt«, sagte er stolz und exte sein Bier, worauf ihm vom Barkeeper gleich ein neues hingestellt wurde, Standleitung.

Ich nickte. Ich kannte diese Leute, viele von Sonjas Freundinnen waren genauso. Überzeugte Backpacker, die die Mühen der täglichen Organisation von Schlafen, Essen und Transport zu einem Lifestyle erhoben hatten und mit Verachtung auf all jene herabblickten, die einfach mal Urlaub machen wollten. Ich fragte mich, was dieser Folkrockdesigner von mir dachte. Wie er mich sah, wo er mich einordnete. Ich schnorrte eine seiner Marlboro Lights und ließ mir Feuer geben. Ein angenehmer Schwindel erfasste mich. Ich war klassische Partyraucherin, doch seit Sonja aufgehört hatte, rauchte ich kaum noch.

Meine Fresse, dachte ich und blies den Qualm aus. Dieser dämliche Salzstreuer, wirklich?

Es war unsere fünfte und letzte Woche in Kolumbien und unser letzter Abend in Cartagena. Früh am nächsten Morgen würden Sonja und ich nach Capurganá aufbrechen. Der Höhe- und Schlusspunkt unserer Reise, nachdem wir die letzten Wochen mit diesem Fotoprojekt in den Vororten Bogotás und in den Bergen bei San Gil verbracht hatten. Eine der intensivsten Erfahrungen, die ich in meiner Karriere als Fotografin je gemacht hatte. Dennoch hatte ich mich von Tag zu Tag mehr auf den letzten Abschnitt unserer Reise gefreut, den Urlaubsteil. Drei Übernachtungen in Cartagena und dann fünf Tage bei Capurganá, diesem abgelegenen Fischerort wenige Meilen südlich der Grenze zu Panama, von dem Bekannte von Sonja uns ein paar Monate zuvor bei einem gemeinsamen Abendessen vorgeschwärmt hatten – das Karibische Meer, der tropische Regenwald und die...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer und Reisen • Anspruchsvolle Literatur • Aussteiger • BRD • Corona • Ein Buch von S. Fischer • Fotografie • Kolumbien • Lebensgeschiche • Mainz
ISBN-10 3-10-491471-0 / 3104914710
ISBN-13 978-3-10-491471-8 / 9783104914718
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