Jahreszeiten (eBook)
188 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-56013-6 (ISBN)
Herman van Veen, geboren 1945, wuchs in Utrecht auf, wo er auch das Konservatorium besuchte. 1965 feierte er mit dem Soloprogramm 'Harlekin, niemands Knecht, niemands Herr' sein Theaterdebüt. Seitdem reist er mit seinen Vorstellungen um die Welt. Von seiner Hand entstanden bis heute 180 CDs, 80 Bücher und ca. 500 Gemälde. Sowohl für sein künstlerisches Werk als auch für seinen Einsatz für den Frieden wurde er mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Herman van Veen ist Vater von vier Kindern und der Waisenente Alfred Jodokus Kwak. Er hat drei Enkel und lebt bei Utrecht.
Herman van Veen, geboren 1945, wuchs in Utrecht auf, wo er auch das Konservatorium besuchte. 1965 feierte er mit dem Soloprogramm "Harlekin, niemands Knecht, niemands Herr" sein Theaterdebüt. Seitdem reist er mit seinen Vorstellungen um die Welt. Von seiner Hand entstanden bis heute 180 CDs, 80 Bücher und ca. 500 Gemälde. Sowohl für sein künstlerisches Werk als auch für seinen Einsatz für den Frieden wurde er mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Herman van Veen ist Vater von vier Kindern und der Waisenente Alfred Jodokus Kwak. Er hat drei Enkel und lebt bei Utrecht.
Braut
Beginne heute an meinem Achtundsiebzigsten mit einer Tasse Tee, drei Scheiben Zwieback mit Butter, dunklen Schokoflocken von De Ruijter und einem Fünfminutenei. Irgendwo auf der Welt ist etwas schiefgegangen, wodurch es draußen atemlos grau ist. Raben krähen, Unkraut wuchert. Seit mein Vater tot ist, wird in unserem Garten weniger gejätet. Seine Wurzeln werden auf meinem Weg sichtbar. Nach der Lektüre der Tageszeitungen male ich zur Musik von Johann Sebastian Bach ein Bild gegen das Grau in zwölf Farben Gelb. Vielleicht bringt es die Sonne zurück. Denke mir dann einen sich schlängelnden Weg, der mich zu einem kleinen Park neben einer Haushalts- und Gewerbeschule in Utrecht zurückführt. Ein junger Mann, ein Fahrrad … Aber zuerst …
… hier öffnen.
Am dreiundfünfzigsten Geburtstag unseres ältesten Sohnes sah ich nach Covidjahren meine erste Braut wieder. Im frühen Frühling unseres Lebens begegnete ich ihr im Flur des Montessori-Kindergartens von Fräulein Boissevain. Ich dachte an die Worte: »Wir sagen, lass uns nicht zur Schule gehn, wenn du zur Schule gehst, fängst du an, die Welt zu verstehn, dann ist die Hölle los.« Aber das hatte die Dichterin Anne Vegter noch nicht geschrieben, also hängte meine werdende Braut ihren beigen Dufflecoat neben meinen.
»Hallo. Wem gehörst du?« – »Ich gehöre dem kleinen Jungen, der mit den Bauklötzen spielt. Und du?« – »Dem kleinen Mädchen am Rechenrahmen. Was hast du in deiner Tasche?« – »Murmeln und eine Mundharmonika. Und was ist in deiner?« – »Auch Murmeln und ein paar Gummibänder.« Für die Spannkraft, aber davon hatten wir damals noch keine Ahnung.
Einen Moment lang sehen wir uns an diesem Geburtstag an, was wird es gewesen sein? Vier Sekunden. Jahre flogen durch meinen Kopf. Händchen halten. Vorsichtige Küsse, lachende Väter und Mütter. Flüsse in Frankreich, volle Einkaufsstraßen in London, schlafloses New York. Stolze Großeltern, ein Lastenfahrrad vollgepackt mit Mobiliar, eine Sitzbank auf Rädern, eine fröhlich blickende Oma, Freunde, die Türen grundieren. Menschen, die sich hingerissen über pausbäckige rosa Babys in Strampelanzügen beugen. Freudentränen. Die Beatles im Radio. Remember that I’ll always. Be in love with you.
Unterschriften auf einem Ehescheidungsvertrag.
Ein Jahr später, an einem der letzten Novembertage, schließe ich mein Studium ab. Hab keine Idee, wie sich mein Leben künftig abspielen wird. Verliebt, verlobt, ins Standesamt und heiraten, keine Züge verpassen. Sicherheit, Anker, feste Stelle, Berufsunfähigkeitsrente, ein Cockerspaniel, ein Aquarium voller Mondfische, ein kleines blaues französisches Auto für vier Personen, Briefmarken sammeln. Mit Bleistift schreiben auf die Rückseite von Ansichtskarten mit Schnappschüssen und fröhlichen Grüßen aus Giethoorn und Katwijk aan Zee.
Das Siebengebirge, die Ardėche, norwegische Fjorde, eine Stereoanlage, Farbfernseher, ein Bücherschrank, eine eigene Winkler-Prins-Enzyklopädie mit Goldschnitt, Kontrolle über die Dinge, Regelmäßigkeit und Deutlichkeit, Recht auf Hoffnung, und dann kam der Mann mit der Frage: »Sag mal, bist du nicht Herman? Ich hab dich neulich singen hören. Na, was denkst du?«
Bin wieder achtzehn, studiere Geige, Gesang und Musikpädagogik am Utrechter Konservatorium. Erwartet mich ein Pult in einem Orchester, ein Platz im Chor zwischen Baritons, werde ich vor der Klasse stehen und Kindern erzählen, wie dunkel es in einigen Liedern von Franz Schubert ist? Ihnen das Licht anknipsen, erklären, wie es kommt, dass die Musik von Wagner besser klingt, als sie ist. Eins weiß ich ganz genau: Ich will, dass das Mädchen, auf das ich auf dem Gepäckträger meines Fahrrads neben der düsteren Haushaltsschule für »Mädchen aus der Arbeiterklasse« warte, in diesem Leben vorkommt, mehr noch, in meinem Film die Hauptrolle kriegt.
Wenn man in einem Buch bei jedem Buchstaben den Namen einer gewissen Person liest, wenn man mit einer Regenjacke ins Bett geht, weil die Jacke nach einer gewissen Person riecht. Wenn man nur noch denkt: Wo könnte die gewisse Person wohl sein, und wen trifft die gewisse Person da? Wenn man bis nach Addis Abeba mit einer gewissen Person gehen will, wenn man nachts wach bleibt, weil man ständig den Wecker kontrollieren muss, weil man für nichts in der Welt seine Verabredung mit einer gewissen Person verpassen will, dann bist du verliebt.
Und schreibst ein Gedicht, das mit den Worten beginnt: »In meiner Handfläche wohnen jetzt Rotkehlchen und so weiter und so liebeskrank fort.«
Sie sitzt augenblicklich bestimmt noch anderthalb Stunden in der sogenannten Puntenburg-Spinatakademie, wo sie kochen lernt und ihr Kenntnisse beigebracht werden, die für den Haushalt von Nutzen sind. Wie wirtschaften, stricken, nähen, waschen, putzen, häkeln, Handarbeiten und Haushaltsführung.
Beginne in meinem Kopf ein Lied zu schreiben. »Will immer bei dir bleiben, alles für dich tun. Wohin du auch gehst, ich gehe mit dir mit.« Denke: »Ich will sie, vielleicht will sie mich ja auch?« Fahre mit meinem Lied fort im Stil von »die Locken von ihrem Haar«. Und lasse meine Küsse auf dich niederprasseln wie Regentropfen auf einen Bürgersteig. Durch deinen Augenaufschlag schweifen meine Gedanken ab. Sie fand es gut, dass ich sie hier von der Schule abholen will, also kaue ich noch ein Kaugummi. Bin meiner Sache sicher.
Aller guten Dinge sind drei.
Ich saß im Kino mit meinem Studienfreund Jurrian, und wir sahen Das süße Leben, ein italienisch-französisches Drama von Federico Fellini. Während ich dies schreibe, fällt mir der Satz des niederländischen Choreografen Hans van Manen ein: »Alles, was ich mache, hat, weil ich die Menschen liebe, immer mit Erotik zu tun.« Fellini verstand diese Kunst auch. Ich hielt es während des Films nicht mehr aus vor Sehnsucht nach dem blonden Star mit der Rubens-Figur.
»Sorry, Jurrian, bis morgen in der Orchesterklasse.«
Stand leise von meinem Sitz auf, schlich vornübergebeugt durch den dunklen Gang, stieg auf der Leinwand in einen römischen Stadtbus und setzte mich neben die damalige Miss Schweden, Anita Ekberg. »Da bist du endlich.« Sie nahm meine Hand. Wir fuhren kreuz und quer durch die Berge zu einem kleinen Hotel an der Küste. Dort heirateten wir. Unsere Hochzeit wurde gesegnet von ihrem Vater, Pater Don Camillo/Fernandel. Nachdem Anita mir erzählt hatte, dass sie schwanger war, starb ich in der Hochzeitsnacht vor Glück. Nach meiner Beerdigung fuhr sie mit dem Fahrrad nach Rom und tanzte vor Kummer mit meinem Schatten im Wasser des Trevisobrunnens einen Tango von Osvaldo Fresedo.
»Bis morgen«, antwortete Jurrian im Dunkel des Kinos.
Ja, ich hatte außer dem Warten auf meine künftige Kinderbraut einige verwirrende Erfahrungen mit Frauen, zum Beispiel mit Adelheit. Meinen ersten Zungenkuss bekam ich von ihr. Hoch in den Alpen, dicht beim siebten Himmel. Ich war siebzehn, sie siebenunddreißig. Wir hatten uns beide in einem sommerlichen Schneeschauer verirrt. Hatten dasselbe Licht der Alpenhütte gesehen. Nach einer eiskalten Dusche saßen wir nebeneinander vor einem bullernden Kamin, voller Flammen, Brennholz und Tannenzapfen. Ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen, und sie konnte nicht aufhören, mich anzusehen. Eins führte zum anderen, zum anderen führte eins. Weiß noch, dass sie bei unserem Abschied sagte: »Einmal wird es wieder schneien, dann triffst du mich, bleibst du dann bei mir?«
Fünfzig Jahre danach sah ich sie wieder nach unserer Vorstellung im Wiener Konzerthaus. Da stand sie in meiner Garderobe, mit Hut in ihrer roten Regenjacke, auf ihren Schirm gestützt. Sie war zweiundneunzig und sagte mit einem Lächeln: »Herman, hab keine Angst, es schneit nicht.«
In den Sechzigerjahren war ich oft total in Mädchen verknallt, die das nicht in mich waren. Das klappt nicht. Was sich in eine Richtung bewegt, kann man nicht umkehren. Wie ich auch fuhr, wie oft ich sie auch auf dem Fahrrad nach Hause brachte, es endete meistens mit: »Danke, bis morgen.« Vielleicht hätte ich meine Reifen besser aufpumpen müssen. Ich hatte es aufgegeben, krank war ich oft, krank vor Kummer, und die Viren hießen Ada, Truus, Dineke, Georgine, Brigitte. Doch die alte Kindergartenliebe blieb, die blühte seit der Fröbelschule wie Flieder an einem Busch immer wieder auf und duftete.
Will mit ihr in einer Straße leben, die ein bisschen sonniger war als unsere, einer Straße mit niedrigen Häusern. Sodass man am Horizont England und dahinter Amerika, Wolken wie Schoner heranziehen, Schwalben und Fledermäuse sehen kann. Wo man in der Ferne Züge hört, die überall hinfahren. Dahin, wo ich mit ihr sein will. Ich fand in der Coronazeit beim Aufräumen des Dachbodens einen kleinen, offensichtlich nicht abgeschickten Brief.
»Vielleicht genügt es mir, dich anzusehen. Man braucht nicht unbedingt eine Hand, um mit ihr über dein Haar zu streichen, meine Nase darin zu begraben, man braucht nicht unbedingt zu küssen. Ich genieße es, mir das vorzustellen. Das gilt auch für deine Brüste und deinen Bauch. Zu wissen, dass es sie gibt und dass es möglich ist im einzigartigen Moment, an der Grenze von Traum und Schlaf. Ich brauch nicht mehr unbedingt etwas zu sagen, wenn du schweigst. Ich sehne mich schon lange nach dir. Bis morgen.«
Bin wieder beim Geburtstag unseres Sohnes. Wir machen einen Schritt...
Erscheint lt. Verlag | 4.11.2024 |
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Übersetzer | Thomas Woitkewitsch |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aktuelle Geschehnisse • bekannt • Berühmt • Biografie • biografien musiker • Biographie • biographie musiker • Biographien • Biographische Erzählungen • blick auf die welt • Buch • CD • Erinnerungen • Essays • Geschenkbücher • Geschenkbücher Familie • Gsellschaft • Herman van Veen • herman van veen bücher • Herman van Veen Erinnerungen • Holland • Holländisch • Lebensgeschichten • Liedermacher • Musiker • Niederlande • Niederländisch • Promi • Prominent • Prominenter • Reminiszenzen • Van Veen • wahre Begebenheiten Buch • Wahre Geschichten |
ISBN-10 | 3-426-56013-5 / 3426560135 |
ISBN-13 | 978-3-426-56013-6 / 9783426560136 |
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