Wilder Wein (eBook)
304 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01809-7 (ISBN)
Alexander Oetker, geboren 1982, berichtet als Frankreich-Experte von RTL und n-tv seit 15 Jahren über Politik und Gesellschaft der Grande Nation. Er ist zudem Kolumnist und Restaurantkritiker der Gourmetzeitschrift Der Feinschmecker. Seine Krimis stehen regelmäßig auf der Bestsellerliste. Mit seiner Familie pendelt er zwischen Brandenburg, Berlin und der französischen Atlantikküste.
Alexander Oetker, geboren 1982, berichtet als Frankreich-Experte von RTL und n-tv seit 15 Jahren über Politik und Gesellschaft der Grande Nation. Er ist zudem Kolumnist und Restaurantkritiker der Gourmetzeitschrift Der Feinschmecker. Seine Krimis stehen regelmäßig auf der Bestsellerliste. Mit seiner Familie pendelt er zwischen Brandenburg, Berlin und der französischen Atlantikküste.
Cover
Titelseite
Prolog Miniatures
Jeudi, 5 octobre–Donnerstag, 5. Oktober
Vendredi, 6 octobre–Freitag, 6. Oktober
Samedi, 7 octobre–Samstag, 7. Oktober
Le dimanche, 8 octobre–Sonntag, 8. Oktober
EpilogSix mois après–Sechs Monate später
Liebe Leserinnen und Leser,
Merci
Über Alexander Oetker
Impressum
Rue de Leyre, Barsac bei SauternesDimanche, 1er octobre, 17:15
Es war schon fast ein Ritual geworden. Je näher er der Haustür kam, desto langsamer ging er. Desto interessierter sah er sich die kleinen Wege an, die sich rechts und links des Hauses durch die Weinfelder schlängelten. Desto lauter kam ihm der Gesang der Vögel vor, weil er so im Kontrast stand zu der schrecklichen Stille, die in diesem Haus herrschte. Totenstille.
Damien nahm den Schlüssel aus der Tasche und hielt an der Tür inne, senkte den Blick und atmete einmal tief durch. Dann drehte er den Schlüssel im Schloss. Erstaunlich, dass es derselbe Schlüssel war, mit dem er als Schulkind diese Tür aufgeschlossen hatte. Er hatte ihn nie verloren, nie abgeben müssen, die Familie hatte auch nie das Schloss ausgewechselt.
Wie schön ihm diese Zeit vorkam. Die Sorglosigkeit. Tun und lassen zu können, was er wollte. Aus dem Schulbus aus Langon zu hüpfen und zu überlegen, ob er mit dem Fahrrad durchs Dorf fahren solle – oder mit Freunden in den Weinfeldern Hasen jagen oder heimlich ein winziges Glas Roten abzufüllen und sich danach herrlich kindlich beschwipst zu fühlen und eine Woche über nichts anderes mehr zu reden. Abends kamen Maman und Papa aus dem Weinfeld und aus der Grundschule nach Hause, und dann saßen sie zusammen um den alten Holztisch, aßen Baguette, Käse und Salat und redeten über den Tag.
Zwanzig Jahre war das jetzt her. Und Damien Arbois wünschte sich, er könnte wieder ein sorgenfreies Kind sein. Sorgenfrei. Das Wort klang, als würde jemand einen Kübel Hohn über ihm ausschütten. Er war alles Mögliche, aber ganz sicher nicht sorgenfrei. Seit Jahren nicht mehr. Jeden Morgen, wenn er aufwachte, kamen die finsteren Gedanken, die Sorgen – und die Wut.
Eine Wut, die er tagsüber einigermaßen im Zaum halten konnte, aber wenn er diese Tür von innen hinter sich schloss wie jetzt und das Piepen hörte … Dieses sonore Piepen der Maschinen, fast das einzige Geräusch, das hier auf die Anwesenheit menschlichen Lebens hindeutete … dann, ja dann schoss die Wut in ihm hoch und war nicht zu bändigen.
Der Flur war dunkel, es roch nach Desinfektionsmittel und Eisen. Krankenhausgeruch. Damien betrachtete die Bilder an den Wänden, auf denen er zu sehen war, mal mit Maman, mal mit Papa, manchmal auch nur er. Lachend, strahlend, Grimassen schneidend. Es kam ihm vor, als würde er sich die Bilder eines Fremden im Museum ansehen.
Das jüngste Bild war ein Foto seines Vaters. Schwarz-weiß, wie es sich gehörte. Der schwarze Schleier hing in der rechten oberen Ecke.
Er wusste noch nicht, was er mit diesem Bild tun würde, wenn er eines Tages hier lebte. Eigentlich würde er es gerne abnehmen und durch ein fröhlicheres ersetzen. Aber Maman mochte dieses Bild, deshalb hatte er sich noch nicht entschieden, ob er es wirklich tun könnte.
Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Wohnzimmer. Noch so ein Hohn. Denn das Wohnzimmer, in dem er mit Papa die Tour de France geschaut hatte, war nun alles in einem: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Esszimmer, Krankenzimmer.
Damien trat langsam ein, bemüht, mit den Schuhen auf dem Laminat kein Geräusch zu machen. Das hatten sie letztes Jahr verlegt, weil es sich besser wischen ließ. Vielleicht würde Maman einfach weiterschlafen und ihn gar nicht hören. Dann könnte er ihre Hand halten und sich nach einer Viertelstunde einfach davonstehlen, auch wenn er dann den ganzen Abend ein schlechtes Gewissen haben würde, weil er sie nicht geweckt hatte.
Er betrachtete die Szenerie wie ein Stillleben: die alten Bücherregale, die voller Staub waren, weil seit Jahren niemand mehr ein Buch herausgenommen hatte. Die Maschinen an den Wänden, die Sauerstoffflasche, die zwei Schränke mit Medikamenten, Einmalhandschuhen und Desinfektionsmittelflaschen. Das große Bett mit den Schaltern und Hebeln in der Mitte. Und darin, so klein, dass sie nicht einmal die Hälfte des Bettes auszufüllen schien, lag seine Maman. Wie ein winziges Vögelchen, die Beine angezogen wie immer. Er sah die faltige Haut auf ihren Armen, die früher so schön und gebräunt und stark gewesen waren, als sie ihn in die Luft gehoben hatte, um mit ihm zu spielen.
Tagsüber brauchte sie die Atemmaske nicht, weil sie noch einigermaßen gut Luft bekam. Ihre Arme aber waren mit Maschinen verbunden, die über die Parameter ihres Lebens wachten: Puls, Blutdruck, Herzfrequenz. Zahlen, die ziemlich normal waren dafür, dass es bald vorbei war, dieses Leben.
Schlugen die Maschinen Alarm, wurde automatisch der Pflegedienst informiert, der dann binnen fünfzehn Minuten bei ihr war. Eine dauerhafte Pflege konnten sie sich nicht leisten, und ihr Haus wollte Jacqueline Arbois nicht verlassen. »Jamais« – »niemals« –, hatte sie gesagt. Einmal nur, aber so klar und deutlich, dass Damien nicht einmal versucht hatte, sie zu überreden. Er wusste, dass sie immer noch so stur war, wie er sie zeit ihres Lebens gekannt hatte. Vielleicht, dachte er, war er ihr in dieser Hinsicht gar nicht so unähnlich. Die Wut jedenfalls war seine sture und zumeist stumme Begleiterin.
Er trat auf das Bett zu. Sie lag auf der Seite und atmete flach. Ihre Haut war so grau, dass es ihn ein bisschen gruselte – und er schämte sich sogleich dafür, dass er dieses Gefühl hatte. Und dann war da der kahle Kopf, die grünblauen Adern auf der Kopfhaut, die wenigen Härchen, die übrig geblieben waren, weil die Ärzte sie völlig sinnloserweise noch mal zu einer Chemo überredet hatten, die genauso wenig gebracht hatte wie die drei vorher.
Sie hat noch ein paar Wochen, hatte der Arzt gesagt. Machen Sie das Beste draus. Und Damien hätte ihm gerne eine reingehauen. Das hatte geklungen, als hätte er seine Maman noch auf eine Weltreise schleppen sollen – oder in die Opéra von Bordeaux, um ihr Lieblingsstück Romeo und Julia zu sehen. Als müsste er mit ihr noch einmal tanzen gehen. Oder sie in ein schickes Restaurant ausführen – eine Frau, die seit Monaten nur noch zu sich nahm, was aus den Schläuchen kam, mehr Überlebensration als Verpflegung. Machen Sie das Beste draus. Wenn nicht einmal ein Arzt gut damit umgehen konnte, über den Tod zu sprechen, dann wusste Damien auch nicht mehr weiter.
Aber je länger er mit Medizinern zu tun gehabt hatte in diesen letzten Monaten ihres Kampfes, desto sicherer war er sich geworden, dass nicht das perfekte Baccalauréat und die perfekte Unikarriere aus einem Menschen den besten Arzt machten. Andererseits: Vielleicht waren die Mediziner auch einfach nur überfordert von den immer gleichen unangenehmen Wahrheiten, die niemand hören wollte. Von der Vergänglichkeit. Dem immer irgendwann nahenden Ende. Und all der Trauer.
Damien sah auf den Sessel neben ihrem Bett. Nur ein paar Minuten, dachte er bei sich, als er ihre Stimme hörte.
»Mon fils …« Sie hatte lange keinen ganzen Satz mehr gesprochen, sei er auch noch so kurz, und ihre Stimme klang eingerostet. Die Worte aber kamen so klar aus ihrem Mund, dass sie Damien eine Gänsehaut machten. »Du bist hier …«
Er drehte sich zu ihr und suchte ihre offenen Augen, als Beweis dafür, dass sie wirklich gesprochen hatte. Aber ihre Lider waren so angeschwollen, dass es schwierig war, ihre Pupillen zu erkennen.
»Ich bin da, Maman«, sagte er und wollte sich in den Sessel setzen, doch sie sagte mit knarzender Stimme: »Non, mon cher, komm, komm, setz dich zu mir …«
Damien zögerte, weil er dieses Bett nicht berühren wollte, aber dann tat er es doch. Er setzte sich auf die Kante und spürte die weiche Matratze. Er konnte sie riechen, seine Maman, auch wenn sie wegen all der Medikamente und Desinfektionsmittel anders roch als früher. Er musste die Augen schließen. Ihre kleine faltige und so raue Hand griff nach seiner, und er spürte sogar einen leichten Druck, als sie seine Finger umfasste.
»So schön«, murmelte sie, leiser nun und so, als könnte sie zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder ruhig atmen. »Du hast so viel zu tun und kommst mich trotzdem immer besuchen«, sagte sie leise und langsam, »aber … aber lange musst du das nicht mehr.«
Damien beugte sich ein Stück hinab. Nun sah er, dass ihre Augen offen waren. Ihre Hand war kalt, obwohl die Bettdecke ihr bis unters Kinn gezogen war.
»Aber … Maman, sag das nicht, ich komme dich so gerne besuchen«, sagte er und lächelte, weil es stimmte. »Bitte, Maman, du sollst das nicht sagen …«, da sah er das Lächeln auf ihrem Gesicht, ein feines, ironisches Lächeln, das er von früher kannte.
»Wir wissen doch beide, dass es so ist«, sagte sie. »Noch ein paar Tage wird es gehen, aber ich spüre schon diese große, schwere Müdigkeit. Wie bei Papa. Damals habe ich es ja gesehen, dieses Blei, das plötzlich auf ihm lag. Dieses Blei, das ist der Tod.«
»Ich … Ich hoffe, dass du noch sehr lange bei mir bist«, sagte Damien und spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Er wollte sie wegwischen, aber seine Maman hielt seine Hand fest, fester, als er es ihr noch zugetraut hätte.
»Ich möchte gehen«, sagte sie leise, »und ich weiß, dass es besser ist. Ich habe damals, als dein Papa so krank war, auch gehofft, dass er noch lange lebt – weil ich mir mein Leben ohne ihn nicht vorstellen wollte. Oder konnte. Er war doch immer da gewesen.« Sie fing an zu husten. Er hörte den Schleim in ihren Lungen rasseln. Es dauerte...
Erscheint lt. Verlag | 5.9.2024 |
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Reihe/Serie | Luc Verlain ermittelt |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Cosy Crime • Erstickungstod • Frankreich • Krimi • Regiokrimi • Regionalkrimi • Sauternes • Weinbau • Weinkeller |
ISBN-10 | 3-455-01809-2 / 3455018092 |
ISBN-13 | 978-3-455-01809-7 / 9783455018097 |
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