«Man kann die Liebe nicht stärker erleben» (eBook)
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01846-4 (ISBN)
Oliver Fischer, geboren 1970, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und katholische Theologie. Er arbeitet als freier Journalist in Hamburg, unter anderem für «Geo Epoche» und «Merian». 2016 gründete er die Thomas Mann-Gesellschaft Hamburg, deren Vorsitzender er ist. Zudem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft.
Oliver Fischer, geboren 1970, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und katholische Theologie. Er arbeitet als freier Journalist in Hamburg, unter anderem für «Geo Epoche» und «Merian». 2016 gründete er die Thomas Mann-Gesellschaft Hamburg, deren Vorsitzender er ist. Zudem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft.
1. Schwabing 1899: Im Laboratorium der Moderne
Gut möglich, dass Thomas und Paul sich auf den Straßen von Schwabing schon einmal begegnet sind, Monate bevor sie sich in einem Münchener Salon näher kennenlernen. Vielleicht hat Thomas Paul sogar hinterhergeschaut, denn der junge Kunststudent ist genau sein Typ: blond, blaue Augen, volle Lippen, oft unbekümmert ein Lied vor sich hin summend.[10]
Und vielleicht fällt Thomas dann wieder ein, dass er Paul Jahre zuvor schon einmal getroffen hat: Eine Dresdener Freundin seiner Schwester hatte ihn zu einem Besuch bei Familie Mann in München mitgebracht. Die jungen Leute hatten damals sogar in der Wohnung der Manns Theater gespielt. Doch das ist Jahre her – eine wohl fast verblasste Erinnerung.[11]
Ihre Freundschaft beginnt erst jetzt, als das Jahrhundert endet, in den letzten Wochen des Jahres 1899. Thomas Mann ist 24, Paul Ehrenberg 23 Jahre alt – zwei junge Männer mit vielversprechender Zukunft: Paul besucht die renommierte Münchener Kunstakademie und studiert bei Heinrich Zügel, einem der innovativsten Lehrer der Hochschule. Thomas hat im S. Fischer Verlag einen ersten Band mit Novellen veröffentlicht; Kritiker schreiben, man müsse sich den Autor merken.[12]
Nicht nur ihr eigenes Leben, auch die Welt um sie herum ist in diesen Jahren voller Dynamik und Aufbruch. Zwar residiert in den Schlössern von Berlin und Potsdam nach wie vor Kaiser Wilhelm II., umsorgt von einem Hofstaat aus 3500 Bediensteten. Juden ist noch immer eine Laufbahn als Offizier, Professor oder Diplomat weitgehend versperrt. Und im Alltag ist der Kommandoton der Militärs allgegenwärtig, denn jeder ausgeschiedene Unteroffizier erhält eine Stelle bei der Polizei, der Bahn oder anderen Behörden.[13]
Doch das ist nicht das ganze Bild. Wie Historikerinnen und Historiker in den vergangenen Jahren gezeigt haben, ist Deutschland zu dieser Zeit auch ein Land der rasanten Modernisierung. Kurz vor 1900 rumpeln die ersten, noch kutschenartigen Automobile über die Straßen, bis zu 25 Stundenkilometer schnell. In Ämtern und manchen Wohnungen klingeln Telefone, über 100000 Anschlüsse gibt es schon. In vielen Städten eröffnen Warenhäuser, staunend fahren Kunden mit Rolltreppen und Aufzügen von Etage zu Etage – oder drängen sich draußen vor den Schaufenstern, erhellt von elektrischem Licht.[14]
Gesellschaftliche Gruppen machen sich bemerkbar, die bislang kaum gehört wurden: Frauen schließen sich in Vereinen zusammen, fordern Wahlrecht und Zugang zu Universitäten.
Juden richten 1893 den «Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens» ein, um dem immer bedrohlicheren Judenhass etwas entgegenzusetzen (wie ihn u.a. die 1879 ins Leben gerufene Antisemiten-Liga schürt). Der Berliner Arzt Magnus Hirschfeld sammelt eine kleine Gruppe um sich, die vorurteilsfrei über Homosexualität informieren will und die Abschaffung des Paragraphen 175 fordert.[15]
Ungeheuer jung ist Deutschland in dieser Zeit: Wie Thomas und Paul ist mehr als die Hälfte der Einwohner unter 25 Jahre. Jedes Jahr steigt die Zahl der Deutschen um gut eine halbe Million. Und immer mehr Menschen ziehen in die Metropolen, in denen Arbeiter in kurzer Zeit ganze Stadtteile hochziehen.[16]
Eines dieser neuen Viertel ist München-Schwabing – der Mikrokosmos, in dem Thomas Mann und Paul Ehrenberg leben und arbeiten. Einst ein Dorf nördlich der Stadt, ragen nun zwischen den letzten Bauernhöfen vier- oder fünfstöckige Mehrfamilienhäuser auf. Dienstboten mit Schirmmützen und Damen mit knöchellangen Kleidern eilen über Straßen, die oft erst halb fertig sind. Häuserzeilen enden abrupt, dahinter beginnen Wiesen und Schutthalden.[17]
Für zwei angehende Künstler ist die Großbaustelle Schwabing eine naheliegende Wahl. Die Mieten sind oft noch bezahlbar, und so haben sich neben Thomas und Paul weit über tausend Maler, Literaten, Journalisten und Musiker hier angesiedelt.[18]
Zu ihren Schwabinger Mitbürgern gehören Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin, die mit dem Blauen Reiter gut zehn Jahre später eine der größten Revolutionen der Kunst seit der Renaissance starten werden. Die Schriftstellerin Franziska Gräfin zu Reventlow wohnt hier, die offen polygam lebt und sich in Artikeln für die sexuelle Befreiung der Frauen einsetzt. Die Zeichner und Schreiber des Simplicissimus’ – darunter Frank Wedekind und Ludwig Thoma – verspotten Woche für Woche Kaiser, Kanzler und Prälaten.[19]
Dazu kommen zahlreiche Möchtegerngenies, Aussteiger und selbst ernannte Propheten, die abends in Künstlerkneipen wie dem Café Stefanie sitzen. Darunter viele Anhänger der Lebensreform-Bewegung, die – erschöpft von Hektik und Lärm der modernen Zeiten – nach einer Alternative zur technisierten Welt suchen. Sie hoffen auf neue Kraft bei Nackt- und Sonnenbädern, ernähren sich fleischlos und treiben kaum bekleidet Sport im Freien.[20]
Schwabing, das ist ein Laboratorium der Moderne, das Kreuzberg des Fin de Siècle – und Thomas und Paul sind mittendrin.
Thomas Mann lebt 1899 allein im Nordosten des Stadtteils in der Feilitzschstraße 5 (und damit nur eine Straße von Gräfin Reventlow entfernt). Das Haus gehört zu den vielen Neubauten des Viertels und ist noch nicht einmal komplett fertig. Aber der Englische Garten ist nahe. Nur zwei, drei Minuten läuft Thomas die leicht abschüssige Straße hinunter zum Park.[21]
In seiner kleinen Mietwohnung im dritten Stock steht ein Kanapee, auf dem er «tagelang hingestreckt» etwa Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung liest. Ein paar Schritte entfernt der Schreibtisch mit dem Porträt des von Mann hochverehrten Leo Tolstoi, von dessen Werk «Ströme von Kraft und Erfrischung» ausgehen (so wenigstens empfindet es Thomas).[22]
Das Bild dieses Mannes soll ihm wohl in den einsamen Arbeitsstunden helfen, in denen er mit seinem ersten Roman kämpft, den Buddenbrooks. Seit zwei Jahren arbeitet er an dem Buch, Hunderte eng beschriebene Seiten stapeln sich auf dem Tisch, viel mehr als geplant. Immerhin kommt langsam der Schluss in Sicht. Doch Thomas ist unsicher: Was wird der Verleger zu dem überlangen Werk sagen? Was die Leser? Wer wird sich für eine alte Familiengeschichte interessieren – jetzt, in diesen Jahren voller Aufbruch und Fortschritt?[23]
Wenn Thomas nicht am Schreibtisch sitzt, ist er mit seinem Fahrrad unterwegs. Es ist kein Hochrad – dessen Zeiten sind längst vorbei –, sondern ein modernes Tourenrad, das heutigen Modellen bereits ähnelt.[24]
Solche Räder gehören zu den Innovationen der Epoche. Sie sind die ersten technischen Fortbewegungsmittel, mit denen man individuell weite Strecken zurücklegen kann, bis zu hundert Kilometer pro Tag. Ein Versprechen von Freiheit und Ferne, das viele junge Leute begeistert, auch Thomas Mann.[25]
In seinem Lebensabriß schreibt er:
«Ich war in jenen Jahren ein so leidenschaftlicher Radfahrer, daß ich fast keinen Schritt zu Fuße ging und selbst bei strömendem Regen […] alle meine Wege auf dem Vehikel zurücklegte.»[26]
Fast täglich sehen ihn seine Nachbarn, wie er sich das Rad auf die Schulter wuchtet und vom dritten Stock hinunter auf die Straße trägt. Im Sommer radelt er nachmittags gerne allein, «ein Buch an der Lenkstange», in den gut 15 Kilometer entfernten Schleißheimer Wald, um dort zu lesen und – so darf man annehmen – von künftigem Ruhm zu träumen.[27]
Wenn er tatsächlich «alle seine Wege» mit dem Rad zurücklegt, dann auch den zu seiner Mutter Julia, die nur einen halben Kilometer entfernt in der Schwabinger Herzogstraße lebt. Die «Senatorin», wie sie genannt wird, war nach dem Tod ihres Mannes in der Hoffnung auf ein ungezwungeneres Leben von Lübeck ins Münchener Künstlerviertel gezogen. Dort wohnt sie nun mit ihren drei jüngsten Kindern. Thomas, ihr zweitältester Sohn, schaut täglich zum Mittagessen vorbei – kaum jemanden sieht der 24-Jährige so oft wie seine Familie.[28]
Auf dem kurzen Weg zu seiner Mutter überquert Thomas jedes Mal Schwabings Hauptachse, die Leopoldstraße. Manchmal muss er einen Moment warten, um die weiß-blaue Pferdetram vorbeizulassen, die alle paar Minuten durch die Pappelallee klappert. Doch ihre Zeit läuft ab, die Oberleitung für die elektrische Nachfolgerin ist Ende 1899 schon gespannt (so berichtet es der Maler Paul Klee, der in dieser Zeit in der Straße wohnt).[29]
Häufig muss Mann auch die Leopoldstraße in Richtung Innenstadt hinuntergeradelt sein bis zum Siegestor. Denn ganz in der Nähe dieser bajuwarischen Triumphbogenkopie liegt sein Arbeitsplatz: die Redaktion des Simplicissimus.[30]
Thomas Mann ist Ende 1899 nur Teilzeitschriftsteller. Im Hauptberuf arbeitet er als Angestellter bei einer der interessantesten Zeitschriftenredaktionen Deutschlands. Erst drei Jahre zuvor gegründet, ist der Simplicissimus das wohl bedeutendste Oppositionsblatt des Deutschen Reichs, bekannt für böse Karikaturen und einen scharfen Blick auf die...
Erscheint lt. Verlag | 12.11.2024 |
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Zusatzinfo | Zahlr. 4-farb. Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Biographie • Buddenbrooks • Deutsche Literatur • Deutsche Literaturgeschichte • Doktor Faustus • Drittes Reich • Erste Liebe • Exil • Große Liebe • Homosexualität • Identität • Künstlerbiografie • künstlerische Identität • Männerfreundschaft • München • Nationalsozialismus • Paul Ehrenberg • Schwabing • Simplicissismus • Soziale Normen • Thomas Mann |
ISBN-10 | 3-644-01846-4 / 3644018464 |
ISBN-13 | 978-3-644-01846-4 / 9783644018464 |
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