Leergut (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-492015-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leergut -  Jörg Maurer
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Von den Abenteuern eines vergesslichen Mannes Daniel Koch ist sportlich, freundlich und fühlt sich topfit. Dass er manchmal Sachen vergisst, kümmert ihn nicht, das passiert ja jedem mal. Dann aber sagt ihm seine Ärztin, dass er Alzheimer hat und der Verlauf der Erkrankung nicht aufzuhalten sei. Und tatsächlich, Daniel driftet sehr rasch immer mehr aus der Realität ab. Doch in dem Maße, in dem die ihm vertraute Welt verschwindet, tut sich eine neue auf: eine Welt mit verblüffenden, schrägen, komischen Geschichten. Und Jörg Maurers vergesslicher Held stürzt von einem Abenteuer ins nächste...

Jörg Maurer liebt es, seine Leserinnen und Leser zu überraschen. Er führt sie auf anspielungsreiche Entdeckungsreisen und verstößt dabei genussvoll gegen die üblichen erzählerischen Regeln. In seinen Romanen machen hintergründiger Witz und unerwartete Wendungen die Musik zur Spannungshandlung. All dies hat Jörg Maurer auch schon auf der Bühne unter Beweis gestellt. Als Kabarettist feierte er mit seinen musikalisch-parodistischen Programmen große Erfolge und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine inzwischen fünfzehn Jennerwein-Romane sind allesamt Bestseller. Sein Roman »Shorty« war ebenfalls erfolgreich. Jörg Maurer lebt zwischen Buchdeckeln, auf Kinositzen und in Theaterrängen, überwiegend in Süddeutschland.

Jörg Maurer liebt es, seine Leserinnen und Leser zu überraschen. Er führt sie auf anspielungsreiche Entdeckungsreisen und verstößt dabei genussvoll gegen die üblichen erzählerischen Regeln. In seinen Romanen machen hintergründiger Witz und unerwartete Wendungen die Musik zur Spannungshandlung. All dies hat Jörg Maurer auch schon auf der Bühne unter Beweis gestellt. Als Kabarettist feierte er mit seinen musikalisch-parodistischen Programmen große Erfolge und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine inzwischen fünfzehn Jennerwein-Romane sind allesamt Bestseller. Sein Roman »Shorty« war ebenfalls erfolgreich. Jörg Maurer lebt zwischen Buchdeckeln, auf Kinositzen und in Theaterrängen, überwiegend in Süddeutschland.

1


Daniel Koch hatte gerade die endgültigen Untersuchungsergebnisse erfahren. Er schloss die Tür der neurologischen Praxis hinter sich und stieg die frisch gewischte und noch feuchte Steintreppe hinunter. Daniel Koch nahm nie den Lift. Doch jetzt musste er höllisch aufpassen, wohin er seinen Fuß setzte. Eine derart niederschmetternde Nachricht, und danach auch noch ausrutschen – das wäre dann doch eins zu viel gewesen. Daniel Koch wunderte sich darüber, dass er die Diagnose so gefasst aufgenommen hatte. Er war weder in Schockstarre verfallen, noch war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen, wie es immer hieß. Der Befund der schmallippigen Neurologin hatte zwar seine allerschlimmsten Befürchtungen übertroffen, aber Daniel Koch war keiner, den das zu Boden warf. Noch in der Praxis hatte er sich geschworen, den ungleichen Kampf mit diesem heimtückischen Gegner aufzunehmen. Rasch trat er auf die Straße und sah sich um. Trotz der morgendlichen Stunde war die Fußgängerzone schon reichlich belebt. Tatkräftige Menschen eilten ihren Zielen entgegen, allesamt gekämmt, geschminkt, frisch rasiert, guten Mutes und voller Zukunftspläne. Daniel Koch blickte hoch zur graublauen Herbstkuppel, an die der große Schaufensterdekorateur versuchsweise einige Wölkchen geklebt hatte. Es war eigenartig. Die Diagnose ließ ihn vollkommen kalt. Sie berührte ihn nicht. Es war eher so, dass er sich die Hiobsbotschaft der Neurologin mit wachsendem Interesse angehört hatte, als ob es sich nicht um ihn, sondern um einen Fremden handelte, mit dem ihn nichts weiter verband als ein siebenseitiger ärztlicher Wisch mit Unterschrift. Daniel Koch warf einen Blick auf seine Fingerspitzen. Alter Schwimmerbrauch. Am Startblock vor dem Sprung immer auf die Finger gucken, hatte sein Trainer oft gesagt. Du kannst am ganzen Körper zittern wie Espenlaub, aber in den Fingern muss die Ruhe stecken. Spring gar nicht erst rein, geh gar nicht erst an den Start, wenn deine Finger nicht absolut ruhig bleiben. Oder hatte das ein Schach-Coach im Fernsehen gesagt? Ein Olympiasieger im Gewichtheben? Vielleicht war es auch ein Tanzlehrer bei Let’s Dance gewesen. Egal, seine Finger zitterten momentan jedenfalls nicht. Nicht im Geringsten. Er war gewillt, den Parcours zu betreten. Sein Gegner war der feigste und verkommenste Foulspieler im Reich der Krankheiten und Handicaps. Aber Daniel Koch stand bereit.

 

Als er den Blick wieder hob, fiel ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein kleiner Schreibwarenladen auf, der Zeitschriften, Tabakerzeugnisse und Buntstifte feilbot: Gitti’s Lädchen.

»Einfach alles aufschreiben«, hatte die Neurologin gesagt. »Immer Block und Bleistift bereithalten. In Griffweite. Und schämen Sie sich nicht, auch etwas Peinliches zu Papier zu bringen. Niemand wird Sie auslachen. Führen Sie Tagebuch?«

»Nein, damit habe ich mich eigentlich noch nie abgegeben.«

»Stichpunkte genügen.«

Er hatte sich im geräumigen Arztzimmer der Neurologin umgesehen. Es war nüchtern gehalten: keine Bilder, keine Fotos, keine Urkunden über bestandene Prüfungen, auch keine Kinderzeichnungen, nicht einmal die üblichen postmodernen Kunstdrucke, mit denen Akademiker ihren erlesenen Geschmack zu unterstreichen versuchten. Die Mappe mit dem Befund lag vor ihm auf dem Schreibtisch. Die Neurologin Sarah Gossberg saß stocksteif in ihrem Drehstuhl. Ihre Frisur war aus Beton, ihre Augen stachen kalt in die Luft. Ihren Hals umschlang ein enormer Seidenschal in Anthrazit. Als ob der Hals ihre empfindlichste und verwundbarste Stelle wäre. Alles in allem schien sie aber eine gute Ärztin zu sein, Daniel Koch meinte das nach den monatelangen Untersuchungen beurteilen zu können. Er hatte Vertrauen zu ihr gewonnen. Sie redete nicht drumherum, sie kam ohne Umschweife zur Sache.

»Demenz ist eine gerade noch geglückte Bruchlandung in eine neue Welt«, hatte sie ihm erklärt.

»Und was bringt mir das Aufschreiben?«, hatte er gefragt.

»Es ist eine gute Methode, Struktur in Ihren Alltag zu bekommen. Ihr Tagesablauf wird ab jetzt immer mehr aus den Fugen geraten. Auf diese Weise können Sie ihn aber festhalten. Sammeln Sie Geschichten. Fremde Geschichten und Ihre eigenen Geschichten. Erfundene Geschichten und wahre Geschichten. Helle und dunkle, runde und eckige. Sie werden sie alle noch gut brauchen können, glauben Sie mir.«

Sarah Gossberg und ihr allgegenwärtiger, wuseliger Assistent Mario Braun hatten ihm noch viel Glück gewünscht und ihn verabschiedet.

 

Daniel Koch betrat den Schreibwarenladen und schob sich durch Bastelbedarf, Schneekugeln und anderen Plunder. Bei der jungen Frau hinter der Ladentheke (Sonnenstudio, meterlange Fingernägel, pfundschweres Ohrgehänge) musste es sich wohl um Gitti höchstpersönlich handeln. Als er näher trat, griff sie, ohne dass er auch nur ein Wort von sich gegeben hätte, hinter sich, nahm einen Schreibblock mit Spiralbindung von einem Stapel, strich ihn mit der Hand glatt und reichte ihn über die Ladentheke.

»Macht zwei achtzig.«

Dann ließ sie eine Kaugummiblase platzen und musterte ihn. Sie musterte ihn verschwörerisch, frech und misstrauisch zugleich, wie er fand. Daniel Koch kramte in seiner Geldbörse. Im Laden roch es nach hundertvierundvierzig Zigaretten- und Zigarrenaromen, die miteinander in heftigem Clinch lagen. Er überlegte, warum sie ihm den Block einfach so gab, ohne dass er danach gefragt hatte. Oder hatte er vergessen, dass er beim Hereinkommen schon danach verlangt hatte? Vielleicht war es einer jener Aussetzer, wie sie in letzter Zeit öfter vorgekommen waren, und die ihn schließlich dazu gebracht hatten, eine Arztpraxis aufzusuchen. Gitti schob das Wechselgeld über den Tisch, er strich es ein.

»Warum wussten Sie, dass ich einen Schreibblock brauche? Sind Sie Hellseherin?«

Sie lachte, dass ihre Ohrenklunker weihnachtlich schepperten.

»Nein, ganz und gar nicht. Alle, die von Sarah kommen, kaufen erst einmal einen Schreibblock.«

»Sarah? Sie sprechen von meiner Neurologin, Sarah Gossberg? Woher wissen Sie –«

»Man hat von hier einen guten Blick auf das gläserne Treppenhaus gegenüber. Ich habe Sie aus dem dritten Stock runterkommen sehen, dort liegt die Praxis von Sarah. Also nix hellsehen – hingucken! Mein Lebensmotto. Außerdem: Als Sie dann so ratlos auf der Straße standen, sind Sie mir vorgekommen wie einer, der gerade eine fette Alzheimer-Diagnose verpasst bekommen hat.«

Alz-hei-mer. Daniel Koch schloss kurz die Augen und versuchte dabei zu ergründen, wie er auf diese giftigen drei Silben reagierte. Doch der Klang des Namens und die herannahende Katastrophe, die sich dahinter verbarg, berührten ihn immer noch nicht. Er war eher überrascht und verwundert, so wie man bei einem Zaubertrick Verblüffung, aber keinerlei Schrecken empfindet. Daniel Koch lächelte. Es war sein erstes Lächeln heute.

»Frau Gossberg empfiehlt allen Patienten tatsächlich, einen Schreibblock mit sich herumzuschleppen?«

»Allen. Ohne Ausnahme. Sie schwört darauf. Es ist sozusagen ihr Markenzeichen.«

Daniel Koch fand Gitti nicht unsympathisch, trotzdem wurde ihm das Gespräch jetzt lästig, wenn nicht sogar unangenehm. Die Schreibwarenhändlerin hatte ihn, sicherlich ohne es zu wollen, aus der schützenden Anonymität gerissen. Das konnte er momentan gar nicht brauchen, er wollte selbst entscheiden, wem er seinen Gesundheitszustand anvertraute. Und eine völlig Fremde war sicher nicht die Richtige dafür. Daniel Koch hatte die Hand schon an der Klinke, doch Gitti war auf Kommunikation gebürstet.

»Ich kann mich nicht beklagen, wissen Sie. Seit Sarah ihre Praxis dort drüben aufgemacht hat, gehen Schreibblöcke wie Hölle. Eigentlich braucht ja heutzutage keiner mehr welche, digitale Welt und so. Aber wegen ihr habe ich einen Riesenberg gekauft. Hoffentlich erzählt jetzt nicht irgendein Psychopfosten im Fernsehen, dass Geschichten aufschreiben genau das Falsche bei Alzheimer ist. Dass man sich damit auch noch die letzten Nervenzellen wegschreibt. Und ich armes Würstchen bleibe dann auf dem Stapel sitzen.«

»Wie auch immer: Ich wünsche Ihnen gute Geschäfte«, sagte Daniel Koch und öffnete die Tür.

»Warten Sie!«, rief sie ihm nach. »Ich habe noch etwas für Sie.«

Sie wedelte mit einem kreditkartengroßen Pappschild.

»Was ist das?«

»Ein sogenanntes Verständniskärtchen. Sie haben wahrscheinlich noch keines. Das werden Sie aber brauchen. Gibt es gratis dazu.«

Koch betrachtete die Karte:

Ich habe Demenz.

Haben Sie etwas Geduld.

Danke.

Präsentiert von: Gitti’s Lädchen.

Auf der Rückseite sollte man Name und Adresse eintragen.

»Zeigen Sie es her, wenn Ihnen danach ist«, sagte sie gönnerhaft. »An der Supermarktkasse, in der Straßenbahn, auf der Skipiste, in der Sauna, wo immer Sie wollen.«

»Danke, das werde ich tun. Aber jetzt: bis bald.«

»Einem meiner Kunden ist mal was Komisches passiert«, fuhr Gitti unbeirrt fort. »Er legt dieses Kärtchen in einem Restaurant auf den Tisch. Sein Gegenüber greift in die Tasche und holt genau das gleiche Kärtchen heraus. Haben die gelacht! Sie sind die verbleibende Zeit Freunde geblieben.«

Die verbleibende Zeit. Die Zeit bis zum Dahindämmern ohne Sinn und Zweck. Die Zeit bis zu einer leeren Hülle, die einmal ein Mensch war. Alzheimer. Es war nicht einfach ein Beinbruch. Es war ein irreparabler Schaden. Doch auch diese schrecklichen Aussichten berührten Daniel Koch immer noch nicht so, wie er das eigentlich erwartet und befürchtet hätte. Er schloss die Ladentür...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alzheimer • Bestseller-Autor • Geschenk • Geschichtenerzählen • hintergründiger Humor • humorvoller Umgang mit Demenz • imaginäre Welten • inneres Erleben Demenz • Sinnsuche • Spiel mit Erzählformen • Therapie • Trost • verblüffende Wendung • Vergessen • Welt im Kopf
ISBN-10 3-10-492015-X / 310492015X
ISBN-13 978-3-10-492015-3 / 9783104920153
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