Reise nach Laredo (eBook)
272 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-28083-0 (ISBN)
'In jedem Menschen steckt ein zurückgetretener König.' Karl hat sich in ein abgelegenes Kloster in Spanien zurückgezogen. Er ist krank und wartet auf sein Ende. Doch dann begegnet er dem elfjährigen Geronimo, und gemeinsam beschließen sie, davonzureiten, nachts, auf Pferd und Maulesel. Sie geraten in wilde Abenteuer, finden Weggefährten auf dem Weg nach Laredo. Karl lernt kennen, was er trotz Macht, Ruhm und Reichtum bisher nicht hatte: Freundschaft, Liebe, Unbeschwertheit und die Freiheit, die es bedeutet, nur im Moment zu leben. 'Reise nach Laredo' ist ein fantastischer, magischer Roman über das Loslassen, über das, worauf es im Leben ankommt - und vor allem eine mitreißende Geschichte.
Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt 'Alles über Sally' (Roman, 2010), 'Der alte König in seinem Exil' (2011), 'Grenzgehen' (Drei Reden, 2011), 'Selbstporträt mit Flusspferd' (Roman, 2015), 'Unter der Drachenwand' (Roman, 2018), 'Der Hahnenschrei' (Drei Reden, 2019) und 'Das glückliche Geheimnis' (2023). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Johann-Peter-Hebel-Preis (2010), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Joseph-Breitbach-Preis (2018), den Bremer Literaturpreis (2019), den in den Niederlanden vergebenen Europese Literatuurprijs (2019) und den Rheingau Literatur Preis (2023).
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„Eine skurrile, sprachlich brillant erzählte Eskapade. Darauf darf man sich wirklich freuen.“ Judith Hoffmann, ORF, 05.08.24
So gegen zehn Uhr am Vormittag in dem Hof, in dem sich die Sonnenuhr befindet, soll der Privatmann Karl mittels einer Hebevorrichtung in einen Zuber mit heißem Wasser gehoben werden. Sein Leibarzt, Henri Mathys, der glaubt sich auszukennen mit dem, was ratsam ist, murmelt verärgert:
»Das kann nicht gutgehen, das ist Selbstmord.«
So ein Bad ist ein Bett, ein Leintuch, ein Leichentuch, eine Leiter. Karl denkt: Der Tod könnte schön sein, wenn man gelebt hat.
Eine Zeitlang starrt er zu Boden, als versuche er wieder und wieder mit dumpfer Verwunderung zu begreifen, dass seine Beine ihn nicht tragen, wie sie ihn früher getragen haben. Dicht neben ihm, bereit zum Auffangen, steht wachsam der Sekretär, Willem Van Male, er weiß, dass man im Alter nicht fallen darf. Er wartet auf Karls nächsten Schritt, alle, die sich im Garten des Klosters eingefunden haben, warten auf den nächsten Schritt. Sie wissen, dass sich das Leben ändert.
Es ist ein schöner Tag für den Anfang. Der Wahnsinn des Sommers klingt ab. Im gleißenden Licht umschwirrt eine Fliege Karls Gesicht, er hat keine freie Hand, weil er an den Oberarmen festgehalten wird. Heftig bläst er durch die Nase, worauf ein Tropfen in seinen Bart fällt. Dann steht er wieder für einige Momente unbeweglich und versucht, die Fliege nicht zu beachten, er ist gut darin, Dinge nicht zu beachten. Die Fliege verschwindet als schwarzer Punkt im Gegenlicht.
Gebückt und steifbeinig wie ein Kavallerist nach mehreren Tagen im Sattel setzt Karl einen Fuß vor den anderen. Er ist jetzt bei der Hebevorrichtung, die sein Uhrmacher Juanelo Turriano entworfen hat, um das Unvermögen von Karls Beinen auszugleichen: eine lange Stange, die mittig in einer zweieinhalb Meter hohen, in den Boden eingelassenen Gabel aufliegt. Unter dem hinteren Ende der Stange stehen drei Knechte, die himbeerfarbene Mütze eines der Knechte verleiht der Szene etwas Absonderliches. Karl hätte im Traum nicht an so eine Mütze gedacht. Seltsam, dass immer etwas ganz anders ist als erwartet. Warum eigentlich? Wozu? Wer kann das beantworten?
Die Hände der Knechte sind klobig wie in der Bauernsage, sie greifen in Riemen, die zu der Stange hinaufführen. Am vorderen Ende hängt ein lederner, nach Art einer Schaukel gefertigter Sitz, in den Karl sich sinken lässt, nachdem sein Leibdiener ihm die blutigen Binden von den Beinen und den schwarzen Umhang von den Schultern genommen hat. Karl klammert sich mit beiden Händen an die nach oben laufenden Seile, er versucht das Zittern der knotigen Finger zu unterdrücken, die Adern in den Händen schwellen an, die Gelenke sind von der Gicht zerfressen.
Alles an diesem Mann ist merkwürdig, auch seine Nacktheit, als habe er es längst verlernt, sich unter den Augen der anderen befangen zu fühlen. Er weiß, dass alle ihn anstarren und sich Gedanken machen über seinen verbrauchten Körper, das stört ihn nicht, es ist ihm lebenslange Gewohnheit, keinen schönen Anblick zu bieten.
Während er langsam in die Luft gehoben wird, denkt er, die Menschen verstehen nichts von Nacktheit, deshalb muss man den Körper verhüllen. Aber wenn man alles verhüllen wollte, wovon die Menschen nichts verstehen, was bliebe dann von der Welt? Karl weiß, dass die Entblößung das Unvollkommene am Menschen zum Vorschein bringen soll, bei ihm ganz besonders, das eigentliche Wahre. Es geschieht dies in dem sicheren Gespür, dass Wahrheit und Schönheit oft nichts miteinander zu tun haben. Schönheit ist selten wahr und Wahrheit selten schön. Leider. Aber das Hässliche gewinnt bisweilen eine gewisse Erhabenheit, wenn es unverhüllt gezeigt wird, sine ornamentum. Karl denkt: Soll mich sehen, wer will.
In der Tat ist das Publikum zahlreich. Das Bad bringt etwas Abwechslung in die endlosen, langweiligen Tage, in den sturen Rhythmus einer ans Klosterleben angelehnten Ordnung. Die lähmende Atmosphäre der vergangenen anderthalb Jahre ist konzentriert in einem Moment von wenig Belang: Alle Blicke sind auf denjenigen gerichtet, der blicklos sitzt. Aber man könnte hier bald jeden beliebigen Augenblick herausnehmen mit demselben Fazit, dass alle Blicke auf denjenigen gerichtet sind, der blicklos sitzt. So vergeht die Zeit.
Das Manöver des Hochhebens vollzieht sich mit unnatürlicher, beinahe schmerzhafter Behutsamkeit. Alles geschieht in äußerster Anspannung, die verhalten vorgebrachten, den Vorgang koordinierenden Kommandos, die Muskelkontraktionen der Knechte. Oberst Luis Quijada, der Majordomus, testet zum wiederholten Mal die Temperatur des Wassers, entweder ist er unschlüssig oder er hält einen plötzlichen Temperaturwechsel für möglich. Langsam schwebt Karl durch die milde Septemberluft, seine geschwollenen Beine, auf denen die Krampfadern ein bläuliches Geflecht aus krakeligen Linien und Knoten bilden, hängen schlaff nach unten, weiß grundiert, haarig, im harten Kontrast zum entzündlichen Rot der von Gicht gekrümmten Zehen. Karls Kopf ist herabgesunken, das Kinn auf der faltigen, hängenden Altmännerbrust. Wäre nicht zwischendurch ein zustimmendes Brummen zu hören, könnte man meinen, der Mann döse vor sich hin.
In der zurückliegenden Nacht hat Karl fast nichts geschlafen. Einmal eingeschlafen, war er in dunkle Traumschächte gefallen, und noch im Fallen hatte er mit den Mächten der Finsternis gerungen. Mühsam sich hinaufkämpfend, war er in den nächsten Traumschacht gestürzt, immer aufs Neue, bis er sich, wach liegend, dem Wahnsinn nahe gefühlt hatte, erschöpft, als habe er die ganze Nacht gegen sich selbst Karten gespielt um den Einsatz, dass der Verlierer sterben muss.
Wie an jedem anderen Tag verrichtete er in der Früh als erstes seine Gebete, und während des Betens war ein so trauriger Mief aus seinem Brusthaar hochgestiegen, ein Geruch nach Alter und Enttäuschung, dass Karl dem Kammerdiener aufgetragen hatte, man solle Vorbereitungen treffen für ein Bad im Garten. Der Kammerdiener, erschrocken über Karls Aussehen, schaltete den Leibarzt ein, Henri Mathys — der hielt einen Vortrag über die Gefahren des Waschens, das Waschen sei ein Vergnügen, das man jederzeit den andern überlassen solle, es sei nichts, was das Dasein verlange. Doch Karl, der seit Wochen nur mit Puder abgerieben worden war, in seiner kuriosen Dickköpfigkeit, er hat nun einmal einen solchen Charakter, er besitzt eine besondere Ader, Dinge anzufangen, von denen man später sagen würde, sie seien schiefgegangen — er ließ es sich nicht ausreden. Lieber wolle er, was an ihm sterblich sei, waschen, als diesen Geruch den ganzen Tag hinter sich herzuziehen wie eine Fahne. Und natürlich, es war etwas dran, es stieg ein starker Geruch von Karls Haut auf, ein Geruch, bei dem man meinen konnte, da schwitze einer die Alpträume aus, die er in der Nacht geträumt hat.
Mathys verwies auf das Wechselfieber, das vor einigen Tagen zurückgekommen war. Das Fieber meldete sich ab und zu, es kam und ging wie eine Mutter, die Branntwein trinkt, wie ein halbzahmer, manchmal zum Haus schleichender Fuchs. Aber so lange das Fieber nicht schlimmer wurde, wollte Karl es nach Möglichkeit nicht beachten, es war sinnlos, mit Mathys darüber zu debattieren, er fühlte sich nicht fiebrig, nur matt.
Oberst Quijada senkt den rechten Arm zum Zeichen, dass man Karl in den Zuber herablassen solle, und Karl sieht im Ärmelloch von Quijadas Jacke das leuchtend gelbe Innenfutter. Absinkend senkt auch er wieder den Kopf, immer tiefer, seine Zehen nähern sich der Wasseroberfläche. Dampf legt sich an den schlaffen Körper. Die Aufregung legt sich ebenfalls. Karl vernimmt Tuscheln, er verspürt ein kurzes Verlangen, den Kopf in Richtung des Tuschelns zu wenden, kann sich aber nicht aufraffen.
Es sind die abseits wartenden Frauen, die das heiße Wasser bereitet haben, sie stehen mit roten Händen und beobachten den Vorgang. Ihre Körper stecken in groben Kleidern, knöchellang, aber kurz genug, um das Arbeiten nicht zu behindern. Die Frauen sind jung, auch ziemlich hübsch, haben kräftige, immer in Bewegung befindliche Arme, es sei denn, ein Arm hält den andern fest. Jetzt, in diesem Moment, reden sie mit ausholenden Gesten, damit die rot angelaufenen Hände schneller abkühlen. Karl nimmt die Frauen beiläufig wahr, sein Kopf ist noch immer ganz wirr. Was die Frauen über ihn reden? Es interessiert ihn nicht. Es interessiert ihn natürlich schon, es sind die Dinge, die einem niemand ins Gesicht sagt, die interessant zu wissen wären. Doch...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abenteuer • Erkenntnis • Freundschaft • Kaiser Karl V. • Loslassen • Reise • Rücktritt |
ISBN-10 | 3-446-28083-9 / 3446280839 |
ISBN-13 | 978-3-446-28083-0 / 9783446280830 |
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