Die Frauen von Maine (eBook)
496 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12348-7 (ISBN)
J. Courtney Sullivan ist eine gefeierte Bestsellerautorin und Journalistin. Ihre Bücher wurden in über 17 Sprachen übersetzt und haben über eine Million Exemplare verkauft. J. Courtney Sullivan lebt mit ihrer Familie in Massachussetts.
J. Courtney Sullivan ist eine gefeierte Bestsellerautorin und Journalistin. Ihre Bücher wurden in über 17 Sprachen übersetzt und haben über eine Million Exemplare verkauft. J. Courtney Sullivan lebt mit ihrer Familie in Massachussetts. Henriette Zeltner-Shane übersetzt Sachbücher, Belletristik sowie Kinder- und Jugendliteratur. Ihre Übersetzung von »The Hate U Give« wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in München und Tirol. www.zeltner.de Monika Köpfer war viele Jahre als Lektorin tätig und übersetzt heute aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Zu ihren Autor*innen zählen Mohsin Hamid, J. L. Carr, Richard Russo und Milena Agus.
Prolog
Das Haus, seit Langem verlassen, hatte Geschichten zu erzählen. Das Haus war ein Widerspruch in sich selbst. Gewiss einst geschätzt und geliebt, war es jetzt dem Verfall überlassen.
Jane hatte es zunächst vom Wasser aus erblickt. Sie war damals siebzehn und erzählte den Teilnehmern einer Sonnenuntergangstour an Bord von Adams’ Hummerboot etwas über die Gegend.
Drei Monate zuvor, an einem Freitag Ende April, wurde sie zum ersten Mal ins Büro des Rektors gerufen. Mit Herzklopfen ging sie durch die verwaisten Flure. Ihre Schritte hallten auf dem Linoleumboden wider, auch wenn sie sich noch so bemühte, leise aufzutreten, und das war ihr peinlich. Damals hatte Jane die Angewohnheit, so wenig Raum wie möglich einzunehmen. Beim Gedanken an das, was sie womöglich falsch gemacht haben könnte, bekam sie rote Wangen.
Die Sekretärin, eine mollige Frau mit Kraushaar, die unter einer nackten Leuchtstoffröhre saß, grinste hinter ihrem Schreibtisch, als Jane eintrat. Aufmunternd deutete sie auf die offenstehende Tür des Schulleiterbüros, und Jane fragte sich, ob es ihr ein sadistisches Vergnügen bereitete, wenn sie durch die dünne Wand hindurch hörte, wie ein Teenager wieder einmal seine wohlverdiente Strafe bekam.
Dem Rektor gegenüber hatten Janes Englisch- und Sozialkundelehrer Platz genommen. Auch sie lächelten breit. Sie hätten sie herbestellt, sagte der Rektor, weil sie eine großartige Nachricht für sie hätten. Jane sei eine von fünfundzwanzig Prädikatsschülern im Bundesstaat Maine, die ausgewählt wurden, um an einem Sommerprogramm am Bates College teilzunehmen. Sehr prestigeträchtig, sagte er. Eine unglaubliche Gelegenheit. Das würde ihr, wenn sie sich nächstes Jahr um einen Studienplatz bewerbe, einen enormen Vorteil verschaffen. Sie habe die Gelegenheit, ein Seminar zu besuchen, das ihr auf die benötigten Scheine an einem College angerechnet würde, und könne sich in ein Thema ihrer Wahl vertiefen, und zwar auf einem Niveau, das weit über einen Leistungskurs hinausgehe. An diesem oder am nächsten Tag werde ihre Mutter einen Brief mit weiteren Details erhalten. Aber sie hätten es einfach nicht erwarten können, es Jane persönlich zu verkünden.
Janes erster Gedanke war, sie wünschte, es ihrer Großmutter erzählen zu können. Doch stattdessen ging sie nach Hause und wartete darauf, dass ihre Mutter auf den Brief zu sprechen kam.
Fünf Tage vergingen, ohne dass das Thema angeschnitten wurde. Sobald Jane nachmittags von der Schule nach Hause kam, ging sie als Erstes die Post auf dem Küchentresen durch, fand jedoch keinen Brief von der Schule. Bange malte sie sich aus, wie ihre Mutter ihn vor ihr verbarg oder ihn verbrannt oder weggeschmissen hatte.
Als Jane es nicht länger aushielt, fragte sie ihre Mutter, ob sie den Brief bekommen habe.
»Ach ja«, sagte diese in beiläufigem Ton. »Ich weiß nicht, Jane. Das kostet bestimmt einen Haufen Geld. Für mich klingt das nach einem Schwindel.«
Jane erklärte ihr, dass das Programm kostenlos sei, die Bücher, ja selbst die Busfahrten und alles andere würden bezahlt.
»Nichts ist je kostenlos, Jane. Sie nützen dich aus.«
»Inwiefern?«, fragte Jane empört.
»Du müsstest dir trotzdem einen Sommerjob suchen. Du kannst dich nicht davor drücken.«
»Habe ich mich je vor etwas gedrückt?«, sagte Jane und fügte, vor sich hinmurmelnd, hinzu: »Ich kann es nicht erwarten, von hier wegzukommen.«
»Ach ja, wo willst du denn hin? Gib mir einen Stift, dann skizziere ich eine Landkarte, und du zeigst es mir.«
Jane ging in ihr Zimmer, das sie mit ihrer älteren Schwester teilte, und schlug die Tür hinter sich zu. Holly lag auf dem Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Sie sah nicht auf.
Janes beste Freundin Allison backte für sie Glückwunsch-Brownies und schenkte ihr ein Set mit ihren Lieblings-Tintenrollern. Die Freundschaft mit Allison bewies, dass sehr viel im Leben auf Glück hinauslief. Vermutlich hätte Allison nie einen Grund gehabt, mit Jane zu sprechen, wäre ihnen in der neunten Klasse nicht ein gemeinsamer Spind zugewiesen worden, dem Jahr, in dem Janes Großmutter gestorben und Jane mit ihrer Mutter und Schwester in deren Haus in Awadapquit gezogen war.
Davor hatten sie in einer Mietwohnung in Worcester, Massachusetts, gewohnt, zusammen mit dem Exfreund ihrer Mutter. Eine unangenehme Wohnsituation. Die beiden hatten einige Monate zuvor Schluss gemacht, aber keiner von ihnen wollte ausziehen. Jane und Holly mussten quasi auf Zehenspitzen um ihn herumschleichen, wenn er auf dem Sofa saß, das er fast rund um die Uhr für sich vereinnahmte. Zwar war ihre Mutter froh, als sie dieser Situation endlich entkommen konnte, schien aber trotzdem mit dem Haus zu hadern. Es war ein Geschenk, das sie nicht zurückweisen konnte, das sie jedoch an den Heimatort fesselte, dem sie für immer den Rücken hatte kehren wollen.
Jane war es schleierhaft, warum Allison sich bemühte, sie aus der Reserve zu locken, ihr so viele Fragen stellte und sie sogar zu sich nach Hause einlud. Alle auf der Schule kannten einander von Kindesbeinen an, schien es, und alle wollten Allisons beste Freundin oder bester Freund sein. Doch aus irgendeinem Grund entschied sie sich ausgerechnet für Jane, den Nerd, die Neue, die schon morgens an der Bushaltestelle Romane las, nicht nur, weil sie Romane liebte, sondern auch um zu vertuschen, wie einsam sie war.
Allisons Eltern hatten ein gutgehendes Bed and Breakfast. Sie saßen in jedem Gremium, jedem Komitee des Städtchens. Dienstagabends luden sie zu Bingo-Abenden im Feuerwehrhaus ein und halfen im Winter beim Pfannkuchen-Frühstück in der Schule mit. Allisons Vater trainierte eine Baseball- und eine Hockey-Mannschaft. Sie waren überaus aktiv. Und dennoch gaben sie sich immer erfreut, Jane zu sehen. Sie erkundigten sich nach ihrer Familie, vor allem Betty, Allisons Mutter, die im Gegensatz zu Janes eigener Mutter stolz auf sie zu sein schien.
In den drei Jahren, die sie einander schon kannten, hatte Jane öfter bei Allison zu Hause zu Abend gegessen als bei sich zu Hause. Nie hielten sie sich bei Jane zu Hause auf, eine unausgesprochene Abmachung, für die sie zutiefst dankbar war.
Ihre Mutter behauptete immer, überlastet zu sein, wobei Jane schleierhaft war, wovon. Anscheinend war sie unfähig, mit den Anforderungen des Lebens zurechtzukommen, die andere Erwachsene ganz selbstverständlich meisterten. Wenn die Leute sie fragten, welchen Beruf ihre Mutter ausübe, log Jane. Sie sagte, ihre Mutter sei Buchhalterin, denn das war sie tatsächlich einmal gewesen, wenngleich vor vielen Jahren, in einer Zeit, an die sich Jane nicht erinnern konnte. Noch immer redete ihre Mutter bisweilen davon, als könnte sie ihren früheren Beruf jederzeit wieder aufnehmen.
Ihr gegenwärtiger Job, sofern man es so nennen konnte, bestand darin, dass sie Garagen-Flohmärkte abklapperte, um die Sachen, die sie dort aufstöberte, anschließend mit einem winzigen Gewinn wiederzuverkaufen. Samstags und sonntags ging sie auf Stöbertour. Am Montag brachte sie ihre Schätze dann zu verschiedenen Secondhandläden und Händlern, in der Hoffnung, Profit zu machen. Den Rest ihrer Zeit verbrachte sie damit, auf dem schnurlosen Apparat mit dem jeweiligen Mann zu telefonieren, den sie gerade datete, Bier dabei zu trinken und in der Zeitung die Termine der kommenden Flohmärkte einzukringeln. Oder am Küchentisch den Plunder, den sie gekauft hatte, zu sortieren.
Das Zeug, das sie nicht verkaufen konnte, hortete sie in Küche und Wohnzimmer, sodass alles heillos vollgestopft wurde. Jede Arbeitsfläche war zugestellt mit Schüsseln voller alter Wahlkampf-Buttons, Ohrclips, Baseballkarten, Batterien und Netzkabeln, die zu keinem Gerät passten. Auf dem Rasen vor dem Haus lagerten unter blauen Plastikplanen dreibeinige Couchtischchen und Fahrräder ohne Ketten und weiß Gott, was noch alles.
An ihrem ersten Tag begleitete Allison sie mit dem Bus nach Bates, weil Jane so aufgeregt war. Danach absolvierte sie jeden Werktag allein die neunzigminütige Busfahrt zu dem vornehmen Campus mit den roten Backsteingebäuden und dicht belaubten Bäumen. Auf der ganzen Strecke hin und zurück las Jane, und ein so intensiver Stolz erfüllte sie, dass sie bisweilen fürchtete, andere könnten es wahrnehmen wie einen Geruch.
Sie hatte sich für das Seminar mit dem Titel »Frühe Schriftstellerinnen« entschieden. Die Dozentin, eine Frau um die sechzig mit Bubikopf, schrieb in der ersten Stunde an die Tafel: Die meisten Leben gehen an die Zeit verloren. Sie nannte die Namen von Frauen aus der Vergangenheit, bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück, die ihre Lebensgeschichten zu einer Zeit aufgeschrieben hatten, als es für Frauen verpönt war, überhaupt zu schreiben. Indem sie das taten, lebten sie in ihren Werken fort.
Dieser Gedanke gab Jane Auftrieb. Sie verschlang die Gedichte von Lucy Cavendish und die detailreichen Tagebücher von Anne Clifford.
In ihrer vierten Woche des Sommerprogramms gab es mittwochnachts ein schweres Gewitter. Jane liebte Blitz und Donner. Das Bettlaken über den Kopf gezogen, las sie bis Mitternacht und lauschte dem Regen. War glücklich. Zweimal fiel der Strom aus, ging aber kurz darauf wieder an.
Am nächsten Morgen sah sie auf dem Weg zur Bushaltestelle mehrere umgestürzte Bäume, die dem Unwetter zum Opfer gefallen waren. Aber der Himmel war strahlend blau, als hätte es nie ein Gewitter gegeben.
An diesem Morgen kam sie recht früh in Bates an. Auf dem Weg zum Klassenzimmer hörte sie, wie ihre Dozentin mit jemandem redete.
»Dieses Mädchen, Jane, ist viel klüger und neugieriger als die meisten meiner Studenten im zweiten und dritten Studienjahr«, sagte sie. »Aber alle...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2024 |
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Übersetzer | Henriette Zeltner-Shane, Monika Köpfer |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amerikanische Literatur • Atlantik • atlantik küste • Bestseller • Bestsellerautorin • Charlotte Link • Elizabeth Strout • Familiengeschichte • Geschenk für Freundin • Haus • Klippen • Lesefutter • Literatur • Lucinda Riley • Maine • Monika Peetz • Mütter und Töchter • Neuengland • neuerscheinung 2024 • Neues Buch 2024 • New York Times-Bestsellerautorin • Sarah Winman • Schwestern • Sommer in Maine • Unterhaltung • USA • Weihnachtsgeschenk Mama • zum Mitfühlen |
ISBN-10 | 3-608-12348-2 / 3608123482 |
ISBN-13 | 978-3-608-12348-7 / 9783608123487 |
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