Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer (eBook)
176 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-616-9 (ISBN)
Francesca Maria Benvenuto, geb. 1986 in Neapel, schloss ihr Jurastudium mit einer Promotion in Internationalem Strafrecht ab. 2012 setzte sie ihre Ausbildung an der Sorbonne fort und arbeitet seitdem als Anwältin in Paris. Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer ist ihr erstes Buch.
Francesca Maria Benvenuto, geb. 1986 in Neapel, schloss ihr Jurastudium mit einer Promotion in Internationalem Strafrecht ab. 2012 setzte sie ihre Ausbildung an der Sorbonne fort und arbeitet seitdem als Anwältin in Paris. Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer ist ihr erstes Buch.
Den 23. Oktober im Jahr 1991
Jedenfalls heiß ich Zeno, was ein komischer Name ist.
Erstens, weil er mit Z anfängt, dem letzten Buchstaben im Alfabet.
Ich hätt mir nen andern gegeben, der einem Angst einjagt, wie Rambo oder was Amerikanisches.
Oder einen, der mit A anfängt, dem ersten Buchstaben, der sich im Alfabet für den allertollsten hält.
Aber ihr habt gesagt, Professoressa, Zeno ist ein schöner Name.
So heißt ein berühmter Typ in einem Buch, habt ihr gesagt. Der ununterbrochen raucht, genau wie ich, und einfach nicht aufhörn kann, obwohl er eigentlich will.
Der arme Typ is ja noch schlimmer dran als ich.
Ich versuchs nicht mal, weil mit ner Zigarette ist man wer, sonst wüsst ich gar nicht, wo ich die Hände hintun soll. Ich rauch, seit ich elf bin.
Ich soll das Buch über den »Raucher Zeno« lesen, mit dem Rauchen aufhören und an meine Gesundheit denken, habt ihr gesagt.
Aber da hab ich jetzt echt keine Zeit für, ich les das später. Versprochen, keine Sorge.
Also, ich sitz hier drinnen, was das Gegenteil von da draußen ist.
Ich sitz im Jugendknast von Nisida, weil ich hab ein umgebracht – abgeknallt, genauer gesagt.
Ich sag das extra, weil fürs Umbringen gibts nicht nur Pistolen, auch Messer, die bloßen Hände, Hände mit Handschuhen, ne Bombe, ein Fußtritt ins Gesicht. Wer einen umbringen will, hat viel Auswahl, wer sterben muss, eher weniger.
Ich hab einfach drei Schüsse abgefeuert, und der is tot umgefallen.
Ich saß auf meinem Roller, es war echt heiß. Ich bin gleich abgehauen, mitten durch Forcella, aber sie habn mich trotzdem geschnappt, weil alle haben mich gesehen und es war morgens.
In der Via Speranzella haben sie mich erwischt. Ein paar Stunden später habn sie es der Mamma gesagt, aber ich war nicht dabei.
Ich hab keine Ahnung, wie der Typ heißt, den ich umgebracht hab, vielleicht hatte er einen schönen Namen, besser wie meiner.
Der wollte mich erschießen, aber ich war schneller; mit der Knarre kenn ich mich aus, wers mir gezeigt hat, das kann ich aber nicht sagen.
Wie ich hier angekommen bin, hat mir die Vogelscheuche, also die Nonne im Gefängnis, gesagt, ich hätt den umsonst ermordet, weil der ist jetzt frei, aber ich sitze.
Kann mir das mal einer erklärn: Wärs etwa besser, ich wär tot?
Ich hab der Vogelscheuche gesagt:
»Keine Ahnung, ob der jetzt wirklich frei ist! Vielleicht gibts danach auch noch nen Knast, ihr könnt das gar nicht wissen, ihr Vogelscheuche. Ihr seid ja nicht tot. Leider. Zum Teufel mit euch!«
Da sah die Vogelscheuche aber alt aus. Mit dem »danach«, das soll ich besser Don Vicienzo fragen, hat sie gesagt, den Gefängnisseelsorger. Aber der ist sowieso ein Lügner. Nichts als Lügen erzählt der.
Für mich ist »Danach«, was nach dem Tod kommt.
Und das hat noch keiner gesehn, nicht mal die Pfaffen. Da war ja noch keiner, die denken sich nur Schwachsinn aus.
Und darum geht mir das Danach am A. vorbei, Professoressa.
Wir müssen ans Heute denken, basta.
Sie habn mich nach Nisida gesteckt, was mir echt nicht passt, das ist nämlich ne Insel. Wie Sizilien, aber winzig, und da gibts keine Stadt.
Ich wollt eigentlich nach Santa Maria Capua Vetere, weil der Knast liegt an einer Straße und nicht am Meer.
In Santa Maria Capua Vetere könnt ich Zettel verschicken, wie ich Bock hab. Ich könnt sie durchs Fenster schmeißen, die Antwort pfeffert mir dann einer vom Bürgersteig geradewegs ins Gesicht.
Da könnt ich sogar weiter Geschäfte machen, aber das erklär ich besser nicht.
Und ich könnt meiner Süßen, also meiner Freundin, Küsschen schicken. Von Natalina erzähl ich euch später.
Aber sie habn mich auf diese gottverlassene Insel hier gesteckt.
Dem Direktor hab ich gesagt, wenn in Santa Maria Capua Vetere ein Platz frei wird, muss er mich da unbedingt hinschicken und nicht den vermaledeiten Totore, ders echt nicht verdient hat.
Außerdem kommt Totore sowieso nächstes Jahr raus und nach Hause.
Und ich bin erst fünfzehn und noch zweieinhalb Jahre hier, Tag für Tag, mit den anderen Minderjährigen und dem Meer.
Und danach, genauer gesagt am 3. August 1994, steckt ihr mich nach Poggioreale, Direttò, das wisst ihr genauso gut wie ich! So stehts geschrieben, und was geschrieben steht, is immer beschissen. Das ist also euer Geschenk, wenn ich volljährig werd.
Das Meer in Nisida ist wirklich zu nix zu gebrauchen.
Was solln wir damit? Wir brauchen was, was zu gebrauchen ist, sonst können wir uns irgendwann nur noch aufhängen, und das ist doch wohl nicht gerecht.
Wir dürfen nichmal drin baden, in dem bekackten Meer, weil ihr Angst habt, dass wir abhauen.
Wir dürfen es nur angucken.
Ich schwör, ich kann nichmal schwimmen, ich würd nicht abhauen. Ich geh nicht weiter rein, wie wo ich stehn kann. Und nur mit Luftmatratze, Schwimmärmchen und so.
Direttò, für den Fall, dass ihr das lest und es in Santa Maria Capua Vetere einen freien Platz gibt, sagt mir einfach bescheit, ich steh jederzeit bereit.
Mamma ist eine Nutte.
Tschuldigung, Professoressa, aber ihr wisst ja, das stimmt, und wenn das jetzt vulgär ist, das ist nunmal ihr Beruf, anders kann ich das nicht sagen.
Keine Ahnung, ob sich die Leute wegen sowas aufregen.
Aber wenn ich alles aufschreiben soll, dann kann ich das nicht verheimlichen, dass Mamma anschaffen geht. Das ist wichtig.
Ist doch genauso eine Arbeit wie andere. Mamma macht das jedenfalls mit viel Würde.
Aber eigentlich weiß ich gar nicht, ob sie das noch macht oder aufgehört hat. Sie wird älter, und wenn die Kerle sie angucken, dann nicht mehr unanständig, eher mitleidig.
Jedenfalls ist Mamma nicht aus Berufung Hure geworden, das will ich ein für alle mal klarstellen, weil es gibt Frauen, die träumen da schon als Kind von. Ich will aber niemand verurteilen, jeder brennt für irgendwas.
Seit mein Vater im Knast sitzt, ist Mamma Hure, um Cash zu verdienen für sich und uns, ihre Kinder.
Doch sie steht da nicht als Einzigste in den Gassen.
In Forcella, dem Viertel, wo wir wohnen, stehen viele Huren, das können wir gar nicht verheimlichen.
Die kann man überall sehen.
Die stehen da, vor ihren Häusern, zu festen Zeiten. Alle kennen die, schon die Babys. Und vor allem die aus den Reichenvierteln, die so tun, als würden sie das nicht wissen, und allen erzählen, es gibt nur Mütter und Ehefrauen.
Aber das stimmt nicht.
Alle wissen, es gibt auch die andern.
Ich bin froh, dass Mamma auch noch das andere ist und alles drei zusammen schafft.
Seit ich hier bin, hab ich leider nix mehr von Mamma gehört, und das is jetzt schon über ein Jahr.
Aber ihr habt gesagt, Professoressa, Weihnachten holt sie mich für zwei Tage nach Hause, Heiligabend und am 25., und das ist gut, weil dann hat sie mich noch nicht vergessen.
Seine Kinder, sagt ihr immer, die kann man nicht vergessen.
Aber das stimmt nicht, die Zeit vergeht genauso für eine Mamma, die hat ihr eigenes Leben und ihre Sorgen. Ihr habt eure Tochter immer vor Augen, die könnt ihr nicht vergessen.
Aber meine Mamma nicht.
Wer weiß, vielleicht vergisst sie erst mein eines, dann mein anderes Auge, meine Nase, die Beine, die Arme, und am Ende muss sie mich erst wieder mühsam in ihrem Hirn zusammenpuzzeln. Ich hoffe, manchmal guckt sie ein Foto von mir an und frischt ihre Erinnerung auf.
Aber bei meinem Vater, da is es mir scheißegal, ob er mich vergisst.
Wer weiß, wo der überhaupt ist.
Ich weiß es natürlich, genau wie ihr.
Irgendwann wissen es doch immer alle.
Die Sozialarbeiterin hier, eine Idiotin, sagt immer, ich soll dem schreiben, meinem Vater.
Einen Brief.
Ich tu dann so, als tät ich nicht schreiben können. Bitte sagt ihr nicht, dass das nicht stimmt.
Ihr habt gesagt, Professoressa, dass die Sozialarbeiterin vielleicht dumm ist, aber eigentlich recht hat. Darum hab ich euch versprochen, dass ich Papà einen Brief schreib.
Aber nich jetzt.
Erst hat er in Poggioreale im Gefängnis gesessen, dann habn sie ihn nach Bergamo gesteckt, auch in den Knast. Er ist nich draußen gewesen.
Bergamo, das hab ich noch nie gehört gehabt.
Aber das gibt es, im Norden, habt ihr gesagt, wo es kalt, windig und neblig ist.
Ihr habt kein gutes Haar an Bergamo gelassen.
Hey, das kotzt euch echt an, was?
Ich hab auch eine Schwester, Vittoria, die auch mal Hure war, aber nur kurz, dann war sie nur noch Ehefrau.
Sie hat einen Typ geheiratet. Sein Namen kann ich nicht sagen, sonst bin ich tot. Aber alle nennen ihn O’Pelato, wegen der Glatze.
Der Kerl kotzt mich echt an. Ich war auch nicht auf der Hochzeit. Mamma auch nicht. Uns hat keiner eingeladen.
O’ Pelato hat zu Vittoria gesagt, sie darf nich mehr mit mir reden, wenn ich wieder raus bin.
Aber das is mir scheißegal, ich red, mit wem ich will, egal, was der sagt.
Vor dem Ganzen hier hab ich für Vittoria und Mamma gesorgt, mit meinem Job.
Und Madonna sei dank, war ich bei meinem Business in den Gassen unterwegs und konnt also auf Mamma und meine Schwester aufpassen, also auf Vittoria, hab ja schon gesagt, dass...
Erscheint lt. Verlag | 15.8.2024 |
---|---|
Übersetzer | Christine Ammann |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Armut • Camorra • Forcella • Italien • Jugendgefängnis • Jugendgefängnis Nisida • Jugendkriminalität • Neapel • Organisierte Kriminalität • Resozialisierung • revierkämpfe • Schuld und Sühne • Strafvollzug |
ISBN-10 | 3-95614-616-6 / 3956146166 |
ISBN-13 | 978-3-95614-616-9 / 9783956146169 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 851 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich