Ein anderes Leben (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2024
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01508-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein anderes Leben -  Caroline Peters
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Wer war Hanna? Diese Frau, die so oft aus der Rolle fiel, die nacheinander ihre drei Studienfreunde heiratete und drei Töchter bekam, immer mit Gedichten im Kopf, über die sie den Alltag vergaß, die ihren Platz suchte zwischen den Erwartungen der Familie an sie und den eigenen Ansprüchen - und nur selten für sich sein konnte. Viele Jahre nach Hannas Tod blickt die jüngste Tochter zurück auf das Leben ihrer Mutter, auf die eigene Kindheit im Rheinland der Siebziger und Achtziger, in der Hanna dafür sorgt, dass die Tage immer etwas anders sind als üblich. Ein Leben zwischen Bürgerlichkeit und Boheme: mit Champagner und Puschkin am Sonntagmorgen im Bett, Besuche nach der Schule in der Institutsbibliothek, wo die Mutter arbeitet und mit verschüchterten Studenten flirtet, Pokern unterm Weihnachtsbaum, abenteuerliche Fahrten in der Ente - bis sich Hanna entscheidet, die Familie zu verlassen und ihr Leben allein von vorn zu beginnen. Mit großer Einfühlsamkeit und Leichtigkeit erzählt Caroline Peters von den Fragen einer Tochter an die verstorbene Mutter und an sich selbst - und davon, was es heißt, eigene Wege zu gehen. Ein sehr persönliches Buch, kraftvoll, berührend und von hinreißendem Humor.

Caroline Peters, geboren 1971, zählt zu den bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. Nach einem Studium an der Hochschule für Musik und Theater in Saarbrücken war sie Ensemblemitglied an den wichtigsten deutschsprachigen Theatern, unter anderem an der Berliner Schaubühne, am Hamburger Schauspielhaus und am Wiener Burgtheater. Sie spielt in Kino- und Fernsehproduktionen, etwa in der Krimiserie «Mord mit Aussicht» oder in Sönke Wortmanns «Der Vorname», und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, wie den Adolf-Grimme-Preis, den Bayerischen Fernsehpreis, den Deutschen Schauspielpreis oder den Nestroy-Theaterpreis. 2016 und 2018 wurde Caroline Peters zur Schauspielerin des Jahres gewählt. «Ein anderes Leben» ist ihr erster Roman.

»Ein großartiges Buch ... wahnsinnig berührend, aber auch lustig ... eine absolute Leseempfehlung.« — ORF

Eins


Heute ist die Beerdigung meines Vaters, und für mich ist es die Auferstehung meiner Mutter. Ich kann es nicht anders sagen. So viele Jahre vor ihm ist sie gestorben. So viele Jahre hatten sie sich da nicht mehr gekannt. Und jetzt soll eines mit dem anderen zusammenhängen? Bow ist tot, das ist traurig genug. Er starb allein in seinem Haus am Zikadenweg, umringt von Büchern, Schriften, Sammlungen. Zuletzt versorgt von sich selbst und manchmal von seiner etwas nervösen und unbehaglichen Tochter, mir.

Wir stehen verstreut und unordentlich am Grab, die gesamte Familie. Meine beiden Schwestern Laura und Lotta mit ihren Ehemännern und Kindern. Und ihren Vätern.

Meine Schwester Laura steht neben ihrem Vater Klaus.

Meine Schwester Lotta neben ihrem Vater Roberto.

Gemischt dahinter die Ehemänner mit den Kindern.

Ich stehe allein dazwischen.

Klaus, Papa, Roberto und Hanna haben gemeinsam in Heidelberg studiert, und Hanna hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einen nach dem anderen zu heiraten und von jedem ein Kind zu bekommen. Mein Vater war als Letzter dran. Bei ihm haben wir alle gewohnt. Er hat sich ein Haus gebaut und eine Familie, nachdem er Architekt geworden war.

Heute wird er begraben. Ich habe mich oft gefragt, wie schlimm dieser Moment wohl werden wird. Genau genommen gar nicht so schlimm, stelle ich jetzt fest. Wir schaffen es alle, so traurig es auch ist. Keine von uns zerbricht im Stehen daran, wie ich es manchmal befürchtet habe, wenn ich mir dieses Ereignis ausgemalt habe, an Tagen, an denen sowieso alles schlecht erscheint und man sich selbst etwas noch Schlechteres skizziert, damit die Wirklichkeit nicht mehr schrecken kann.

Wir stehen da, und es ist kalt.

Es windet sehr stark, hier auf dem Friedhof in Hessen. Hier wollte er beerdigt werden, im Kreise seiner Herkunftsfamilie. Das waren nicht wirklich seine Worte. Bow hatte Familie gesagt, im Kreise seiner Familie. «Herkunft» habe ich dazugedichtet, um nicht ausgenommen zu sein von dem, was Bow seine Familie nannte. Der «Kreis seiner Familie» steht für meine Begriffe hier draußen am Rand der Grube, in die er gleich versenkt werden wird. War das nicht sein Gefühl am Ende seines Lebens?

Vor uns im Boden liegen Ramspecks. Alle, die seit 1860 gestorben sind, dem Jahr, in dem einer von Papas Vorvätern dieses Grab anlegte. Ramspeck, die Familie, die mein Vater verlassen hatte und mit der er jetzt die Ewigkeit teilt. Ohne uns, weil wir alle noch leben. Und ohne seine Frau. Ohne Hanna.

Hanna liegt Hunderte Kilometer entfernt in der Tiefe der Ostsee. In einer Flaschenpost, gefüllt mit ihrer Asche, versetzt mit etwas Blei, um die Flasche am Meeresgrund zu halten und nicht oben auf den Wellen schwimmen zu lassen.

Das sei doch der einzige Zweck einer Flaschenpost, dass sie auf den Wellen schwimmt, entdeckt und rausgefischt wird, sonst finde doch niemand die Nachricht, hatte Laura gesagt, als wir gemeinsam Hannas Letzten Willen lasen. «Aber Hanna hat sich Blei gewünscht, damit ihre Nachricht nur am Meeresboden wandert und für Oberflächenblicke unsichtbar bleibt», entgegnete ich. Lotta nickte mir zu, ein seltener Moment von Einigkeit.

Nicht sehr nachhaltig, meinten Lauras Kinder, und ich begann eine halbherzige Diskussion mit ihnen. Sie waren schon erwachsen, als Hanna starb. Laura war mit Anfang zwanzig das erste Mal Mutter geworden, so wie Hanna einst mit ihr. Ich war mit zwanzig ebenfalls schwanger gewesen, wollte aber kein Kind in diesem Alter. Diese zwanzigjährigen Mütter in der Familie, dachte ich damals, sieh dir an, was dabei herausgekommen ist, und war ohne große seelische Probleme und ohne männliche Begleitung zum Frauenarzt gegangen.

«Nachhaltig oder nicht. Shanghai oder Bangkok sind auch nicht nachhaltig und existieren trotzdem», sagte ich zu Lauras Kindern. Mein Argument, das gar keines war, überzeugte sie nicht. Der Wunsch unserer Mutter, ihrer Großmutter, am Meeresgrund versenkt zu werden, stand leer im Raum. Ich war der Meinung, ein letzter Wunsch ist ein Gesetz, das die Familie zu befolgen hat. Mit Blei vermischte Asche, so wollte sie verewigt werden. Die nächste Generation fand, Nachhaltigkeit stehe über dem Individuum. Meine Schwestern hielten den Wunsch für unpraktisch und kostspielig. Laura, sonst durchaus für große symbolische Gesten zu haben, meinte, dieses Mal habe Hanna übertrieben. Wer sie denn sei, fragte sie in die Runde, die Königin von Saba? Nein, sagte ich, auch nicht die Prinzessin auf der Erbse, aber vielleicht eine Frau, die sich in den letzten Jahren ihres Lebens wie eine Flaschenpost mit Blei empfunden hat und nun aus der Asche ihres Körpers, einer Flasche und einem Korken ein unsichtbares Denkmal schaffen wollte.

Stille. Ich hatte Laura widersprochen. Vor ihren Kindern. Die jungen Beiboote meiner Schwester schauten, wie ihre Kapitänin reagierte. Laura machte ein undurchdringliches Gesicht. Sie konnte mir auf keinen Fall zustimmen, nicht vor den Kindern und aus Prinzip nicht. Ich war jünger, und das bedeutete in der Ramspeck’schen Familienlogik etwas Niederes. Sie konnte auch nicht einfach sagen «Auch ein Punkt» und damit wenigstens teilweise anerkennen, dass ich nicht völligen Unsinn von mir gab. Nicht vor ihrem Volk.

Ich habe Lauras Gesicht früher gut lesen können. Sie ist die Älteste von uns. Ich war noch klein, als sie auszog und ihr eigenes Leben begann. Es war wichtig in meiner Kindheit zu wissen, was sie dachte, auch wenn sie gerade nicht sprach. Sie schien etwas zu wissen über die Eltern, was mir und Lotta entgangen war, also versuchte ich, die Lücken zu schließen, indem ich sie beobachtete. Sie tut bis heute allwissend. Damals war sie es für mich auch. Doch seit ihre Kinder groß sind und nicht mehr blind den Eltern folgen, sondern mit eigenen Augen Gesichter lesen, hat sich Lauras Ausdruck verändert. Sie ist unleserlich geworden.

Die Beiboote schauten sie an und warteten auf eine Reaktion. Lauras Gesicht blieb unverändert, zumindest auf mich wirkte es so. Mimama habe übertrieben, niemand müsse so unnachhaltig mit seinem Tod umgehen, entschieden sie dann. Schon den Holzsarg zu verbrennen, sei wirklich schlecht für Luft und Umwelt, und dann noch die Reste mit Blei vermengen und in die See werfen? Wie schnell kann so eine Glasflasche zerbrechen, und schon wandelt das Blei über den Ostseeboden dahin und wird von Fischen gegessen, die dann von Menschen gegessen werden.

Niemand müsse sich in einem poetischen Denkmal am Meeresgrund verwirklichen, sagte Laura und starrte in die Luft. Hatte sie einfach das Nein ihrer Kinder übernommen, oder hatten die Kinder ein entschlossenes Nein in ihrem Gesicht abgelesen, und nur ich hatte es nicht gesehen?

Wir ließen es so stehen. Die Jugendlichen in der Familie heute sind noch viel nachhaltiger, als Lauras Kinder es damals waren. Wenn wir heute, wie einst unsere Großmütter nach dem Krieg, an Weihnachten und Geburtstagen gemeinsam Geschenkpapier plätten und Schleifen bügeln, fühlen wir uns eigentlich alle ganz wohl. Also zählen diese Argumente häufig am stärksten. Damals, bei Hannas Tod, war das nicht so. Dafür gelang uns damals etwas, was uns heute nicht mehr gelingt – Lösungen finden. Wir waren sicher, es würde uns etwas einfallen für Hannas Überreste. Ist es uns dann auch, allerdings nicht gemeinsam.

Laura steht neben ihrem Vater Klaus. Klaus war seit der achten Klasse in Hanna verliebt gewesen. Eigentlich schon davor, aber in der achten Klasse hatte er seine Gefühle endlich verstanden. «Untertertia», sagte Hanna, wenn sie uns Töchtern davon erzählte. «In der Untertertia wusste er auf einmal, was ein Mädchen ist und was ein Junge.» Dabei lächelte sie und zwinkerte uns zu. Für Klaus war die Hochzeit mit Hanna ein logischer Schritt in seinem Leben gewesen, so logisch, wie beim Gehen einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dass Hanna so früh sein Kind erwartete, war ein Versehen gewesen. Nicht das Kind, nur der Zeitpunkt. Er hätte sich keine andere Frau vorstellen können. Hanna hatte noch Erinnerungen an seinen Vater und er an ihren. Damit waren sie für immer Familie. In seiner zweiten Ehe war er später sehr glücklich, doch Laura blieb sein einziges Kind. Ehe war Ehe für ihn und Familie Familie.

Die Mütter von Hanna und Klaus, Oma Tita und Oma Dörrge, waren Freundinnen gewesen, oder vielleicht sollte man besser sagen Co-Gattinnen. Die Männer waren gemeinsam aus Thüringen nach Berlin zur Wehrmacht gegangen, später mit ihren jungen Familien nach Schlesien gezogen und von dort gleich weiter nach Osten in den Krieg, aus dem sie nie wieder zurückkamen. Die Division, in der die jungen Ehemänner dienten, gestaltete den Einmarsch in Polen, wie ich als Erwachsene erfuhr. Der Plan war, immer tiefer in den Osten vorzudringen, und alle paar Jahre würden die beiden jungen Mütter mit ihrer stetig wachsenden Kinderschar nachziehen. Die ersten Siedler.

Die meisten Geschichten von Oma Tita fingen an mit «Als wir den Papi im Krieg verloren hatten …». Ich konnte mir als Kind nie vorstellen, wie das wohl passiert war. Hatte er es nicht geschafft, nach dem hastigen Aufbruch in Neiße mit russischem Kanonengrollen im Hintergrund hinterherzukommen? Dieser Papi war so lebendig in der Familienlegende, dass ich davon ausging, er war einfach nicht wiedergefunden worden und lebte inzwischen als sehr alter Mann irgendwo versteckt. Er ist der einzige Vater in der Familie, der Papi heißt, alle anderen werden mal Papa, mal Vater, mal Vati genannt. Papi gibt es nur...

Erscheint lt. Verlag 15.10.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtziger • Dichtung • Ehe • Emanzipation • Familie • Flucht • Frauen • Gegenwart • Geschlechterrollen • Kindheit • Kunst • Mutter • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Schauspiel • Selbstbestimmung • Siebziger • Tochter • Tod • Vater • Wehrmacht • Westdeutschland
ISBN-10 3-644-01508-2 / 3644015082
ISBN-13 978-3-644-01508-1 / 9783644015081
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