Schwätzer (eBook)
288 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9663-9 (ISBN)
Der neue Roman eines Shootingstars der deutschen Gegenwartsliteratur
»Ich habe ständig das Bedürfnis, nach dem Mond zu sehen.« Als Meikel seinen Freund Eddi auf dessen bizarre Jagd nach Meteoriten im Berliner Umland begleitet, hat er eine böse Vorahnung: Es wäre nicht das erste Mal, dass Eddi mit seinem Geschwätz Meikels Leben aus den Angeln hebt. Dass dies erst der Anfang einer Kette von unvorhersehbaren Ereignissen ist, die die Grenzen zwischen ganzen Welten neu ausloten, hätte Meikel aber auch nicht gedacht. Auf seiner Reise kann er sich nie sicher sein, von wo die größte Gefahr ausgeht: seiner Drogensucht, den Gespenstern im ehemaligen Szene-Club oder doch von den profitgierigen Mitgliedern der Zahnärztekammer. Sven Pfizenmaiers Humor und seine genauen Beobachtungen schlagen so spektakulär und überraschend ein wie Meteoriten auf der Erde. Zusehends fragt man sich: Wer erzählt hier die Geschichte? Und wer ist tatsächlich der Schwätzer?Sven Pfizenmaier wurde 1991 geboren. Sein Roman »Draußen feiern die Leute« (2022) wurde mit dem aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres, dem Kranichsteiner Literaturförderpreis des Deutschen Literaturfonds und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover ausgezeichnet. 2024 erschien sein zweiter Roman »Schwätzer«. Sven Pfizenmaier lebt in Berlin.
Meine Eltern haben mir nie Geschichten vorgelesen. Mein Vater sowieso nicht, aber auch von meiner Mutter habe ich keine Lesestimme im Kopf, nur ein einziges Bild, wie sie am Bettrand sitzt und in einem schmalen Märchenband auf Zeichnungen deutet. Ich kann mich an keine Regelmäßigkeit erinnern, wenn ich meine Kindheit erzählen müsste, würde es nur diese eine Szene geben, mit meiner Mutter, mit den Zeichnungen, ein Prinz auf einem Schimmel, ein Nussknacker, Wald, Schnee. Ich kann nicht einmal sicher sagen, ob sie mir die Bilder zum Einschlafen zeigte oder einfach so, auch nicht, ob es da überhaupt so etwas wie eine Geschichte gab. In meiner Erinnerung bin ich schon immer allein schlafen gegangen, und immer war ich verängstigt. Dabei glaubte ich gar nicht an Geister. Schon damals fand ich Filme albern, in denen Kinder sich vor Monstern unterm Bett fürchteten. Es half mir also nicht, wenn meine Mutter mir die Leere demonstrierte. »Schau, da ist nichts«, sagte sie, während sie zuerst Schränke öffnete und Türen schloss, dann zu immer kleineren Objekten überging, um mich zum Lachen zu bringen, sie hob den Fernseher an, die Nachttischlampe, die Wasserflasche neben dem Bett, und dann, wenn ich mich immer noch an meine Decke krampfte, jede einzelne Actionfigur im Regal. Sie konnte nicht wissen, dass es genau dieses Nichts war, das mich ängstigte. Die Nacht schien mir unendlich tief zu sein und rätselhaft, abgeriegelt und vermauert, es ergab keinen Sinn, dass sich nichts in ihr befand. Hätte mich etwas angesprungen, ein Gespenst oder Dämon, dann hätte ich sie akzeptieren können, ich hätte sagen können: Für irgendwen ist die Nacht ein Zuhause. So aber sah ich nur die Abwesenheit von etwas, das hätte da sein sollen, und in dieser Abwesenheit lag ein Schrecken, der jedes Untier unter sich begrub.
Ich möchte sagen: Nur dann, wenn ich so große Angst hatte, kam meine Mutter und streichelte mich in den Schlaf, sonst war ich allein. Doch ein Gefühl sagt mir, dass ich dadurch lügen würde und meiner Mutter unrecht täte, obwohl ich, sosehr ich mich auch bemühe, keine anderen Erinnerungen finden kann. Gern würde ich sie dazu befragen, traue mich aber nicht, weil sie dann bestimmt zu weinen anfinge. Das tut sie immer, wenn ich über meine Kindheit spreche und aus den Erzählungen der leiseste Verdacht entsteht, sie habe etwas falsch gemacht. Das möchte ich nicht, ich bin sicher, sie war eine gute Mutter. Dass es mir manchmal schlecht geht, dafür kann sie nichts.
Eines Abends rief sie mich an und erzählte, dass es nichts Neues gebe. Dabei atmete sie schwer, weshalb ich mich, obwohl ich das eigentlich nicht mache, nach ihrem Wohlbefinden erkundigte. Da fing sie an zu beichten. Während der Schwangerschaft mit mir sei sie schrecklich ängstlich gewesen, viel mehr als bei meinen drei älteren Geschwistern. Ich wusste darauf nichts zu antworten. »Ich habe immer Angst gehabt«, sagte meine Mutter, und in der Art, wie sie das Wort »Angst« sagte, war klar, dass sie nicht Angst meinte, sondern Panik, die Art von Panik, die mich, so hatte ich ihr einige Jahre zuvor einmal gebeichtet, noch als erwachsener Mann nachts aus dem Schlaf riss oder mich vom Schlaf abhielt, die mich aus dem Nichts in akute Todesangst versetzte und hinaus auf die Straße trieb, in der Hoffnung, dass mich dort, wenn mir etwas passierte, jemand fände, ich wollte einfach nicht sterben, schon gar nicht allein, ich habe schreckliche Angst vor dem Tod. Dass es meiner Mutter in der Schwangerschaft genauso ging, machte ihr Schuldgefühle. »Ich wusste, dass du es schwer haben wirst«, sagte sie in einem ihr eigenen pathetischen Ton, der mich auch deswegen wunderte, weil ich eigentlich immer fand, ich würde ganz gut zurechtkommen. Aus diesem Ton jedoch war unschwer rauszuhören, dass es von außen betrachtet ganz und gar nicht so aussah, als würde ich ganz gut zurechtkommen, und das verunsicherte mich.
Meine Mutter beschrieb ihre Panik weiter, doch ich hielt es nicht aus. Ich wollte nichts wissen von einer Brust, die sich zusammendrückt, von der Schwärze am Rand des Sichtfelds, von dem Wissen, an ein Ende gelangt zu sein, von der Offenlegung einer Feindschaft zur Welt. Meine Mutter schien mir Tier geworden zu sein. Ich drehte das Telefon weg, bis ihre Stimme verstummte, dann hielt ich es wieder an mein Ohr, sagte zweimal »Ja« und legte auf. Sie erzählte mir nie wieder von der Angst. Ich bildete mir ein, zwischen uns sei danach trotzdem etwas zusammengewachsen, aber wenn ich ernsthaft darüber nachdenke, dann gibt es nichts, was darauf hindeutet.
Wie mir viel später klar wurde, ist Die Angst in der Familie meiner Mutter ein Erbstück. Meine Großmutter, so erzählt man sich, bekam in jungen Jahren Angst beim Anblick offener Meere. Ihr Mann, mein Großvater, erzählte diese Geschichte mit empörter Belustigung, monatelang habe er geackert, um seine baldige Braut mit einer Reise zum Schwarzen Meer zu überraschen, und dann kommen sie da an, und sie verliert buchstäblich den Verstand, zittert, lässt sich nicht beruhigen. Meine Großmutter stieg in diese Geschichte munter ein, sie saß daneben und sagte: »Ist das nicht verrückt?«, oder bezeichnete sich lachend als Klikushka, eine hoffnungslos Wahnsinnige, die ein schönes, ruhiges Meer sieht und durchdreht. An einem anderen Abend, Familienfeier, die Gäste waren lange gegangen, saß dieselbe Großmutter am Esstisch und berichtete – soweit ich mich erinnern kann, das einzige Mal – von ihrer Deportation. Von dem Ausbruch des Krieges habe sie mit ihren zehn oder elf Jahren zwar gehört, war dann aber völlig überrascht, als Uniformierte ihres eigenen Landes, der Sowjetunion, sie und ihre Familie aus den Häusern zerrten und zum Kaspischen Meer brachten, dort mit hundert anderen auf Flöße setzten und einfach hinaustreiben ließen, bis sie in Kasachstan strandeten und sich ein neues Leben in der Steppe aufbauen mussten. Zwei Wochen habe sie auf diesem Boot gesessen, als junges Mädchen habe man sich gut um sie gekümmert. Andere verdursteten oder sprangen ins Meer und ertranken. Sie erinnerte sich an Leichen und an endloses Wasser in alle Richtungen. Ich fragte meine Mutter danach, ob sie nicht glaube, dass diese Geschichte etwas mit der lustigen Flitterwochengeschichte am Schwarzen Meer zu tun haben könnte, worauf sie abwinkte und einen Witz machte, der durchscheinen ließ, dass sie Psychologie für Hokuspokus hielt.
Noch vor ihrem achtzehnten Geburtstag begegnete meine Großmutter meinem Großvater, ein aus gleichen Gründen in Kasachstan gelandeter, leidenschaftsloser Mann mit brodelnder Stimme und Schaufeln als Händen, der mit sieben Jahren von der Schule geschmissen worden war, weil er für seine Hunger leidende Familie Kartoffeln aus einem fremden Acker gegraben hatte und daher in einem neuen Jahrtausend, in einer neuen Welt, dem Westen, als Analphabet begraben wurde. Meine Großmutter gebar ihm sieben Töchter, er war endgültig gebrochen. Auch das erzählte sie lachend. Diese sieben Töchter, von der ältesten bis zur jüngsten waren es zehn Jahre, polterten und gackerten und tanzten und kreischten durch das Haus, zwei Schlafzimmer teilten sie sich zu siebt und stritten nie, schrecklich fröhliche Mädchen, die sich gegenseitig an Schul- und Haushaltspflichten erinnerten, bevor es Ärger gab, die die Arbeit einer anderen übernahmen, wenn diese unbedingt einen Film am Dorffernseher sehen wollte, die sich von Jungs erzählten und den neuesten Tratsch füreinander zusammentrugen. Mein Großvater subsumierte dieses Verhalten unter Geschwätz, lästiges, elendes Geschwätz, und auch wenn meine Mutter und ihre Schwestern darüber lachten, war es ziemlich eindeutig, dass es sich für sie um weitaus mehr handelte. Es befand sich etwas Vitales in den Erzählungen über Mitmenschen, die Überlieferungen fremder Handlungen vibrierten vor Lebendigkeit. Indem sie sich von Mund zu Mund gossen, machten die Geschichten auch die Schwestern lebendig, im stetigen Abgleich der Erfahrungen lag die Möglichkeitswelt des eigenen Lebens. Das als Geschwätz abzutun war eigentlich kriminell, doch sie verübelten ihrem Vater nie etwas.
Sie hätten ihm so einiges verübeln können. Hatte er Die Angst bei seiner Frau notgedrungen noch akzeptiert, wenn auch nur als Quelle des Amüsements, so hatte er keinerlei Akzeptanz mehr für seine Töchter übrig, die allesamt unter denselben Symptomen litten. Über jede einzelne von ihnen brach Die Angst herein, regelmäßig, aus dem Nichts bei der Arbeit, beim Essen, selbst beim Spielen und Feiern. Die anderen sahen es sofort, plötzliches Verstummen, unruhige Augen, krampfende Hände. Die älteren Schwestern gaben ihr Wissen um Die Angst an die jüngeren weiter, woran man sie erkennt, wie man mit ihr umgeht, vor allem auch: wie die anderen damit umgehen. Denn die von Der Angst befallene Person kann nicht viel tun, außer es zu überstehen. Die anderen hingegen können, im Wissen, dass des Vaters Mittel gegen Die Angst die Prügel sind, mit ihrer Schwester unter dem Vorwand, Arbeit zu erledigen, nach draußen gehen und sie zwischen den Kälbern verstecken, wo sie sich an ein Tier anlehnen und mit ihm zusammen atmen kann. Sie können sich die neuesten Geschichten aus dem Dorf besonders hysterisch erzählen, vor Lachen brüllend, um dem Vater den letzten Nerv zu rauben und ihn wegzuscheuchen, denn auch wenn er vor Wut schreien mag, alle auf einmal schlagen würde er nicht. Und so wuchsen sie heran, durch Die Angst miteinander verschworen, bis sie sich nach und nach verheirateten und in ihre eigenen Häuser zogen.
Zwei der sieben hatten Glück, ihre Ehemänner zeigten sich von Der Angst unbelastet, sie waren geduldig und verbrachten die Schübe an ihrer Seite, zu jeder Uhrzeit standen sie mit ihnen auf und kochten einen...
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Berlin • Brandenburg • Draußen feiern die Leute • Drogensucht • Freundschaft • Gespenster • Humor • Juan S. Guse • Junkie • Liebe • Lost Soul • Lügen • lustig • Magischer Realismus • Meteoriten • Migrationshintergrund • Skurriles • Verschwörungen |
ISBN-10 | 3-0369-9663-X / 303699663X |
ISBN-13 | 978-3-0369-9663-9 / 9783036996639 |
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