Die Unvollkommenheit des Glücks (eBook)
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60693-6 (ISBN)
Clara Maria Bagus hat im Alter von acht Jahren ihre ersten Geschichten für Zeitungen geschrieben. Sie studierte Psychologie in Konstanz und Stanford und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Nach vielen Jahren im Ausland lebt die Bestsellerautorin heute mit ihrem Mann und ihren Zwillingssöhnen in Bern.
Clara Maria Bagus hat im Alter von acht Jahren ihre ersten Geschichten für Zeitungen geschrieben. Sie studierte Psychologie in Konstanz und Stanford und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Nach vielen Jahren im Ausland lebt die Bestsellerautorin heute mit ihrem Mann und ihren Zwillingssöhnen in Bern.
5
Der Brief
Der Brief erreicht ihn an einem Mittwochmorgen. Ein Einschreiben in einem amtsgrünen Umschlag. Als Lew ihn in den Händen wiegt, legt sich ihm eisiger Schweiß auf die Haut. Er dreht das Kuvert. Auf der Rückseite ist ein Wappen eingestanzt. Lew reißt den Umschlag auf und zieht das dünne Papier heraus. Seine Finger zittern, als er das Blatt auseinanderfaltet. Plötzlich kribbelt Furcht in seinen Nerven. Er überfliegt das Schreiben. Es ist dreimal unterschrieben und gestempelt. Eine wichtige Angelegenheit. Er liest es noch einmal. Diesmal konzentrierter. Dennoch erscheint es ihm, als wackelten die Buchstaben hin und her. Als zerflössen sie für den Bruchteil einer Sekunde und schwömmen dann in ihre Form zurück.
Lew hat ihn erwartet, diesen Brief. Er hat sich sogar freiwillig gemeldet, trotz seines Alters. Es war seine Chance, endlich wieder die Kraft der Luft zu spüren. Endlich wieder der einzigen Leidenschaft nachzugehen, die er wirklich hat: Fliegen.
Und doch. Und doch denkt er jetzt an seine Mutter, die beinahe siebenundachtzig ist und sich langsam aufzulösen beginnt. In den letzten Jahren hat sie sich sukzessive verändert. Und auch wenn die einzelnen Schritte dieser Veränderung nur unmerklich zu spüren waren, so ist sie doch ganz offensichtlich alt und brüchig geworden.
Was soll er ihr bloß sagen? Wie soll er es ihr sagen? Er muss zu ihr fahren. So etwas sagt man nicht am Telefon.
Lew ist bereit, seinem Land zu dienen. Dem Land, das diesen Krieg vor nun fast einem Jahr begonnen hat. Jetzt, da es für ihn so weit ist.
Seit fast zwanzig Jahren ist er als Ingenieur im Flugzeugbau tätig. Er ist derjenige, der die Steuerungssoftware von Militärflugzeugen wie kein anderer kennt. Ein Experte. Eine Koryphäe.
Aufgrund seines Alters trafen ihn nicht die ersten Wellen der Einberufung. Jetzt ist er eingezogen.
Einen wie ihn kann man brauchen. Das weiß er. Keine Frage, die jungen Piloten haben die besseren Augen, die schnelleren Reaktionen, die größere Ausdauer. Dafür hat er mehr Erfahrung. Außerdem können ihm andere Augen beim Sehen helfen, zum Beispiel die eines scharfsinnigen Co-Piloten. In diesem Krieg, da ist er sich sicher, wird er sich beweisen.
Als Lew am Wochenende seine Mutter besucht, hört er schon im Korridor das Rascheln des hauchdünnen Papiers jedes Mal, wenn sie die Zeitungsseiten umblättert. Er späht um die Ecke. Sie sitzt am Küchentisch. Ihre Fingerkuppen sind dunkel von der noch frischen Druckerschwärze. Die hungrigen Gläser ihrer Brille schlucken gierig jeden neuen Bericht über den Krieg.
Lew betritt die Küche und sieht, wie angespannt sie ist. Sie schaut zu ihm auf. Eine Mutter im Schwebezustand zwischen Angst und Sorge. Eine weise Frau, die schon monatelang unter diesem Krieg leidet, die die ganze Tragik schon vorausgelitten hat, als der Krieg noch gar nicht begonnen hatte. Sie hatte diese Ahnungen.
Jetzt, da er sie so dasitzen sieht, fragt sich Lew, ob er den Mut haben wird, in diesen Krieg zu ziehen. Noch präziser fragt er sich, ob er den Mut haben wird, nicht in diesen Krieg zu ziehen.
Die Greisin hatte nach Kriegsbeginn hinter seinem Rücken den Hausarzt angefleht, eine Eingabe zu machen, dass Lew, ihr einziger Sohn, nicht in die Reserve kommt. Er sei mit fünfundvierzig ohnehin zu alt. Doch der sechzigjährige patriotische Hausarzt hat nur streng über den Rand seiner Brille geschielt und den Kopf geschüttelt. Wenn das Land Lew braucht, braucht das Land Lew.
Lew denkt an seinen Vater, der im Alter von dreiundfünfzig Jahren an Krebs gestorben ist und mit letztem Atemhauch zu seinem damals zehnjährigen Sohn sagte: »Ich glaube an dich, Lew. Ich glaube, dass du einmal etwas Großes bewirkst.«
Das will Lew jetzt. Etwas Großes bewirken. Kämpfen. Den Feind töten. Oder etwa nicht? Er redet es sich ein, bis er es sich selbst glaubt. Er würde in diesem Krieg der Sohn seines Vaters werden.
Lew zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich zu seiner Mutter. Ohne ein Wort reicht er ihr den abgegriffenen Briefumschlag über den Tisch. Er hat das Schreiben so viele Male aus dem Kuvert gezogen, gelesen und wieder hineingesteckt, dass es schon ganz seifig ist.
In ihren Augenwinkeln sammeln sich Tränen. Lew blickt in ihr sorgenvolles Gesicht. In das Gesicht einer Mutter, die seit Kriegsbeginn jeden Tag aufs Neue ihren Sohn in der Hölle verschwinden sieht. Und heute ist der Tag, an dem ihr Albtraum Wirklichkeit wird.
»Du kannst den Brief wieder einstecken«, sagt sie, ohne den Umschlag zu öffnen, und schiebt ihn zurück über den Tisch. Sie weiß ohnehin, was darin steht. »Willst du dein Leben wirklich wegwerfen?« Stille. »Du machst also tatsächlich freiwillig bei diesem Desaster mit? Unbegreiflich! Selbst nach einem Jahr fasse ich noch immer nicht, dass es so weit gekommen ist. Mitten im Frieden ein Krieg!«
»Das wussten wir doch, Mutter.«
»Nichts wusstest du. Du hast mir nicht geglaubt, als ich vermutete, dass unser Präsident Derartiges plant. Wie die meisten hast du die Möglichkeit eines Krieges weggeschnippt wie die Asche einer Zigarette. Irgendein Knistern war schon lange im Gebälk, immer wieder flogen Funken von Reibungen, die man nicht ernst genug genommen hat, bis das Feuer ausgebrochen ist.« Sie schluckt schwer. »Dazu kann ich nur sagen: Gott, vergib ihnen nicht, denn sie wissen genau, was sie tun!« Ihre unruhigen Finger versuchen die sich einrollenden Ecken der Zeitung glatt zu streichen. »Dass du freiwillig bei diesem Grauen mitmachen willst, ist nicht nur unverständlich, es ist schlicht inakzeptabel! Du bist doch kein Mörder.«
»Ich ziehe nicht in den Krieg, um zu morden, Mutter. Ich will kämpfen – für unser Land.«
»Glaub nicht immer, was du wahrhaben willst. Wir sind doch nicht nur Staatsbürger, wir sind auch Weltbürger«, sagt die Greisin. Ihr silbernes Haar hat sie hinter dem Kopf zu einem Knoten gebunden. Ihre Haut ist bleich und wirkt mit den eingefallenen Wangen beinahe durchsichtig. Die schmalen Lippen sind trocken und rissig, die Lider gerötet und von lila Äderchen durchzogen. Ihre Augen, die tief in den Höhlen liegen und hinter der Lesebrille riesig erscheinen, wirken viel zu groß für den geschrumpften kleinen Körper – ganz so, als hätten sie genug gesehen von dieser Welt.
Erst jetzt nimmt Lew den vertrauten Geruch des Hauses wahr. Eine Mischung aus Vergangenheit, Kölnisch Wasser und Kaffeebohnen.
»Du selbst sagst mir doch immer, man könne sich nicht aus allem raushalten, in der Hoffnung, das Leben ließe einen dann in Ruhe«, sagt Lew kleinlaut.
»Rede doch keinen Unsinn. Du weißt sehr genau, dass ich das in Bezug auf andere Dinge meine.«
»Ich habe mich als Kampfjetpilot ausbilden lassen, Mutter. Um für unser Land zu kämpfen, wenn es notwendig wird.«
»Das war vor fünfundzwanzig Jahren!«
»Aber ich habe mich damals bewusst dafür entschieden.«
»Du glaubst dir doch selbst nicht, was du da sagst. Meinst du etwa, bei jedem, der sich in jungen Jahren für eine militärische Ausbildung entschieden hat, spult sich der Lebensfaden bis ins hohe Alter unabänderlich fort? So ein Blödsinn!« Sie nimmt ihre knochige Hand vom Tisch und hebt ermahnend den von der Arthritis knotigen Zeigefinger. »Über den Krieg kann man nichts wissen, solange man ihn nicht gesehen hat! Mir steckt das Grauen des Zweiten Weltkrieges noch in den Knochen, in dem mein Vater – dein Großvater – gefallen ist. Diese Grausamkeiten, diese Vergehen, diese Qualen. Dieses Gemetzel. All die Zerstörung und das Blutvergießen. Ich werde in meinen Träumen noch immer vom Knall detonierender Bomben heimgesucht. Dann schrecke ich aus tiefschwarzen Nächten auf, schweißnass und bete, dass die Welt endlich und endgültig aufwacht.« Lews Mutter schließt die Augen und schüttelt den Kopf.
»Dieser Krieg ist etwas anderes«, sagt Lew.
»Krieg ist Krieg.« Sie schaut ihn eindringlich an. Dann sagt sie: »Diese teflonbeschichtete Version von dir ist ja hoffentlich noch nicht das Endprodukt. Mir kommt es beinahe so vor, als würdest du dich in den Krieg hineinflüchten, weil er eine gute Möglichkeit ist, um vor dir selbst wegzulaufen. Ich will...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Achtsamkeit • Achtsamkeits-Bestseller • Achtsamkeitsroman • Belletristik • Belletristik Neuerscheinung • Bestseller • Bestsellerautorin • Delia Owens • Der Klang von Licht • Die Farbe von Glück • Frau Mitte vierzig • Geschenkbuch • Geschenkbuch für Frauen • Glück • Inspirational • Lebensmitte • Liebe • Matt Haig • meisterhaft erzählt • mitreißend • Paulo Coelho • Persönlichkeitsentwicklung • Robert Seethaler • Sinn des Lebens • sinnstiftende Belletristik • Weisheit • Wunder • Zweite Chance |
ISBN-10 | 3-492-60693-8 / 3492606938 |
ISBN-13 | 978-3-492-60693-6 / 9783492606936 |
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