Brennende Felder (eBook)

Roman | Shortlist Österreichischer Buchpreis 2024
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491887-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Brennende Felder -  Reinhard Kaiser-Mühlecker
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Hinter der ländlichen Idylle lauert der Abgrund Spannend und wendungsreich erzählt Reinhard Kaiser-Mühlecker in »Brennende Felder« von einer Frau, deren Unruhe mit dem Leben zusammenstößt.   Als Luisa Fischer erfährt, dass ihr Vater Bob nicht ihr leiblicher ist, und sie feststellen muss, dass die Zuneigung, die sie für ihn empfindet, über Familienliebe hinausgeht, verlässt sie die Heimat und die Familie. Nach unruhigen Jahren in verschiedenen Städten lässt sie sich in Hamburg nieder. Dort steht plötzlich ihr Stiefvater vor der Tür, auch er hat sich gegen die Familie und für ein Leben mit ihr entschieden. Bald darauf ziehen die beiden zurück in die österreichische Heimat, wo Bob den Verstrickungen in die Vergangenheit nicht entkommen kann. Verstrickt ist auch der alte Bekannte aus Kindheitstagen Ferdinand, der alleine mit seinem Sohn Anton lebt und dem sich Luisa annähert. Doch immer wieder bricht sich Zweifel an der Aufrichtigkeit des jeweils anderen Bahn, beide belauern sich - die Spannungen spitzen sich zu. Lassen sich die Schatten und die Lasten der Vergangenheit ablegen? Und ist es möglich, sich selbst in jeder neuen Lebensphase neu zu erfinden? Wer sind wir, wenn wir uns von unserer Vorgeschichte lossagen? Luisas Antwort auf all diese Fragen ist der Entschluss, Schriftstellerin zu werden, und sie beginnt ihre eigene Geschichte zu erzählen. »Einer der größten lebenden deutschsprachigen Autoren.« Christoph Schröder, Hessischer Rundfunk »Reinhard Kaiser-Mühlecker verwandelt seine Lebenswelt in stille und zugleich großartige Literatur.« Rainer Moritz, Neue Zürcher Zeitung

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und betreibt eine Landwirtschaft. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen - einem, der sie nicht kennt.« Sein Debütroman »Der lange Gang über die Stationen« erschien 2008, anschließend die Romane »Magdalenaberg«, »Wiedersehen in Fiumicino«, »Roter Flieder«, »Schwarzer Flieder« sowie »Zeichnungen. Drei Erzählungen«. Der Roman »Fremde Seele, dunkler Wald« stand 2016 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erschien der Roman »Enteignung«. Für sein Werk wurde Reinhard Kaiser-Mühlecker mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Frühjahr 2022 erschien Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman »Wilderer«, der für den Deutschen Buchpreis und den Österreichischen Buchpreis nominiert war und mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Mit seinem Roman »Brennende Felder« steht Reinhard Kaiser-Mühlecker auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2024. Literaturpreise: Bayerischer Buchpreis für »Wilderer« 2022 Longlist Deutscher Buchpreis für »Wilderer« 2022 Longlist Österreischischer Buchpreis für »Wilderer« 2022 Preis des Wirtschaftsclubs Stuttgart für »Wilderer« 2022 Nominierung Prix du Meilleur livre étranger 2021 für »Roter Flieder« Longlist Prix Médicis étranger 2021 für »Roter Flieder«  Literaturpreis der Österreichischen Industrie - Anton Wildgans 2020 Comburg-Stipendium 2015 Adalbert-Stifter-Stipendium 2014 Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2014 outstanding artist award 2013 Kunstpreis Berlin für Literatur 2013 Buch.Preis 2009 Stipendium des Literarischen Colloqiums Berlin 2009 Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf 2009 Österreichisches Staatsstipendium für Literatur 2008 Hermann-Lenz-Stipendium 2008 Stipendium des Herrenhauses Edenkoben 2007 Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2007 Werkstattstipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung 2006

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und betreibt eine Landwirtschaft. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Sein Debütroman »Der lange Gang über die Stationen« erschien 2008, anschließend die Romane »Magdalenaberg«, »Wiedersehen in Fiumicino«, »Roter Flieder«, »Schwarzer Flieder« sowie »Zeichnungen. Drei Erzählungen«. Der Roman »Fremde Seele, dunkler Wald« stand 2016 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erschien der Roman »Enteignung«. Für sein Werk wurde Reinhard Kaiser-Mühlecker mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Frühjahr 2022 erschien Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman »Wilderer«, der für den Deutschen Buchpreis und den Österreichischen Buchpreis nominiert war und mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Mit seinem Roman »Brennende Felder« steht Reinhard Kaiser-Mühlecker auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2024. Literaturpreise: Bayerischer Buchpreis für »Wilderer« 2022 Longlist Deutscher Buchpreis für »Wilderer« 2022 Longlist Österreischischer Buchpreis für »Wilderer« 2022 Preis des Wirtschaftsclubs Stuttgart für »Wilderer« 2022 Nominierung Prix du Meilleur livre étranger 2021 für »Roter Flieder« Longlist Prix Médicis étranger 2021 für »Roter Flieder«  Literaturpreis der Österreichischen Industrie – Anton Wildgans 2020 Comburg-Stipendium 2015 Adalbert-Stifter-Stipendium 2014 Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2014 outstanding artist award 2013 Kunstpreis Berlin für Literatur 2013 Buch.Preis 2009 Stipendium des Literarischen Colloqiums Berlin 2009 Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf 2009 Österreichisches Staatsstipendium für Literatur 2008 Hermann-Lenz-Stipendium 2008 Stipendium des Herrenhauses Edenkoben 2007 Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2007 Werkstattstipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung 2006

Reinhard Kaiser Mühlecker hat mit seiner Romantrilogie um die Bauernfamilie Fischer ein herausragendes Werk vorgelegt.

Faszinierend ist die Finesse, mit der Reinhard Kaiser-Mühlecker die Geschichte aus Luisas Perspektive erzählt.

[...] ist ein besonderer Mensch. Nicht weil er zwei Berufe auf einmal hat, sondern weil sich in beiden die Schönheit und die Zerbrechlichkeit der Welt spiegeln.

Reinhard Kaiser-Mühlecker schlägt mit seinen Büchern Schneisen in die oberösterreichische Literaturlandschaft.

Reinhard Kaiser-Mühlecker hat mit »Brennende Felder« erneut gezeigt, dass er längst zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller der Gegenwart gehört.

[...] ein Buch, das vor lauter hellichter und hellsichtiger literarischer Finsternis im Dunkeln leuchtet.

Brennende Felder ist [...] ein Erlebnis von einer Intensität, wie sie sonst kaum zu finden ist.

[...] bei aller Gebrochenheit und allen Fluchten der darin vorkommenden Menschen in die Ferne, eine Heimatchronik [...].

Ein hochintensiver Roman.

[...] mit einer irritierend schönen Sprache [...].

Hier schreibt einer, dem Bücher geradezu heilig sind.

[...] ein furioser Roman über Freiheit. Radikal und poetisch erzählt.

Die Prosa von Reinhard Kaiser-Mühlecker über das bäuerliche Leben offenbart ein herausragendes sprachliches Talent und subtile Menschenkenntnis.

Seine Erkundungen der menschlichen Beziehungsfelder und der Naturlandschaften sind im besten Sinne lesenswerte Literatur.

Schreibweise und Thema seiner Romane machen Reinhard Kaiser-Mühlecker damit zu einem der außergewöhnlichsten und interessantesten deutschsprachigen Autoren.

Reinhard Kaiser-Mühlecker gibt den Bäuerinnen und Bauern eine Stimme. Er bringt ihre Nöte und ihren Alltag in eine literarische Form.

Reinhard Kaiser-Mühlecker zeigt mit diesem Roman abermals, dass es ihm gelingt wie den wenigsten, einen ganz eigenständigen Ton anzuschlagen.

[...] hochgradig lesenswert. [...] Da ist die bewährte große sprachliche Meisterschaft des Autors noch feinste Nuancen und Verschiebungen im Gefühls- und Stimmungsleben von Menschen zu erfassen.

1


Wie nach Landregen oder Sturm sah der Himmel aus; er war hoch und weit und von einem einheitlich frischen, hellen Blau. Scharf gezeichnet standen die Berge im ausladenden Halbkreis am Horizont, und im dicht bewaldeten Vorgebirge konnte man die Wipfel einzelner dürrer Fichten ausmachen. Nur im Osten zog sich ein Wolkenband durch das Blau, an den Rändern geriffelt wie das helle Innere einer Muschel, so dass man’s am liebsten hätte berühren und herausfinden wollen, ob es sich auch so weich und geheimnisvoll anfühlte. Noch durch die Gläser der Sonnenbrille schien dieses Band einen intensiven Ton zwischen Orangefarben und Rosarot zu haben, den der Himmel in den Abendstunden dieser ungewöhnlich warmen Herbsttage jeweils annahm, allerdings nicht im Osten, sondern im Westen.

Alle paar Minuten fuhr zwischen anderen Fahrzeugen – Autos, Motorrädern, Mopeds und anhängerziehenden Traktoren – ein tiefroter Lastwagen vorbei, und es war, als erregten nur diese LKWs ihre Aufmerksamkeit, zumindest nahm sie nur ihretwegen den Blick vom Himmelsgewölbe, sah ihnen hinterher, wie sie randvoll mit lehmiger, rostfarbener Erde beladen nordwärts, Richtung Ebene, davonbrausten, um leer wiederzukehren und weiter vorne, am Kreisverkehr, der außerhalb ihres Sichtfelds lag, zu verschwinden. Sie wusste nicht, weshalb sie ausgerechnet ihnen hinterherschaute, und bemerkte lange Zeit nicht einmal oder nur halb, dass sie’s überhaupt tat.

Allmählich verlor sich das Licht, als wanderte es zurück in die Dinge oder den Himmel oder die Erde oder überallhin zugleich. Das Geläut der Kirchenglocken holte sie heraus aus dem namenlosen Zustand, in dem sie die vergangene Stunde – oder waren es zwei, oft vergaß sie die Zeit dabei, vergaß mitunter sogar, welches Jahr gerade war – verbracht hatte, und sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk und danach auf ihren Arm: Die Bräune des Sommers war noch nicht ganz verschwunden; auch wenn die Sonne schon schwach war, frischten die Stunden im Freien sie noch einmal ein wenig auf. Sie erhob sich und verließ die Terrasse oder was es war: eigentlich bloß das mit Bitumenbahnen geflämmte Flachdach der ans Haus angeschlossenen Garage, das über eine Balkontür zu erreichen war und auf dem zwei neu aussehende Liegestühle aufgeklappt standen. Bevor sie über die Schwelle stieg, stützte sie sich an der unverputzten, da und dort jedoch schon bröckeligen Ziegelmauer ab und streifte sich die Fußsohlen ab: winzig kleine Steinchen klebten daran. Dann ging sie den Flur entlang und stieg die lange, freischwingende und unter keinem Schritt knarzende Treppe hinab.

Fast erschrak sie, als sie ihn im Anzug, schwarzen Hemd und blitzblank polierten Schuhen, die Hände auf dem Bauch gefaltet, auf der Couch liegen sah, als wäre er es, den es zu betrauern galt. Doch im Näherkommen stellte sie fest, dass er die Augen offen hatte und seine Augäpfel langsam hin und her wanderten, über das Dorf hin, das sich jenseits der verglasten Wand unter ihnen ausbreitete.

»Fertig?«, fragte er, ohne mit seinem Schauen, in dem weder Suchen noch Ungeduld waren, aufzuhören oder auch nur auszusetzen.

»Ja«, sagte sie, »sofort«, kehrte um und stieg wieder ins Obergeschoss hoch, nahm ein kariertes dunkelblaues Kleid aus dem Schrank und ging damit ins Schlafzimmer und zog es über den Bikini. Dann ging sie ins Badezimmer und trug etwas Rouge auf, nur so ein bisschen an den Wangenknochen, dann noch ein wenig mehr; da hörte sie, wie die Haustür aufging und wieder zufiel. Sie legte den Pinsel und die Dose weg, schlüpfte in Schuhe mit kleinem Absatz, nahm ihre Handtasche und verließ das Haus.

Er saß schon im Auto, und der Motor lief. Sie stieg in den silberfarbenen Audi, der dem Großvater gehört hatte, und zog die Tür zu.

»Wir sind zu spät«, sagte er und fuhr los.

»Ja«, sagte sie; sie konnte den Geruch von Kölnisch Wasser riechen.

Inzwischen war es dunkel geworden, und die Straßenlaternen warfen ihr gelbes Licht, in dem da und dort ein Schwarm Mücken schwirrte, auf den Asphalt. Sie parkten, stiegen aus, gingen raschen Schritts durch die kühle, feuchte Abendluft zur Kirche und betraten sie – er vor ihr – durch den Hintereingang.

Sie waren tatsächlich zu spät; die Andacht hatte bereits begonnen. Sie setzten sich in die letzte Reihe, und obwohl der eine oder andere kaum merklich den Kopf drehte, war es, als hätte niemand ihr Kommen bemerkt.

Hier und da stockend, als könne er ein Wort nicht entziffern, las der Vorbeter mit eintöniger Stimme von einem Zettel ab, was die Familie des Verstorbenen ihm – oder dem Pfarrer – von jenem erzählt hatte. Und seltsam war, dass in diesem Reden von einem abgeschlossenen Leben öfter als von Menschen – die zwar vorkamen: Eltern, Frau, die fünf Kinder – von Baustellen und Maschinen die Rede war, von Dingen, die im Zusammenhang mit dem landwirtschaftlichen Betrieb standen, dessen Besitzer der Verstorbene lange Zeit gewesen war. Auf eine vor dem Tabernakel aufgestellte und die Sicht auf ihn verdeckende Leinwand wurden Bilder von den erwähnten Dingen projiziert: dem neuen Maststall mit dreihundert Plätzen, später dem Zuchtstall, »weil man geschlossen sein wollte«, dem Steyr-Traktor aus dem Jahr vierundsiebzig mit dem damals neuartigen Getriebe, der aus der DDR importierten Ballenpresse und dem Rückewagen, der aus der Konkursmasse eines abgehausten Händlers herausgekauft worden war von dem geschickten Verstorbenen – »für fast nichts«.

Den unwillkürlich auftauchenden Gedanken, was eines fernen Tages bei ihrer eigenen Beerdigung gesagt werden würde, welche Bilder gezeigt werden würden – falls auch bei ihrer Beerdigung jemand so geschmacklos sein sollte und Bilder zeigen würde –, verscheuchte sie und dachte stattdessen darüber nach, dass sie an diesen Mann, der während vieler Jahre ihr Nachbar gewesen war, keine Erinnerung hatte. Sie wusste nicht einmal, wie er ausgesehen hatte, und das Bild, das sie auf dem Altar aufgestellt hatten, löste keine Erinnerung in ihr aus; vielleicht einfach nur, weil es zu weit weg stand und sie es nicht scharf sehen konnte; nur die Glatze konnte sie erkennen, die Brille und eine leuchtend gelbe Krawatte. Vielleicht nicht nur deshalb; denn zwar hatte sie mit Widerwillen auf die projizierten Bilder geschaut, aber als sie vor ein paar Tagen gehört hatte, dass er gestorben war, hatte sie an kein Gesicht gedacht, an keine Stimme, sondern an nichts anderes als an ebendiese Dinge.

Nachdem das Ablesen beendet war, faltete der Vorbeter den dabei flatternden Zettel zusammen, räusperte sich und hob an, den Rosenkranz zu beten, und schon nach dem Kreuzzeichen fiel die versammelte Menge ein – vierzig, fünfzig Menschen, bis auf die bei den Kindern des Verstorbenen in den vorderen Reihen sitzenden Enkel und Urenkel kaum einer nicht weiß- oder zumindest grauhaarig, und nicht einer im Anzug oder Kleid, sondern alle in Jeans und Anoraks –, und auf einmal war der eben noch hallende Raum von einem dunklen Dröhnen erfüllt, das noch in den letzten Winkel drang. Und nach einem Moment fielen auch sie beide unwillkürlich ein, und die an- und abschwellenden Gesätze machten sie schläfrig. Wie zwei große, gleichmäßig herannahende Wellen, die sie schon lange nicht mehr durch sich hindurchrollen gespürt hatte, so fühlte es sich an, wie Atemzüge eines anderen, größeren Wesens, das für einen atmete und dem man sich überlassen konnte … Es war, als würde sie zurück in die Kindheit getragen und als wäre sie dort, damals – Zeit und Ort waren eins –, geborgen gewesen. Und war sie das denn nicht irgendwie auch, zumindest ganz am Anfang ihres Lebens? Vielleicht; wahrscheinlich; aber sie konnte sich eigentlich kaum noch daran erinnern, wusste nur noch, dass diese Kindheit schier endlos gedauert hatte und sie sich zunehmend wie in etwas gefangen fühlte, einer Welt, in der es beständig Veränderungen gab, an allem und an allen, während nur bei ihr selbst alles gleich blieb und nichts sich änderte, nichts Wesentliches, auch nicht, als sich etwas hätte ändern müssen. So lange hatte ihre Kindheit gedauert, dass man in der Schule schon gespottet hatte über sie, und dann, an ihrem fünfzehnten Geburtstag, hatte sie doch so jäh geendet. Erst von da, von diesem Ende an, hatte sie wirkliche Erinnerungen, als wäre das Ende ein Anfang, als hätten Nebel sich gelichtet.

Der Rosenkranz war vorbei. Die Leinwand wieder weiß. Es war warm in der Kirche; ihr war warm. Es war wie ein Erwachen unter dicken Daunen, in das hinein Gesang ertönte:

»Herr, ich bin dein Eigentum, / dein ist ja mein Leben. / Mir zum Heil und dir zum Ruhm / hast du mirs gegeben. / Väterlich führst du mich / auf des Lebens Wegen / meinem Ziel entgegen.«

Nach dem Ende des Lieds trat der Vorbeter, der sich gesetzt hatte, wieder an den Ambo, bedankte sich im Namen der Trauerfamilie für die Teilnahme an der Andacht, die hiermit beendet sei, und entfaltete erneut einen Zettel. Der Verstorbene würde dann und dann zu seiner letzten Ruhestätte geleitet, im Anschluss daran würden persönlich Geladene sowie die Folgenden zur Zehrung geladen, worauf er eine Reihe an Namen oder eher Funktionen ablas. Danach verabschiedete er sich, faltete den Zettel zusammen und verschwand mit eingezogenem Kopf durch die Seitentür zur Sakristei.

»Gehen wir«, flüsterte er ihr zu – von oben herab, denn er stand bereits.

»Ja doch«, sagte sie lauter als beabsichtigt und stand ebenfalls auf.

Meinte er denn, sie wolle...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Ein Buch von S. Fischer • Emanzipation • Landwirtschaft • Lebensentwurf • Longlist Österreichischer Buchpreis • Österreich • Shortlist Österreichischer Buchpreis • Unabhängigkeit • Verflechtungen der Vergangenheit
ISBN-10 3-10-491887-2 / 3104918872
ISBN-13 978-3-10-491887-7 / 9783104918877
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