Teufels Bruder (eBook)
480 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60889-3 (ISBN)
Lese- und Medienproben
Matthias Lohre, Jahrgang 1976, ist Schriftsteller, Historiker und Journalist. Von 1996 bis 2001 studierte er Mittlere und Neuere Geschichte, Anglo-Amerikanische Geschichte und Anglistik an der Universität zu Köln und schloss mit dem Magister Artium ab. Von 2005 bis 2014 arbeitete er als Politikredakteur und Kolumnist der taz in Berlin. Sein autobiografisches Sachbuch »Das Erbe der Kriegsenkel« platzierte sich 2016 in der Spiegel-Bestsellerliste. Den Nachfolger »Das Opfer ist der neue Held« (2019) übernahm die Bundeszentrale für politische Bildung in ihre Schriftenreihe. Lohres Artikel zu geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Themen erscheinen u.a. in der Zeit, Zeit Geschichte, Geo Epoche und P.M. History. Sein Debütroman »Der kühnste Plan seit Menschengedenken« wurde 2021 von der Kritik einhellig gelobt. Mit Frau und kleinem Sohn lebt Lohre in Berlin.
Matthias Lohre, Jahrgang 1976, ist Schriftsteller, Historiker und Journalist. Von 1996 bis 2001 studierte er Mittlere und Neuere Geschichte, Anglo-Amerikanische Geschichte und Anglistik an der Universität zu Köln und schloss mit dem Magister Artium ab. Von 2005 bis 2014 arbeitete er als Politikredakteur und Kolumnist der taz in Berlin. Sein autobiografisches Sachbuch »Das Erbe der Kriegsenkel« platzierte sich 2016 in der Spiegel-Bestsellerliste. Den Nachfolger »Das Opfer ist der neue Held« (2019) übernahm die Bundeszentrale für politische Bildung in ihre Schriftenreihe. Lohres Artikel zu geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Themen erscheinen u.a. in der Zeit, Zeit Geschichte, Geo Epoche und P.M. History. Sein Debütroman »Der kühnste Plan seit Menschengedenken« wurde 2021 von der Kritik einhellig gelobt. Mit Frau und kleinem Sohn lebt Lohre in Berlin.
Rom, 29. April 1953
Je länger er auf dem Balkon stand, die würzige Frühlingsluft einatmete und zusah, wie dort unten junge Menschen zwischen Straßenbäumen und besonnten Hausfassaden promenierten, desto verlockender erschien es ihm, über die Brüstung zu klettern und mit der verbliebenen Entschlossenheit seiner siebenundsiebzig Jahre hinunterzuspringen. Er stellte sich vor, wie die Dinge im Fallen ihre Form abstreiften, sich auflösten in Licht und Wärme, wie er endlich mit allem eins würde, und schloss die Augen. Sein müdes Herz begann zu rasen, und er griff die Brüstung fester, bis die Hände schmerzten. Mühsam atmete er ein und aus, ein und aus, und bald erinnerte nur noch ein Zucken im Mundwinkel an den Moment der Schwäche. Dem alten, nie vergessenen Traum durfte er nachhängen, sich ihm aber niemals hingeben.
Mit einem Ruck wandte er sich ab und trat zurück in die Suite. Als er die Balkontür hinter sich schloss, sprang Algy an seinen Beinen hoch.
»Hierher. Hier!« Katia wies auf den Teppichboden neben dem Stuhl, in dem sie die morgendliche Post sortierte. Zwar gehorchte der schwarze Pudel nicht, ließ aber immerhin von seinem Herrn ab und beschnüffelte einen von Dutzenden Blumensträußen, die das Zimmer mit schwerem Duft erfüllten.
»Nach der Audienz, da hätten wir zurückreisen sollen«, sagte sie. »Wir wären jetzt schon in der Luft.«
In fast fünfzig Jahren Ehe hatte er es sich abgewöhnt, seiner Frau zuzustimmen, wenn sie recht hatte. Es kam einfach zu häufig vor. Wie er vorhin das Knie vor Pius XII. beugte und den Ring des Fischers küsste, das bildete den idealen Schlusspunkt einer Geschichte, die vor mehr als einem halben Jahrhundert in Scham und Schande begonnen hatte. Seiner Geschichte. Warum hatte er dann der Fahrt in die Berge zugestimmt?
Als es an der Tür klopfte, seufzte er gequält.
»Du hast es so gewollt«, sagte sie, ohne aufzublicken.
»Sie sind zu früh. Fast dreißig Minuten.« Er griff sich an den Hals.
Wieder klopfte jemand.
»Was ist denn?«, rief sie. Zur Antwort kam unverständliches Murmeln. »Herrgott. Na, dann kommen Sie herein!«
Ein Page trat, eine Verbeugung andeutend, ins Zimmer. Wortlos trug er zwei Blumenbouquets zu den anderen. Auf dem Rückweg legte er, ohne den Schritt zu verlangsamen, einen länglichen Umschlag auf den Tisch.
»Was ist das?«, fragte Katia laut.
Der Hotelbedienstete hielt widerstrebend inne, drehte sich um und rang die Hände. »Ein Herr bat mich, es Ihnen zu geben. Er sagte, er warte unten, für den Fall, dass Sie so freundlich sein wollen, ihn vorzulassen. Verzeihen Sie, bitte. Ich dachte, Sie wüssten davon.«
Katia schaute auf das Kuvert, an dem eine Visitenkarte heftete. »Fabius von Gugel?« Sie sah zu ihrem Mann. Der schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Nehmen Sie’s wieder mit. Und wenn Sie so etwas noch einmal machen, melde ich Sie dem Direktor.«
Mit gesenktem Kopf griff der Page den Umschlag und eilte zum Ausgang. Als er die Klinke drückte, glitt ein Bogen Papier auf den Teppichboden. Die Tür schloss sich.
Normalerweise hätte er Katia mit einem Blick auf das Ärgernis aufmerksam gemacht. Vielleicht aber fiel ihm, als er darauf zutrat, etwas ins Auge. Jedenfalls bückte er sich ächzend und hob es auf.
Es war eine Zeichnung, schwarz auf weiß. Ihr Stil ähnelte den spätmittelalterlichen Stichen, die er im Hexenhammer gesehen hatte. Doch was sie zeigte, war einem Traum ähnlicher: Vom Himmel breiteten sich Sonnenstrahlen in alle Richtungen aus. Wo die Sonne – oder das Antlitz Jesu – hätte prangen müssen, blickte ein Augenpaar den Betrachter an. Darunter tanzten eine Nase und ein buschiger Schnurrbart, der in dunkle Wolken überging. Die untere Bildhälfte füllte eine geschwungene Küstenlinie, gesäumt von Klippen und einer Art Festungsanlage. Aus einem Gebäude loderten Flammen, doch die schien niemand zu beachten – weder das riesige Augenpaar noch die Silhouette, die im Vordergrund auf einer Anhöhe stand. Das Wesen war weder Frau noch Mann, und, abgesehen von einem Strumpfband am rechten Oberschenkel, nackt. Sein sonderbarer Mund ähnelte dem Maul eines Lurchs. In der Linken hielt es einen Mantel – oder: nein, keinen Mantel, eher eine Art Hautsack, von dem Beine, Brüste, Arme und ein Gesicht schlaff herunterhingen. Daraus troff eine dunkle Flüssigkeit, die sich in einer Lache sammelte. Das Seltsamste aber war, dass das Wesen offenbar keine Schmerzen litt, sondern gelassen, ja, erstarkt wirkte, als hätte es eine zu eng gewordene Hülle abgestreift wie eine Schlange ihre Haut.
Trotz der südlichen Wärme war ihm, als umspüle kaltes Wasser seine Füße. Als er das Blatt fortlegen wollte, fiel sein Blick auf die Handschrift auf der Rückseite.
Er las.
Erst ein Drücken in der Kehle, dann pochende, beinahe schmerzhafte Herzschläge. Das Wasser stieg.
Hastig drehte er das Blatt wieder um: Der Küstenstreifen – formte der nicht eine große Bucht? An dem Schenkel des Mannfrauwesens hing kein Strumpfband – das waren Löcher. Und der Mund – wie hatte er es übersehen können? – glich keinem Amphibienmaul, sondern einer Reihe kleiner, tiefer Stiche. Dazu das zu Boden triefende Blut, all das Blut.
Alles war wieder da, Zeit und Raum eine Illusion. Er setzte sich.
»Tommy?«
»Es geht schon.«
»Komm, ich sage ab.« Sie nahm den Hörer.
Er schüttelte den Kopf.
»Was willst du dir da oben überhaupt anschauen? Mandadori sagt doch, das alte Haus …«
»Katia …«
Widerwillig ließ sie den Hörer sinken und widmete sich – mit siebzig Jahren noch immer kopfschüttelnd über jeden Starrsinn, der nicht der eigene war – wieder der Post. Ihren Mund umgab ein Strahlenkranz aus Falten; die schwarzen Augen aber glänzten wie einst. Bis heute schien Katia, getrieben von einer ihm fremdartigen Energie, nichts und niemanden zu fürchten. Ihr würde er weder seine zitternden Hände zeigen noch erzählen von der Panik, die ihn für Augenblicke überschwemmte. Er hätte nicht herkommen dürfen, auch nicht nach all den Jahren.
Mehr als einmal hatten ihn, umringt von den immer gleichen Sektempfangsgesichtern, die Nerven im Stich gelassen. Das Klirren eines Glases, das Tremolo eines Wortes, gesprochen zwei Stehtische weiter, hatten genügt, ihn für Sekunden zu betäuben. Und in der Sixtinischen Kapelle war er, zum ersten Mal seit damals Aug in Aug mit dem Jüngsten Gericht, nicht allein vor Rührung verstummt. Vor einer Blamage bewahrt hatten ihn nur der routinierte Blick ins Leere und Katias leitende Hand.
Natürlich wäre es klüger, die strapaziöse Fahrt in die Berge abzusagen. Aber mochte auch die ganze Welt seine Rückkehr nach Italien als Triumph feiern – wenn er zurückscheute vor dem, was ihm in Palestrina begegnen mochte, wäre alles schal. Deshalb musste er dorthin. Aber hatte er die Kraft dazu?
Er hielt das Papier in seiner zitternden Hand. Das kalte Wasser stieg nicht länger, wich aber auch nicht.
»Ruf unten an.«
»Ja? Gut, Tommy. Ist besser so. Schlaf ein wenig. Ich wecke dich zum Diner.«
»Nicht das.«
Als sie aufblickte und die Zeichnung sah, zog sie die Brauen zusammen. »Du willst doch nicht etwa …«
»Wir haben noch etwas Zeit.«
»Du brauchst Ruhe.«
Doch er schwieg, und so griff sie seufzend zum Hörer.
Kurz darauf stand ein schlanker, elegant gekleideter, fast noch junger Mann im Zimmer. Den Umschlag hielt er an die Seite gedrückt und nickte seinen Gastgebern höflich, aber ohne Scheu zu.
»Wenn ich Sie recht verstehe, mein Herr, haben Sie da eine Reihe von Zeichnungen. Nun denn«, er räusperte sich und hielt das Blatt hoch, »was ist das?«
Fabius von Gugel lächelte. »Gefällt es Ihnen?«
Als er keine Antwort erhielt, blinzelte er mehrere Male, öffnete hastig den Umschlag und breitete die Bögen auf dem Esstisch aus. »Das Ganze ist ein Zyklus.« Anfangs, erklärte er, während er Bild um Bild nebeneinanderlegte, habe er das Märchen von Aschenbrödel illustrieren wollen. Aber nach und nach hätten sich ihm Figuren aufgedrängt. Seltsame Figuren, die er selbst nicht...
Erscheint lt. Verlag | 10.1.2025 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Biografischer Roman • Bruderroman • Buddenbrooks • Familienroman • Heinrich Mann • Italienische Reise • Jubiläum • Literaturnobelpreis • Thomas Mann • Zauberberg |
ISBN-10 | 3-492-60889-2 / 3492608892 |
ISBN-13 | 978-3-492-60889-3 / 9783492608893 |
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