Bei den Minderen Brüdern -  Andreas Heidtmann

Bei den Minderen Brüdern (eBook)

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2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Frankfurter Verlagsanstalt
978-3-627-02332-4 (ISBN)
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Die 1970er Jahre im Ruhrgebiet: Ben Schneider steht vor dem Abitur, als er wegen der Erkrankung seiner Mutter in das Internat eines Franziskanerklosters am äußersten Rand des Ruhrgebiets geschickt wird. Eine abgeschottete klösterliche Welt mitten in einer Kleinstadt zwischen Gelsenkirchen und Recklinghausen, in der die Patres ihr Regiment fu?hren - ein trotz aller Reglementarien durchaus mildes und mit kleinen weltlichen Gaben und Genu?ssen zu bestechendes Umfeld, in dem die Halbstarken ihre Rangordnung in verbalen Schlagabtäuschen ausfechten, Bens Telefonate mit seiner ersten großen Liebe Rebecca in abgezählten Minuten Raum finden mu?ssen und sich seine Liebe zur Musik in nächtlichen Improvisationen am mondbeschienen Flu?gel der Marke Feurich ausdru?ckt. Das bereits bru?chige und disparat-schwebende Gefu?ge von Bens Lebenswirklichkeit gerät in eine Phase des Umbruchs und des Abschieds, als sich das Geru?cht u?ber den Abriss des Klosters zugunsten eines Woolworth-Einkaufscenters als Tatsache herausstellt. Zwischen Musikikonen wie Hendrix und Pink Floyd, die ebenso allgegenwärtig sind wie die Gebete der Patres oder Mahler und Chopin, entfaltet der Roman so seine ganz eigene versöhnlichheitere Atmosphäre. »Selten kam Desillusionierung mit einem so heiteren, ja liebevollen Verständnis fu?r Illusionen daher«, schrieb die Presse u?ber Andreas Heidtmann; und auch jetzt, im dritten seiner autofiktionalen Romane, erzählt Heidtmann seine Geschichte mit Heiterkeit und großem Einfu?hlungsvermögen und folgt mit Sympathie den Abenteuern und Verwerfungen des Lebens seines jugendlichen Alter Egos.

Andreas Heidtmann wurde 1961 am Niederrhein geboren und wuchs zwischen Ruhrgebiet und Mu?nsterland auf. An der Kölner Musikhochschule studierte er Klavier und anschließend Germanistik in Berlin. Er arbeitete als Lektor und gru?ndete in Leipzig das literarische Webportal »poetenladen«, aus dem der »poetenladen Verlag« als erfolgreicher Independent-Verlag erwuchs. Heidtmann wurde mit dem Hermann-Hesse Preis, dem Lessing-Förderpreis, dem Kurt-Wolff-Förderpreis und mehrfach mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet. 2020 erschien sein Roman »Wie wir uns lange Zeit nicht ku?ssten, als ABBA beru?hmt wurde« und 2023 »Plötzlich waren wir sterblich«.

Andreas Heidtmann wurde 1961 am Niederrhein geboren und wuchs zwischen Ruhrgebiet und Münsterland auf. An der Kölner Musikhochschule studierte er Klavier und anschließend Germanistik in Berlin. Er arbeitete als Lektor und gründete in Leipzig das literarische Webportal »poetenladen«, aus dem der »poetenladen Verlag« als erfolgreicher Independent-Verlag erwuchs. Heidtmann wurde mit dem Hermann-Hesse Preis, dem Lessing-Förderpreis, dem Kurt-Wolff-Förderpreis und mehrfach mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet. 2020 erschien sein Roman »Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde« und 2023 »Plötzlich waren wir sterblich«.

Distanzen


Ich hatte keine Ahnung, wie viele Geräusche es auf der Welt gab, aber das, was an mein Ohr drang, hörte sich an, als wäre ein Großteil von ihnen in der Telefonleitung versammelt. Schloss ich die Augen, stand ich in einem Dschungel. Dabei führte die Verbindung durch eine übersichtliche Region, fern jeder Wildnis, fünfhundert Kilometer zwischen Rebecca und mir. Dazu eine Grenze, die das Land teilte. Ich nahm an, dass sich entlang der Leitung Scharen von Horchposten formierten, um Wort für Wort zu sortieren und jede Nuance einzufangen. War Sehnsucht verdächtig? Summende Gerätschaften protokollierten jeden Laut und schufen aus dem endlosen Strom der Telefonsätze ein großes Epos der Nichtigkeit.

Ich war erleichtert, als sich aus der Ferne eine Stimme meldete. Es hätte mir um einiges besser gefallen, wenn es Rebeccas Stimme gewesen wäre und nicht die ihrer Schwester. Ins schwächer werdende Rauschen rief ich meinen Namen.

Rebecca übt gerade, antwortete Maren.

Wir sind verabredet, sagte ich.

Sie lässt sich ungern stören.

In diesem Fall wird sie sich freuen.

Sagst du.

Weil sie auf meinen Anruf wartet.

Besser, du probierst es später noch mal.

Ich muss sie jetzt sprechen!

Wahrscheinlich bricht sie heute ihren eigenen Rekord im Klavierspielen.

Ich bildete mir ein, Maren blickte bei ihren Worten ungeniert auf ihre Fingernägel, die sie kirschrot lackiert hatte. Oder schwarz. Sie waren lang genug, um jedem zu signalisieren, dass mit ihnen kein Instrument, schon gar keins mit Tasten, zu bedienen war. Es klackte in der Leitung, und tatsächlich war ich im selben Moment allein mit den Geräuschen. Ein Zittern durchlief meine Hand, und ich musste achtgeben, mich nicht heulend in die Ecke zu werfen.

Das waren kurze fünf Minuten, sagte Pater Albert.

Die Technik, sagte ich.

Gibt es überhaupt ein Stück in Ces-Dur?

Ich denke schon, sagte ich, um nicht sein Wohlwollen zu verspielen. Allerdings beschäftigten mich andere Fragen als die nach einer entlegenen Tonart, die allenfalls für Harfenisten von Interesse war.

Mit Ces-Dur, sagte ich, sind Sie den höheren Sphären ein Stück näher als mit jeder anderen Tonart!

Da ich fürchtete, vor dem Clubraum wieder auf Siggi Kinzel zu treffen, wandte ich mich zum Ausgang. Ich konnte an der Franziskanerkirche vorbei zum Markt gehen und von dort zur Lippe, um die Zeit bis zum nächsten Anrufversuch zu überbrücken. Leider empfing mich vor dem Konvikt ein scharfer Wind, der Schübe von Nässe mit sich führte. Alles, was ich trug, war mein Baumwollhemd, das wie ein Frotteetuch den Regen aufsog. Bei Kaiser’s durchstöberte ich das Süßwarenangebot nach Ritter-Sport-Sorten. Ich war mir nicht sicher, wie viele es gab, neun oder zwölf, angefangen von der hellblauen Vollmilch bis zur Joghurtvariante in Weiß, aber ausgerechnet die von Pater Albert bevorzugte Sahne-Mocca-Tafel fehlte. Verrückt! Ich kaufte eine Schachtel Camel, filterlos, und reihte mich an der Kasse ein.

Nass geworden?, fragte jemand und stellte zwei Flaschen Korn aufs Warenband. Ich verschwand aus der Neonhelle in den stürmischen Novemberabend. Tatsächlich war es wie auf einen Schlag dunkel geworden, oder ich hatte über das Stöbern im Süßwarenregal jedes Zeitgefühl verloren. Gleich nebenan leuchtete das Schaufenster des Buchladens König. Mein Geld reichte bedauerlicherweise nicht für eines der ausliegenden Bücher. Das Wort Nobelpreis schmückte die Cover des Autors Saul Bellow. Mir gefiel Reiner Kunzes Titel Die wunderbaren Jahre. Mick, der einen Besuch angekündigt hatte, konnte geradewegs in ein Geschäft gehen und ohne viel Aufhebens Zigaretten oder ein paar Riegel Mars unter sein Leopardenhemd stecken, um damit ganz selbstverständlich den Laden wieder zu verlassen. Mit fehlte die Gelassenheit. Ich war kein Aneignungstalent. Also musste ich bis auf Weiteres auf die wunderbaren Jahre verzichten.

Inzwischen spürte ich die Nässe bis auf die Haut. Plötzlich empfand ich es als empörend, dass Maren einfach aufgelegt hatte. Vielleicht war der Regen schuld, dass ich ihr Verhalten erst jetzt im triefend nassen Hemd als entwürdigend empfand, auch wenn sie nichts für den Regen konnte oder für Leute, die über mein Aussehen spotteten.

Pater Albert löste immer noch Kreuzworträtsel, als wäre es eine Art Denksport, der Trost versprach. Ich fror, und meine Finger zitterten, als ich den Zettel mit der Telefonnummer hervorzog. Dummerweise hatte er Nässe abbekommen, sodass einige Ziffern nicht mehr zweifelsfrei zu erkennen waren.

Dürfte ich noch einmal, Pater Albert?, fragte ich mit Blick zum Telefonapparat und bemühte mich, weder frustriert noch verärgert zu wirken.

Ein Internat ist kein Telefonamt, sagte Pater Albert.

Mir kamen tausend Erwiderungen in den Sinn, eine treffender als die andere und keine sehr diplomatisch. Am Ende entschied ich mich für die einzige Antwort, die funktionierte, und holte die dunkelblaue Ritter Sport hervor. Schob sie vorsichtig auf die Theke, nicht wie ein Angebot, sondern wie etwas, was man kurz ablegt, um es später wieder an sich zu nehmen.

Pater Albert schüttelte traurig den Kopf.

Es ist ein Notfall, sagte ich, Sie wollen doch sicher nicht, dass ich mich aus dem achten Stock stürze.

Das Haus hat nur drei!

Umso schlimmer!

Tria minuta, sagte Pater Albert und streckte zur Verdeutlichung drei Finger in die Luft, was wie ein Schwur aussah.

Gratias!, sagte ich und schnappte den Apparat, um mich in den Telefonwinkel zurückzuziehen. Bei der letzten Ziffer musste ich raten. Doch wenn das Rauschen und Surren etwas verriet, so besagte es, dass es dieselbe Distanz war. Dasselbe Gewoge an- und abschwellender Laute. Vier, fünf Sekunden vergingen, ehe sich eine Stimme meldete. Wie schön, wäre dort, am andern Ende der Wildnis, Rebeccas Stimme gewesen und nicht die ihrer Schwester. Wahrscheinlich hätte ich das Kreuz in meinem Zimmer nicht leichtfertig abhängen dürfen.

Du hast Pech, sagte Maren.

Solange ich nicht wusste, was sie gnädig stimmte, fragte ich: Was übt Rebecca denn?

Etwas mit vielen Tönen, sagte Maren.

Du könntest an ihrer Tür klopfen.

Wäre das nicht unhöflich?

Was hältst du eigentlich von Somebody to Love? Wenn uns etwas verband, war es eine gewisse Begeisterung für Queen. Und natürlich für Freddie Mercury und seine unvergleichliche Stimme.

Hast du es mal bei der Telefonseelsorge probiert?, fragte sie.

Na, sagte ich spaßhaft, ich habe ja dich.

Im selben Moment hörte ich ein Geräusch, als falle etwas zu Boden. Gleich darauf ein Türenschlagen. Helle Rufe. Ein Kichern. Dann plötzlich – überraschend klar – Rebeccas Stimme. Obwohl ich im durchnässten Hemd dastand und fror, hätte ich in dieser Sekunde auf ihre Frage, wie es mir gehe, ohne Zögern geantwortet: Wunderbar! Aber Rebecca fragte mich nicht, sondern rief in den hallenden Flur hinein, dass es unmöglich und eigentlich eine Unverschämtheit sei, was ihre Schwester sich herausnehme.

Tut mir leid, sagte sie mit einem Mal sehr nah.

Kein Weltuntergang, sagte ich.

Maren ist einfach in einer Phase … was soll ich sagen, dreizehn eben!

Bin schon zu alt, um mich daran zu erinnern.

He, wie lebt es sich unter den Erleuchteten?

Glück sieht anders aus, antwortete ich und bedauerte, dass ich die Gelegenheit verpasst hatte, zu sagen: Wunderbar!

So schlimm?, fragte Rebecca.

Ich habe nur drei Minuten, sagte ich.

Jetzt grimassiert sie auch noch!

Dreizehn eben.

Ich werde dich auf jeden Fall besuchen!

Spätestens an der Pforte wirst du scheitern.

Pessimist!

Augenblick mal, sagte ich, da im Hintergrund Pater Albert mit seinem Stift aufs Holz zu klopfen begonnen hatte. Das rhythmische Ticken machte mich nervös, allerdings konnte ich schlecht sagen: Lassen Sie das bitte mal, ich habe ein dringendes Gespräch zu führen. Pater Albert deutete auf die Uhr im Foyer. Es war einfach Pech, dass ich nicht die richtige Ritter Sport gefunden hatte. Ab sofort würde ich jeden Laden, den ich aus welchem Grund auch immer betrat, zuerst daraufhin sichten, ob er die Sorte Sahne-Mocca führte, und falls ja, das Angebot für Pater Albert aufkaufen. Andererseits war es kein Drama, sich sein Leben in Briefen zu erzählen. Ohne die vielen Briefabende vergaß man wahrscheinlich irgendwann seine Wünsche und die des anderen und wusste nicht mehr, warum man zusammen war.

He, fragte Rebecca, bist du noch da?

Wir lassen uns etwas einfallen, sagte ich.

Wie lange musst du bleiben?

Keine Ewigkeit.

Komm, flüsterte sie, küss mich!

Pater Alberts Stift klopfte ungeduldig, und ich rief aus meinem Winkel: Eine Sekunde noch, Pater Albert!

Wir könnten natürlich auch heute Nacht im selben Augenblick aneinander denken!

Das können wir, sagte ich. Wie immer Rebeccas Vorschlag zu verstehen war und woher immer wir wissen wollten, wann der gemeinsame Moment gekommen war.

Die Verbindung brach ab, als wäre das Aneinanderdenken das Stichwort für die Gesprächsunterbindung. Kein Rauschen mehr, kein letztes Bis bald. Was ich ans Ohr presste, war ein beliebiges Stück Plastik.

Pater Albert sah nicht von seinem Kreuzworträtselheft auf, als ich den Apparat zurückstellte. Dorthin, wo es noch andere Schalter gab, bis hin zum Tastenfeld, mit dem er Verbindungen in...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1970er • Abitur • Autobiografie • Autofiktion • Erste Liebe • Franziskaner • Gelsenkirchen • Jimi Hendrix • Kleinstadt • Kloster • Musik • Pink Floyd • Rock • Ruhrgebiet • Siebziger Jahre
ISBN-10 3-627-02332-3 / 3627023323
ISBN-13 978-3-627-02332-4 / 9783627023324
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