Ihre Schuldgefühle, ihre Suche nach Sinn und Nähe treiben beide, Ivan und Peter, zu den Frauen in ihren Leben. Doch jeder von ihnen muss einen Weg finden, eine übermächtige Aufgabe zu meistern: wirklich zu trauern. Und wirklich zu lieben.
Mit ihrem neuen Roman lässt Sally Rooney, eine der prägenden Autorinnen ihrer Generation, alle Zuschreibungen hinter sich und beweist, dass sie wie kaum jemand sonst wahrhaft menschliche Charaktere zu zeichnen versteht. Menschliches Begehren, menschliche Verzweiflung, menschliches Erkennen, das Geheimnis menschlicher Verbindung: Intermezzo ist aufwühlend und tröstend, eine Geschichte von Brüdern und Liebenden, erzählt mit der Spannung eines lang angehaltenen Atemzugs, der sich schließlich zu einer Auflösung von außergewöhnlicher emotionaler Wucht öffnet.
Sally Rooney, geboren 1991, studierte am Trinity College und lebt in Dublin. 2017 erschien ihr gefeierter Debütroman Gespräche mit Freunden. Ihr zweiter Roman Normale Menschen wurde 2018 zum weltweiten Bestseller und literarischen Ereignis – er ist die Vorlage für die international erfolgreiche TV-Serie »Normal People«, deren Drehbuch sie mitverfasste. Sally Rooney gehört zu den herausragendsten Autorinnen der Gegenwart und gilt als ausdrucksstärkste Stimme ihrer Generation. Schöne Welt, wo bist du ist ihr dritter Roman.
1.
Hatte er nicht verdient, der Junge. Diesen Anzug zur Beerdigung. Dann noch die Zahnspange, Oberpeinlichkeit der Jugend. Bei solchen Gelegenheiten war einem die eigene Weltgewandtheit fast schon unangenehm. So hat er einen Vorwand oder immerhin jemanden, den er beim obligatorischen Händeschütteln flehend ansehen kann. Gott steh ihm bei. Fast dreiundzwanzig mittlerweile: Ivan der Schreckliche. Wirklich kaum zu glauben, er im Anzug. Vielleicht aus einem kleinen, muffigen Secondhandladen im örtlichen Hospiz, bar bezahlt, zusammengeknüllt in einer wiederverwendbaren Plastiktüte auf dem Fahrrad nach Hause gebracht. Ja, das würde tatsächlich Sinn ergeben, das brächte den Anzug in seiner prachtvollen Hässlichkeit und die Persönlichkeit des zehn Jahre jüngeren Bruders in Einklang. Nicht stillos, auf ganz eigene Weise. Es hatte was, die materielle Welt so völlig zu missachten. Schlau und schön, hat eine Tante mal gesagt. Über sie beide. Oder meinte sie, Ivan schlau und Peter schön. Trotzdem danke. Er überquert jetzt die Watling Street zu der Wohnung, die keine Wohnung ist, dem Haus, das kein Haus ist, elf Tage seit der Beerdigung oder schon zwölf, zurück in der Stadt. Zurück zur Arbeit, wenn’s denn sein muss. Oder jedenfalls zurück zu Naomi. Und was sie wohl anhaben wird, wenn sie die Tür aufmacht. Lässt, als er die Stufen erreicht, sein Telefon aus der Tasche in die Hand gleiten, die kühle Haptik des Displays, als es unter seinen Fingern aufleuchtet. Er tippt. Draußen. Die Abende werden kürzer, ihre Vorlesungszeit hat wahrscheinlich wieder begonnen. Keine Antwort, aber sie sieht die Nachricht, dann die erwartbare Abfolge, so vertraut und inzwischen indirekt erregend, die Abfolge von Geräuschen hinter der geschlossenen Haustür, während sie die alte Kellertreppe hinaufkommt und in den Flur tritt. Klassische Konditionierung: Warum hat es so lange gedauert, das herauszufinden? Gesunder Menschenverstand. Das nicht. Tägliche Erfahrung. Erinnerung und Gefühl, die einander bedingen. Die sich öffnende Tür.
Hallo, Peter, sagt sie.
Bauchfreies Kaschmir-Top, dünne Goldkette. Schwarze Jogginghose, die an den Knöcheln eng zuläuft. Kein Gummizug, den hasst sie. Barfuß.
Kann ich reinkommen?, fragt er.
Treppe runter und in ihr Zimmer, ohne den anderen zu begegnen. Die Lichterkette glimmt schummrige Nadelstiche an die Wand. Schuhe ausziehen, neben der Tür stehen lassen. Ihr Laptop aufgeklappt auf der ungemachten Matratze. Ein Duft aus Parfüm, Schweiß und Cannabis. In dessen gut durchmischter Luft sich alle unsere Zwänge treffen. Die Vorhänge wie immer zugezogen.
Wo warst du?, fragt sie.
Ich musste was erledigen.
Sie sieht ihn an, spöttisch, dann sieht sie ihn nicht mehr an. Später Sommerurlaub, nehme ich an, sagt sie.
Naomi, Süße, sagt er sanft. Mein Vater ist gestorben.
Fassungslos dreht sie sich zu ihm um und sagt: Dein … Dann hält sie inne. O Gott, fügt sie hinzu. Scheiße, Peter, es tut mir so leid.
Darf ich mich setzen?
Dann sitzen sie beide auf der Matratze.
O Gott, sagt sie. Dann: Geht’s dir gut?
Ja, ich denke schon.
Sie schaut auf die Sohlen ihrer auf der Matratze überkreuzten Füße. Schwarz vor Dreck, der nie wirklich dreckig aussieht. Willst du darüber reden?, fragt sie.
Eigentlich nicht.
Wie geht es deinem Bruder?
Ivan, sagt er. Weißt du, dass er ungefähr so alt ist wie du?
Ja, hast du erzählt. Du wolltest ihn mir vorstellen. Geht’s ihm gut?
Liebevoll lächelt Peter, unwiderstehlich, und um zu vermeiden, Naomi tatsächlich mit unwiderstehlicher Liebe anzulächeln, lächelt er stattdessen wie über einen Scherz die Innenseite seines ausgestreckten Handgelenks an. Oh, ihm geht’s … ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie es ihm geht. Habe ich dir schon mal von ihm erzählt?
Weiß nicht, du hast mal gesagt, er sei »speziell« oder so.
Er ist ein Spinner. Überhaupt nicht dein Typ. Irgendwie autistisch, glaube ich, wobei man das heute vermutlich nicht mehr sagen darf.
Doch, wenn es wirklich zutrifft.
Na ja, nicht im klinischen Sinne. Aber er ist ein Schachgenie, von daher. Peter lässt sich jetzt nach hinten sinken, liegt auf dem Rücken, sieht zur Decke. Darf ich? Ich muss gleich wieder weiter.
Außerhalb seines Blickfelds antworten Naomis Lippen: Na klar. Stille. Er spielt mit der Innennaht ihrer Jogginghose. Sie legt sich neben ihn, warm, ihr Atem warm, Kaffeeduft und noch etwas. Ihre Brüste warm unter dem kurzen Kaschmiroberteil. Das er ihr gekauft hat oder dasselbe in einer anderen Farbe. Parisgrau. Sie lässt ihn ihre feuchte Achselhöhle mit den Fingerspitzen berühren. Kreidiger Deodorantgeruch, der den schwächeren, anregenden Schweißgeruch nur überlagert. Meistens rasiert sie sich nur an den Beinen, unterhalb der Knie. Einmal hat er ihr gesagt, zu seiner Zeit hätten sich die Mädchen an der Uni Bikini-Waxings machen lassen. Sie lachte und fragte ihn, ob er wolle, dass sie sich schlecht fühle oder was. Ganz und gar nicht, sagte er. Nur eine interessante Entwicklung der Sexualkultur. Sie lacht immer. Die Zeit des keltischen Tigers, hm? Müssen wilde Jahre gewesen sein. Trotzdem, es gefällt dir. Und es stimmt, das tut es. Ihre Unbekümmertheit hat etwas Sinnliches. Kalte Füße. Immer schwarze Fußsohlen, weil sie halb angezogen durch dieses Loch schlurft, dabei Joints raucht, Telefon auf Lautsprecher. Jetzt murmelt sie sanft: Es tut mir so leid. Seine Finger unter dem Kaschmir. Die Augen geschlossen, alles träge und verträumt. Ihre Haut unter seinen Händen, die er nur fühlt, weich und flaumig, fast wie Samt. Er fragt sie, was sie gemacht hat, während er weg war. Keine Antwort. Er öffnet die Augen und findet ihren Blick.
Pass auf, sagt sie. Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll, ohne mir blöd vorzukommen, aber vor ein paar Wochen war ein bisschen was los. Ich brauchte Bücher für die Uni und so. Musste mir etwas Geld besorgen. Kein Ding.
Langsam nickt er. Ah, sagt er. Okay. Ich hätte aushelfen können, wenn ich es gewusst hätte.
Ja, sagt sie. Na ja, du hast nicht wirklich auf meine Nachrichten geantwortet. Sie verzieht die Lippen zu einem schmerzlichen Lächeln. Tut mir leid, fügt sie hinzu. Das mit deinem Dad hab ich nicht gewusst.
Schon gut, sagt er. Dass du Geld brauchst, hab ich nicht gewusst.
Sie sehen sich noch etwas länger an, verlegen, nervös, schuldbewusst. Dann dreht sie sich auf den Rücken. Alles gut, sagt sie. Ich musste nicht mal was machen, die Bilder waren uralt. Sein Körper fühlt sich müde und schwer an, er schließt die Augen. Wahrscheinlich einer dieser Typen, die jeden ihrer Posts kommentieren. Das Emoji mit dem Affen, der sich die Augen zuhält. Oder irgendein armseliger Mann mit einer Kreditkarte, von der seine Frau nichts weiß.
Mit deinem Dad, das ist echt beschissen, sagt sie. Wann war die Beerdigung?
Letzte Woche. Vor zwei Wochen.
Waren alle deine Freunde da?
Er zögert. Nicht alle, sagt er. Noch ein Zögern, dann: Sylvia. Ein paar andere.
Mich wolltest du vermutlich nicht dabeihaben.
Er dreht den Kopf zu ihr, sieht ihr Gesicht im Profil. Die vollen Lippen leicht geöffnet, Sommersprossen auf dem Wangenknochen. Silberner Ohrstecker. Ein Bild von Jugend und Schönheit. Wie viel der Typ wohl bezahlt hat? Nein, sagt er. Vermutlich nicht.
Ohne ihn anzusehen, grinst sie. Hast du gedacht, ich verführe den Priester oder so? Meinst du, ich war noch nie auf einer Beerdigung?
Ich dachte nur, die Leute würden mich wahrscheinlich fragen, wer du bist, sagt er. Und was hätte ich sagen sollen, dass wir befreundet sind?
Warum nicht?
Weil mir das vermutlich niemand glauben würde.
Vielen Dank, sagt sie. Sehe ich nicht elegant genug aus, um mit dir befreundet zu sein?
Du siehst nicht alt genug aus.
Sie grinst, die Zunge zwischen den Lippen. Du bist echt krank im Kopf, weißt du das?, sagt sie.
Ich weiß, du aber auch.
Sie streckt nachdenklich die Arme aus, dann senkt sie den Kopf auf ihre Hände. Fragt: Hast du jetzt eine Freundin oder was?
Einen Moment lang schweigt er. Weil es ihr ohnehin egal zu sein scheint, und warum auch nicht. Er könnte sagen: Ich hatte mal eine Freundin. Und wäre jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, ihr davon zu erzählen, von der Beerdigung und hinterher? Nicht, dass wirklich etwas passiert wäre. Nur ein Gefühl war da, die Erinnerung eines Gefühls, im Grunde gar nichts. Im Auto, wie er sich dümmlich murmeln hörte: Lass mich nicht mit Ivan allein, bitte. Deshalb blieb sie. Der einzige Grund. Oben im alten Kinderzimmer, er mit einem Ständer neben ihr wie ein Teenager. Zum Glück zu dunkel, um ihr in die Augen zu sehen. Sie schlief neben ihm, das war alles, es gab nichts zu berichten. Am Morgen war sie vor ihm auf. Unten in der Küche sprach sie leise mit Ivan; er hörte sie von oben. Was hatten sie einander zu sagen? Schau mal, der vorgelagerte Springer auf D5 oder was? Würde ihn nicht wundern, wenn sie da mitspielte. Ihn bei Laune hielt. Egal.
Wenn ich eine hätte, warum würde ich dann zu dir kommen?
Sie sieht ihn an, berührt mit der Fingerspitze die dünne Goldkette an...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2024 |
---|---|
Übersetzer | Zoë Beck |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bestseller • Beziehung • Brüder • Dublin • Familie • Irland • Liebe • Millenials • Roman • Schach • Schachmatt • Schachspiel • Tod • Trauer • Zwischenzug |
ISBN-10 | 3-8437-3239-6 / 3843732396 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3239-0 / 9783843732390 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich