Der Chor (eBook)

Roman | Der neue Roman der preisgekrönten Bestsellerautorin
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
283 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78028-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Chor -  Anna Katharina Hahn
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Angesichts unserer Gegenwart, in der nichts mehr sicher scheint, schildert Anna Katharina Hahn einen Stuttgarter Chor als Spiegel einer ganzen Stadtgesellschaft. Einfühlsam und unerbittlich porträtiert sie in ihrem neuen Roman Frauen aus drei Generationen - in ihren Stärken und Schwächen, ihren Gefühlen, ihrer Sensibilität und ihrer Gnadenlosigkeit.

Endlich wieder offline! Schon vor den Lockdowns war die Probe ihres Frauenchors für Alice, Marie und ihre ältere Freundin Lena der Höhepunkt der Woche. Nachdem sie viel zu lange nur hinter Masken oder gar nicht zusammen singen konnten, erkennen sie deutlich, was sie entbehrt haben. Ihre Freundschaften haben die Pandemie überlebt, allerdings auch ihre Probleme miteinander. Alice, der beruflich fast alles gelingt, leidet darunter, dass Marie nicht mehr mit ihr spricht. Während Lena, eine pensionierte Lektorin, sich über das Altern keine Illusionen macht. Ein offenes Geheimnis ist die Abneigung der meisten Sängerinnen gegen Cora, die in prekären Verhältnissen lebt und den Chor zur Jobsuche nutzt. Als Sophie, eine vereinsamte Studentin, bei den Proben auftaucht, beginnt ein emotionaler Aufruhr. Besonders für Alice: Plötzlich entdeckt sie Gefühle, die sie selbst überraschen.



Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller <em>Kürzere Tage</em>. Ihr zweiter Roman, <em>Am schwarzen Berg</em>, stand 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Mit <em>Das Kleid meiner Mutter</em> hat sie 2016, so Denis Scheck, »ein großes europäisches Tableau« entworfen. Ihr Roman <em>Aus und davon</em> erschien 2020 und stand mehrfach auf der Spiegel-Bestsellerliste.

1


Die junge Frau steht in der Tür zum Probenraum, doch als Alices Blick sie trifft, schaut sie weg. Dunkel umgibt der Türrahmen ihre schmale Gestalt. Über dem Eingang hängt eine schmiedeeiserne Leuchte und legt ihren Schein um den Kopf der Unbekannten. Sie trägt nur Jeans und Hoodie. Alice zieht unwillkürlich die Schultern hoch. Das Mädchen, höchstens 18, muss doch frieren, ohne Jacke an einem Winterabend! Ihre Kapuze hat sie tief in die Stirn gezogen. Jetzt steckt sie die Hände in die Bauchtasche des Pullovers, dreht den Kopf nach allen Seiten, als prüfte sie die Umgebung auf mögliche Gefahren. Die ist ja wahnsinnig jung! Was die hier wohl will? Ob sie jemanden sucht, ihre Mutter oder ihre Großmutter? Alice schaut kurz zu den anderen Frauen hinüber. Die meisten stehen noch vor der Garderobe, schälen sich aus ihren Mänteln, unterhalten sich. Graue und gefärbte Köpfe, ein paar Rentnerinnen, der Rest in Alices Alter, Hälfte des Lebens. Unter dreißig ist hier niemand. Keine hat die Neue bemerkt. Alice verlässt ihren Platz an der Heizung und durchquert den Saal. Ihre Absätze klicken auf dem Linoleum.

Das Mädchen verharrt auf der Schwelle, es scheint sich nicht hineinzutrauen. Während Alice näher kommt, tritt es von einem Fuß auf den anderen in ihren schmutzigen Sneakers, springt sogar zaghaft auf und ab. Alice findet die Hüpfbewegungen rührend, das ganze Geschöpf hat in seiner Unsicherheit etwas Kaninchenhaftes. Als sie mit einem Lächeln vor ihr steht, streift sich die junge Frau ihre Kapuze vom Kopf. »Möchtest du zur Chorprobe? Komm doch rein«, sagt Alice. Sie nimmt Einzelheiten an der Fremden wahr und wundert sich selbst darüber, wie deutlich sie all das sieht: zart beflaumte, blasse Haut. Die Nasenspitze kälterot. Ungewöhnlich runde graue Augen mit hellen Wimpern. Aufgesprungene Lippen. Einen Labello hätte ich in der Tasche, denkt sie. Die junge Frau schaut mit verlegener Miene erst zu Boden, dann wieder zu Alice. Ihr aschblondes Haar trägt sie in einer zipfeligen Bobfrisur, die Alice verdächtig selbstgeschnitten vorkommt. Früher hat sie das auch so gemacht. Mit der Nagelschere. Am liebsten möchte Alice eine Bemerkung darüber fallen lassen, das Mädchen mit einem Scherz auftauen, aber das wäre übergriffig. Sie streckt den Arm aus und weist in den Saal.

»Du musst nicht auf der Schwelle frieren. Mehr als die verordneten 19 Grad haben wir hier drinnen bestimmt.« Alice gibt ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang, geübt darin, verschüchterte Lehrlinge und nervöse Bewerberinnen zu beruhigen oder verärgerten Abteilungsleiterinnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie weiß, wie sie rüberkommt in ihren Büroklamotten, schwarz und weiß. Wenigstens muss sie morgens nie darüber nachdenken, was zusammenpasst. Ihr Arbeitstag dauert zu lange, um sich vor der Chorprobe zu Hause umzuziehen. In ihrer Handtasche steckt ein Fusselroller, den sie oft hervorholt, um ihn wie einen kleinen Rasenmäher über ihre Sachen fahren zu lassen.

Die Kaninchenaugen blinzeln, schauen unsicher umher, von der Pinnwand zwischen den beiden Fenstern – »Mitteilungen aus der Gemeinde« – zu den Spuren der Kinderkirche auf dem abgetretenen Fußboden, von Glitterresten und Papierschnipseln zu dem blaugelben Plakat mit Infos auf Deutsch und Ukrainisch. Neben dem Waschbecken in der hintersten Ecke reihen sich Kartons aneinander, voll mit Babykleidung, Spielzeug, Duschgel in Plastikflaschen. Behutsam hakt sich Alice bei der Neuen ein und führt sie zu den lauwarmen Heizkörpern.

Zwischen den Fenstern hängt ein simples Holzkreuz. Das Mädchen hält inne, betrachtet es, und Alice sieht sich genötigt, mit der Hand zu wedeln, als verscheuche sie Fliegen. Eigentlich hat sie sich in den Kirchenräumen von Anfang an wohl gefühlt, auf eine Weise beschützt und aufgehoben, die sie in einer Turnhalle oder einem Klassenzimmer nie gespürt hat. Nur im Büro, aber das ist ja eine Art zweites Zuhause. Jetzt verrate ich meine eigene Zuflucht, damit das Kaninchen keine Angst haben muss, hier ginge es allzu christlich zu. Lauter als nötig sagt sie: »Unser Chor probt im Gemeindesaal, aber wir sind nicht kirchlich oder irgendwie religiös. Das Ganze ist ein Projekt der Musikhochschule. Ein reiner Frauenchor, geleitet von wechselnden Studierenden. Unser Niveau hält sich in Grenzen, und wir treten nur zweimal im Jahr auf, auf dem Sommerfest und beim Adventsbasar. Aber das Singen macht einen Riesenspaß, weil wir keine feste Stilrichtung haben. Wir singen nur unsere Lieblingslieder. Im Grunde sind wir eine Versuchsanordnung für künftige Chorleiter.« Sie sieht die andere an. »Weißt du das schon alles? Ich will dich nicht langweilen.« Die junge Frau schüttelt heftig den Kopf, dann wischt sie sich die Hände an der Hose ab, bevor sie Alice die Rechte entgegenstreckt. »Ich bin Sophie«, sagt sie leise. »Den Chor hab ich auf Insta gefunden. Ich dachte, es wäre schön, mal wieder zu singen, zusammen mit anderen.«

Ihre Finger sind kalt und feucht, natürlich ist sie aufgeregt, ein Raum voller fremder Frauen, die sich alle schon kennen. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, dass hier kein Vorsingen verlangt wird. Elitär wollen die Cantarinen auf gar keinen Fall sein, auch wenn der Klang darunter leidet. »Ich heiße Alice.« Sophie nickt. Ihre Ohrläppchen sind mehrfach durchstochen, aber schmucklos. Verschwommener Kajalstrich, die Brauen zu dunkel nachgezogen und kräftig bestäubt, so wie es gerade alle machen. Wenn ich ihre Mutter wäre, würde ich ihr sagen, dass sie zu viel Puder genommen hat. Oder einfach mit dem Daumen den weichen Bogen nachfahren, ganz vorsichtig, und dabei das Überflüssige wegstreichen, bis die Braue wieder so messinghell leuchtet wie das Haar. »Wir duzen uns hier. Komm schon, alle sind ganz nett.«

Besonders einladend wirkt der Saal nicht, trotz der blauen Hyazinthe im Topf, die Terje auf das Klavier gestellt hat. An den Wänden lehnen Stuhlstapel. Alice zeigt auf die Flügeltüren am Kopfende des Saals. Hinter der Verglasung flackern Kerzen. Ein Geruch nach kaltem Stein, Blumen und Wachs strömt aus dem Bauch der Kirche. »Da drinnen gibt es ein schönes Taufbecken mit einem Engel. Die Fenster sind auch interessant. Wenn du willst, machen wir nachher einen Rundgang.« Sophie lächelt, aber sie antwortet nicht. Du redest zu viel, denkt Alice, welche Jugendliche will sich freiwillig etwas über Kirchenfenster anhören?

Um sie herum hebt sich der Geräuschpegel. Dünne Melodiefäden in unterschiedlicher Länge und Tönung ziehen sich durch die Unruhe, jemand schlägt einzelne Akkorde auf dem mäßig gestimmten Klavier an, dazwischen hört man immer wieder Lachen und das Klappen der Tür. Terje kommt, sie hat einen Packen Noten unter dem Arm und trägt einen ihrer kunstvollen Strickpullover. Langsam lösen sich die Unterhaltungen auf, einige Frauen stürzen sich auf die Chorleiterin. Was für ein Bedarf nach Nähe, noch immer. Die junge Estin studiert Gesang an der Musikhochschule in der Urbanstraße. Alice schätzt Terjes ruhige Art; sie hört allen zu und schafft es, sich durchzusetzen, ohne dass die Frauen sich gegängelt fühlen. Das ist wichtig, denn einige Sturköpfe gibt es hier schon. Terje erzählt gern von ihrem Land, das Alice bisher nicht wahrgenommen und, wie sie zugeben musste, mit Lettland und Litauen unter »das Baltikum« verbucht hatte. Sie bemerkt, dass Terje mehrfach gähnt und eine kleine Kerbe über der kurzen Nase hat. Wahrscheinlich stehen bald Prüfungen an. Ihre Fingernägel lackiert sie seit dem letzten Februar gelb und blau. Im Pulk der sie umlagernden Sängerinnen wirkt sie noch kleiner und zierlicher als am Klavier.

»Du kannst dich nachher anmelden. Sing einfach mit.« Alice führt Sophie zu einem Stuhl in der Nähe der Heizungen. »Da ist meine Freundin Lena!« Die alte Dame sitzt ganz gerade, die Knöchel elegant gekreuzt. Als einziges Zugeständnis an die Kälte trägt sie über ihrem Kleid eine tomatenrote Wolljacke. In Hosen wurde sie hier noch nie gesehen. Alice küsst sie auf die Wange, wie immer duftet sie nach ›Roma‹. »Die Jugend hat uns entdeckt! Das senkt den Altersdurchschnitt hier um etliche Jahre! Willkommen!«

Lena mustert Sophie erfreut. Als sie dem Mädchen ihre Hand entgegenstreckt, sieht Alice von den sorgfältig lackierten Nägeln auf die welke Haut. Vor ein paar Jahren wären die kaffeebraunen Altersflecken noch als große Sommersprossen durchgegangen. Das kurze Zögern, bevor Sophie Lenas...

Erscheint lt. Verlag 9.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affären • aktuelles Buch • Aus und davon • Bestsellerautorin • Beziehungsroman • Bücher Neuererscheinung • Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag 2020 • Corona • Covid-19 • Das Kleid meiner Mutter • Ehe • Ehegeschichte • Ehrengabe der Kester-Haeusler-Stiftung 2018 • Einsamkeit • Existenzängste • Familie • Familiengeschichte • Frauen • Freundschaft • Geheimgesellschaft • Gemeinsamkeit • Gesellschaftsroman • Glück • Identität • Intrigen • Kontaktsperre • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Krise • Liebe • moderner Gesellschaftsroman • Musik • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Pandemie • Singen • Stuttgart • Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg 2021 • Zoom-Video-Konferenz
ISBN-10 3-518-78028-X / 351878028X
ISBN-13 978-3-518-78028-2 / 9783518780282
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