Adikou (eBook)
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01835-8 (ISBN)
Raphaëlle Red wurde 1997 in Paris geboren und wuchs in Berlin auf, wo sie auch heute lebt. Sie studierte Sozialwissenschaften, forschte und lehrte zuletzt zur zeitgenössischen Literatur der afrikanischen Diaspora und wendete sich dann dem literarischen Schreiben zu. Raphaëlle Red schreibt auf Französisch, Englisch und Deutsch. Ihre deutschsprachigen Texte sind bereits in den Anthologien Resonanzen (Spector Books, 2022) und Glückwunsch (Hanser Berlin, 2023) erschienen. Adikou ist ihr Debütroman.
Raphaëlle Red wurde 1997 in Paris geboren und wuchs in Berlin auf, wo sie auch heute lebt. Sie studierte Sozialwissenschaften, forschte und lehrte zuletzt zur zeitgenössischen Literatur der afrikanischen Diaspora und wendete sich dann dem literarischen Schreiben zu. Raphaëlle Red schreibt auf Französisch, Englisch und Deutsch. Ihre deutschsprachigen Texte sind bereits in den Anthologien Resonanzen (Spector Books, 2022) und Glückwunsch (Hanser Berlin, 2023) erschienen. Adikou ist ihr Debütroman. Patricia Klobusiczky, geboren 1968, übersetzt aus dem Französischen und Englischen, unter anderem Werke von William Boyd, Marie Darrieussecq, Petina Gappah, Hélène Gestern und Anne Serre. Sie ist auch als Moderatorin und Dozentin tätig.
I.
1.
Ich hatte mich in die Sofakuhle gefläzt und trank Cidre aus der Flasche, als sie anrief. Es war Sommer, und ich hatte so meine Gewohnheiten: traf mich nach der Arbeit mit einem weißen Jungen in einer Bar, wo ich einen anderen küsste, um ihm gute Nacht zu wünschen, danach schlief ich mit dem blassen Mann ein, der die Miete zahlte, und wachte ohne ihn auf, frühstückte, rauchte Zigaretten und trank Cidre aus der Flasche, bis es Zeit wurde, die Hose und das Poloshirt mit dem gelben Logo anzuziehen. Es war Sommer, und ich schwitzte in der Metro und in der Fastfood-Küche. Die Shirts sollten wir täglich waschen und die Hosen jeden zweiten Tag, oder so. Es war Sommer, und ich schwitzte Tag um Tag in meinem Shirt, und es roch nach Alkohol, nicht nach dem Salzschweiß der Sommer am Meer, es war Erwachsenenschweiß, der die Zukunft einschloss. Ein Ende war nicht abzusehen.
Da ist sie zu mir gekommen und hat gesagt: Scheiß drauf, pack deine Sachen, wir gehen weg.
Mein Mund war voll Speichel, angedickt vom Alkohol und vom vielen Jammern. Meine Backenzähne versanken in dem Gemisch, was mir die Kehle erst recht zuschnürte. Ich hielt die Lippen halb geschlossen und fragte: Wie bitte?
Auch sie hatte in letzter Zeit komische blaue Träume gehabt. Wir beruhigten einander: Irgendwann wäre es damit vorbei, wie man es der Jugend, dem Zorn und dem Rebellieren nachsagte. Im Schlaf sah sie an ihrem Nacken Nähte, die eine Landkarte ergaben. Der Faden steckte voller Mineralstoffe und das Blut voller Salz. Die Nadel hinterließ einen Geruch nach Eisen. Beim Aufwachen war sie müde, an ihrer Haut das Licht einer zerdrückten Sonne, Partikel von Staub. Das trieb sie zur Raserei angesichts des im grauen Licht schimmernden Asphalts und brachte sie dazu, Listen für die Abreise zu erstellen: eine kleine Gepäckwaage, Tabak, ein großer Sack für die Sachen, die in einem Pariser Vorort zwischengelagert werden sollten.
Meine Visionen belustigten sie. Ich sagte: Letztens war es knallvoll im Fastfood, der Bildschirm zerschmolz in den Farben von Windows 98, und ich sah, wie all die Körper zu Boden sanken, echt jetzt, ich hörte das Blut zäh vor sich hin tropfen. Und sie lachte, hallte mir in den Ohren, übertönte das laute Knacken meiner Knochen. An schlechten Tagen riss meine Kniescheibensehne, dessen war ich mir so sicher, dass ich keinen Schritt tat. Ich klammerte mich an den Stahl meiner Arbeitsfläche, dort, wo die Gürkchen standen, bis mein Puls sich beruhigte und der Sturm in meinem Kopf sich legte. Ich musste mich zum Atmen zwingen, auch wenn die Brust schmerzte, weil der Bildschirm einen Haufen Bestellungen anzeigte, die man der Reihe nach zu drücken hatte. Ich drückte.
Aber ich trug eine Art von Wut in mir, die ihr vertraut war. Es leuchtete mir also ein, als sie auf meine Frage hin wiederholte: Scheiß drauf, pack deine Sachen, wir gehen weg. Von uns beiden traf oft sie die Entscheidungen. Die Sofakuhle war voller Krümel, die an meinen Härchen klebten, es gab keinerlei Grund, ihr nicht zu folgen.
Ich mag es, wenn wir beieinandersitzen, Wange an Oberarm oder Oberschenkel an Brust, die Sinne vom Instinkt geschärft, während unsere Körper kommunizieren wie Aale oder Eidechsen. Sie sagte: Pass auf, ich bin dir nicht böse, aber wir müssen los.
Ich werde weicher, wenn sie mit mir spricht wie mit einer Schwester. Wenn meine Muskeln sich entspannen, stelle ich mir vor, dass sie größer werden. Ich würde rund um meine Knochen gern Kraft spüren.
Kaum waren die Taschen gepackt, war der Sommer vergammelt. Wenn man darauf achtet, sorgt er jedes Jahr dafür, dass das Obst fleckig wird, der Asphalt Blasen wirft, die Beeren so weich werden, dass ihr Saft im Kühlschrank ausläuft und das Silikon verfärbt. Erst als sie die schmutzigen Poloshirts und Hosen in eine Mülltüte gesteckt und die gelben Plastikbänder zu einem Knoten geschnürt hatte, wusste ich, dass sie es ernst meinte. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht. Sie brauchte eine Erzählerin und ich hatte schon immer eine Schwäche für Geschichten.
Der rote Lichtschein hat sie geweckt. Sie hebt leicht die Lider und Sonne fällt hinter einer Tragfläche. Sie schmiegt die Wange ans Fenster, das noch warm ist. So verharrt sie ein wenig, mit gebeugtem Nacken. Seit Stunden verzehrt sich ihr Magen selbst, wie eine Schlange sich in den Schwanz beißt. Sie schluckt den Rückfluss wieder hinunter. Sie müsste etwas essen.
Voller Selbstbeherrschung hatte sie die kleinen Schritte gemacht, die sie auf dem Rollfeld von Roissy zur Maschine führten. Sie sagte Roissy und dann, sie sei nicht dafür da, Folterknechten Respekt zu zollen, das ändere aber nichts daran, dass der Flughafen Charles-de-Gaulle heißt, was Fragen aufwirft – es mag Momente geben, in denen man unwillentlich eine Treuepflicht erfüllt. Sie sagte, sie würde ja gern mit ihrem Pass eins werden, aber sie empfinde es nicht als besondere Ehre, den Nachweis ihrer französischen Nationalidentität zu erbringen. Bei der Passkontrolle hat sie erwogen, ihren verdorbenen Magen auf den Plastiktisch der Grenzschutzpolizistin zu legen, die nach dem Stempeln gleich weitertelefonierte. Sie beugte sich vor und sammelte ihr Geld wieder ein, presste ihre Bordkarte an den Scanner der Automatiktür, schlug viermal mit den feuchten Augenlidern und ließ sie dann von der Klimaanlage trocknen.
Seit Stunden tippt sie sich mit dem Zeigefinger ans Schlüsselbein, um Mut zu schöpfen, flüstert sie: Du wirst zur Ruhe kommen/bald wird es besser gehen/du wirst dich rasch einleben. Von Zeit zu Zeit drehe ich mich kichernd weg, ich kann es mir nicht verkneifen.
Außer ihr habe ich niemanden gesehen, der sich so verängstigt gekrümmt hätte beim Passieren der zu niedrigen Kabinenöffnung. Alle anderen sagten Guten Tag, Guten Tag, Guten Tag, bei jeder Etappe, bis sie ihren Platz erreichten, und man hätte meinen können, dass die Leute sich untereinander kannten. Die drei Frauen in der letzten Reihe blieben entspannt, als das Flugzeug kurz vor vierzehn Uhr zu brummen begann. Sicher gab es andere, die unter ihren Kapuzen versteckt am liebsten noch gewartet, den Boden noch eine Weile berührt, ein paar Sekunden Gnadenfrist vor dem Abflug genossen hätten. Jetzt scheinen sich alle vom Maschinenlärm wiegen zu lassen. Manche malen sich bereits ihre Heimkehr aus, ihre Geschäftsreise, ihren Sonnenurlaub. Eine Frau erklärt ihrer Freundin, Afrika sei herrlich, sie werde schon sehen, gut, dass sie die freiwilligen Impfungen im Impfzentrum von Air France habe durchführen lassen, denn vor Ort wisse man nie so recht, was auf einen zukommt, aber sie könne es kaum erwarten, dass ihre Freundin nun auch Afrika entdeckt, denn sie selbst sei ja schon einmal dort gewesen, in Mali, als Kind, und das sei wirklich super gewesen. Einige sind glücklich und machen aus ihrer Vorfreude keinen Hehl. Ihre müden Gesichter hellen sich auf, wenn sie von Lomé reden, von den Freunden, die sie am Abend erwarten, und von der Mutter, die sie wiedersehen werden, und von der Heimat, nach der sie sich sehnen.
Und neben ihnen sitzt sie, die ihre europäische Reiseapotheke mit sich führt und in ihrem nachtragenden Schlaf zusammenzuckt.
Das Licht in der Kabine wird langsam gedimmt, als die Stewardess ihre Passagierinnen auf die Landung einstimmen möchte. Abrupt mutet es an, als sich die flammend roten Neonlettern abzeichnen, die den Großflughafen eines anderen Folterknechts ankündigen.
In der Schlange vor der Passkontrolle umkreist sie die Wartezeit mit kleinen Schritten, während sich in ihrem Kopf alles dreht. Sie fürchtet sich immer noch genauso sehr vor ihrem Namen wie in der Botschaft von Togo in Paris, wo sie ebenfalls mit kleinen Schritten auf der Stelle getreten war, bis man ihr das Visum aushändigte. Ihr wäre es lieber, wenn man ihren Namen nicht als den eines Landeskindes erkennt, erst recht nicht eines derjenigen, die sich gegen das Land aufgelehnt haben. Ich sage ihr, niemand wird sich daran stoßen, wirklich niemand, es ist nur eine Routinekontrolle, keine Rückkehrerkontrolle, und sie hat den bordeauxroten Pass, mit dem man überall durchkommt, niemand wird sich daran stoßen, niemand.
«Sind Sie halb und halb? Franko-Togolesin?»
Sie erkennt einen der Geschäftsmänner aus ihrer Maschine wieder. Breit ist das Lächeln, das er aufsetzt, es soll wohl beruhigend wirken, also sagt sie Ja, nicht sehr laut, aber als wäre es eine Tatsache. Der Grenzbeamte in seiner Kabine winkt sie zu sich, bis hierher, keinen Schritt weiter, fürs Foto soll sie das Tuch vom Kopf nehmen und direkt in die Linse der Webcam blicken. Direkt durch die Webcam blickt sie ihn an. Sie sieht, dass er und sie fast gleichaltrig sind, sieht, dass sein Gesicht von feinen Linien durchzogen ist, dass er sich gründlich langweilt. Er redet nicht, und so erzählt sie sich seine Geschichten im Rhythmus der kleinen Schritte auf dem Linoleum, sie denkt sich, dass er seinem Vater ähnelt, der so stolz ist auf seinen Sohn in Uniform, auf einen Sprössling, der seine feinen Gesichtszüge verhärtet und stur ins Leere starrt, der gelernt hat, den Kiefer schön gerade zu halten. Er hat die gleiche Art von Anspannung wie sein Vater und noch einiges andere mit ihm gemein, wie die Kampfstiefel, die Fußtrittanekdoten und die Fähigkeit zum Weitspucken. Sie sieht den Soldaten, sieht, dass er und sie fast gleichaltrig sind, sieht den Vater des Soldaten, der wacht, und ihren...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2024 |
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Übersetzer | Patricia Klobusiczky |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Afrika • Afrikanische Diaspora • Berlin • Bilingual • Dana Vowinckel • familiäre Herkunft • Identität • Junge Literatur • Kolonialgeschichte • Kolonialismus • Lomé • Paris • Schwarz • Schwarze Autorin • Sharon Otoo • Togo |
ISBN-10 | 3-644-01835-9 / 3644018359 |
ISBN-13 | 978-3-644-01835-8 / 9783644018358 |
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