Die Haut (eBook)

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2024 | 1. Auflage
528 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00606-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Haut -  Curzio Malaparte
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Neapel, 1943: Den Krieg gegen die Alliierten haben die Italiener verloren; nun kämpfen sie mit ihnen gegen die Deutschen. Doch mit den Befreiern breitet sich ein neues Übel in der Stadt aus: Es sind die Tage der Pest, so nennt Curzio Malaparte es gleich im ersten Satz dieses Romans, der vom Vatikan auf den Index gesetzt wurde und seinen Verfasser weltberühmt machte. Der Protagonist namens Malaparte, Verbindungsoffizier bei den Alliierten, begibt sich auf eine Odyssee durch ein zerstörtes Italien, dessen Bewohner in Elend und Chaos leben. Zwischen den Trümmern, unter denen Tote begraben liegen, verkaufen Frauen wie Männer ihre Körper und die spendablen GIs an ihre Landsleute, finden sich die alliierten Soldaten wieder «in einem geheimnisvollen Land, wo offenbar nicht die Vernunft, nicht das Bewusstsein, sondern unterirdische dunkle Kräfte die Menschen und die Dinge ihres Lebens steuerten». Und dann bricht in der mythischen Landschaft Kampaniens der Vesuv aus ... Fäulnis und Zerstörung malt dieser epochale Roman in Bildern voll unvergesslicher Schönheit. Und in unserer friedensfernen Gegenwart ist er so aktuell wie bei seinem Erscheinen.

Der Zauber des Untergangs


Von Florian Illies

Was für ein kühnes, irritierendes, verstörendes, schamloses, verwirrendes, unerhörtes, vermessenes, mitreißendes, unerträgliches, großes und vor allem: überforderndes Buch.

Die Überforderung beginnt mit den allerersten Worten, der brutalen Widmung Malapartes an den Colonel Henry Cumming und die «guten» amerikanischen Soldaten, die «vergebens für die Freiheit Europas gestorben sind». Warum, so darf man sich also gleich eingangs fragen, warum war ihr Tod vergebens? Weil es keine Freiheit Europas nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat? Weil Europa sich mit diesem Krieg selbstverschuldet dem Untergang hingegeben hat?

Diese großen Fragen schweben über dem ganzen Buch, ja streckenweise wirkt «Die Haut», als diene die ganze chaotische und endzeitliche historische Situation in Neapel in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges nur als Hintergrundrauschen für Malapartes beharrliches Infragestellen jeder geschichtlichen Logik und jeder plausiblen Moral. Schon auf den ersten Seiten, in den Gesprächen des Ich-Erzählers Malaparte mit dem amerikanischen Offizier Jack Hamilton (dem Alter Ego des erwähnten Henry Cumming), wird erzählerisch ein großer Bogen gespannt: Es geht um Europa und Amerika, es geht um die Kraft der Vergangenheit und die Schwäche der Gegenwart, es geht um Horaz und Vergil und Kolumbus, um Sinn und Unsinn der Geschichte – und darum, was es mit den Menschen macht, wenn sie ihren Glauben verlieren, den an das Gute, den an das Morgen, den an Gott. Die Frage, die Malaparte dabei am meisten interessiert und die den ganzen Roman durchzieht wie ein blutig roter Faden: Kann man in Würde Sieger sein oder kann man nur in Würde verlieren? Und so lautet der letzte Satz dieses Buches: «‹Es ist eine Schande, den Krieg zu gewinnen›, sagte ich leise.» Davon handelt, und nicht nur am Rande, das gesamte Buch: von Würde. Von Kränkungen. Von Stolz.

Dass es das Neapel des Jahres 1943/44 als Sodom und Gomorrha vorführt, dass die Neapolitaner ihre Frauen und ihre Kinder an die Soldaten verkaufen, dass in Monte Cassino gemordet wird und dass die Panzer die Menschen derart plattfahren, dass nur die titelgebende «Haut» auf der Straße klebt – all dies dient Malaparte zur Beschreibung, wie die Urfeste von Moral und Menschlichkeit erschüttert wird, und zur großen Frage, ob Europa sich mit diesem leichtfertig begonnenen Zweiten Weltkrieg nicht das eigene Grab geschaufelt hat.

Und auch wenn Malaparte es in Frage stellt und mit angstgeweiteten, hoffnungslosen Augen in die Zukunft blickt – ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Erscheinen dürfen wir sagen: «Die Haut» ist ein epochaler Roman über die Widerstandskraft des Alten Europa im Moment seiner größten Gefährdung.

Als das Buch 1949 in Italien und 1950 in Deutschland erschien, löste es Entsetzen und Abscheu aus. Es wurde vom Vatikan auf den Index gesetzt wie von der Stadt Neapel mit einem Bann belegt – und in Deutschland waren sich Theodor Adorno und Gottfried Benn einig in ihrer Ablehnung. Die Kirche erklärt das Buch für blasphemisch, der Stadtrat von Neapel sieht die Würde der Neapolitaner verletzt, Benn findet das Buch «sehr übel», Adorno hält es für «Schund».

Ist das nicht bezeichnend? Was literarisch beurteilt werden wollte, wurde moralisch verurteilt. So kurz, gerade einmal fünf Jahre, lagen die von Curzio Malaparte geschilderten Ereignisse aus der menschlichen Hölle zurück, dass die Nachkriegseuropäer jedweder Couleur daran nicht in Buchform erinnert werden wollten, sie wollten wieder an das Gute glauben können und sich dabei nicht von Malapartes Defätismus stören lassen. Als sich gerade alle Seiten wieder in die tröstliche Utopie hineinzuträumen begannen, dass auch der verheerendste Krieg und die grausamsten Diktaturen nicht die Seelen der Menschen zerstören können, da kam «Die Haut» und weckte sie auf.

Mit bürgerlichem Namen hieß Malaparte Suckert, Kurt Erich Suckert, geboren 1898 im schönen Prato, in der Nähe von Florenz, als Sohn eines deutschen Vaters und einer italienischen Mutter, und bevor er den Menschen unter die «Haut» ging, hatte er ihnen schon gezeigt, wie «Kaputt» die Welt gegangen war. So nämlich waren seine Kriegsschilderungen von den östlichen Fronten zwischen Finnland und Jugoslawien betitelt, die zuerst im «Corriere della Sera» erschienen und die er dann zu einem Buch machte, in dem er seine Montagetechnik und sein Springen zwischen Grausamkeit und Snobismus erprobte, Blutbäder, beschrieben im Stile der Neuen Sachlichkeit.

Malaparte war eine verstörende Persönlichkeit, authentisch nur in ihrer Chamäleonhaftigkeit. Er war glühender Futurist und Konservativer im feinen Tuch, Mussolini-Anhänger und Hitler-Feind, er umschmeichelte die faschistischen Größen im Krieg und hasste sie, er wanderte ständig ins Gefängnis, erst weil er für Mussolini war, dann weil er gegen ihn war – und doch gelang es ihm dazwischen, ein einzigartiges Haus auf Capri zu erbauen, die «Casa come me», das «Haus wie ich», kalt, kantig, kühn (so also sah er sich selbst), das dann als Drehort für Godards «Die Verachtung» einige Jahre nach dem Tod seines Hausherrn seine kongeniale Verwendung fand.

 

Aber ist es wirklich «Verachtung», die Malaparte für die Opfer des Krieges empfand, wie ihm nicht nur 1949, sondern auch noch Jahrzehnte später vorgeworfen wurde, als «Kaputt» und «Die Haut» in Neuauflagen erschienen?

Ist es menschenverachtend, wenn man die menschenverachtenden Methoden beschreibt, mit denen in Neapel jeder Mensch zu einer Ware gemacht wird? Oder sollen diese Beschreibungen nicht eher die Abwehrkräfte des Humanismus erwecken?

Eigentlich sind Malapartes Bücher der manchmal hilflose, manchmal lächerliche, manchmal geglückte Versuch, eine Sprache für das Leiden zu finden, ein Leiden, eine Grausamkeit, für die gewöhnliche Worte des Mitleids eben nicht mehr ausreichen. Darum sucht Malaparte Auswege, manchmal fürchterliche, wenn er in den Snobismus flieht, in den Zynismus, in das, was Helmut Lethen «Verhaltenslehren der Kälte» genannt hat. Aber «Die Haut» ist eigentlich ein Dokument des scheiternden Verdrängens. Und genau in diesem Scheitern ist es ein großes Buch aus dem Zeitalter der Extreme.

Diesem Buch aus einer fernen und doch nicht fernen Zeit hat Frank Heibert mit seiner Übersetzung, der ersten seit 1950, eine neue Sprache gegeben. Er hat in seinem Nachwort Rechenschaft abgelegt über den Versuch, dem «hybriden Erzähler-Ich» Malapartes gerecht zu werden, hat versucht, die drei Ebenen, in denen uns Malaparte erzählend entgegentritt, sichtbar zu machen, also die reportagehaften Streifzüge durch das Neapel des Jahres 1944, über die sich immer wieder eine zweite, schrillere Stimme legt, mit der der Autor die Ereignisse wie in einem Fiebertraum weiterspinnt, wild fabuliert, ohne dass die Grenzen zwischen den beiden Registern hörbar werden (erst Benjamín Labatut hat drei Generationen später dieses flackernde Fluidum zwischen Realität und Fantasie mit seinem Buch «Das blinde Licht» zu einer neuen Meisterschaft geführt). Die dritte Stimme Malapartes ist die, mit der er moralisch einordnet, verwirft, Parallelen sucht für das, was in seinem Schrecken doch einzigartig ist. In allen drei Ebenen sieht Heibert Malapartes Versuche, eine Sprache für die Verzweiflung zu finden angesichts seiner Augenzeugenschaft der letzten Tage der Menschheit.

Dies ist Heibert beeindruckend gelungen, gerade auch in den homophoben Passagen des Buches, angesichts von dessen hingebungsvoll ausgemalten Brutalitäten und der diffizilen Frage, wie für die Darstellung der schwarzen G.I.s im Deutschen eine angemessene und würdige Form heute auszusehen habe. Hier merkt man der ansonsten tadellosen Übersetzung Hellmut Ludwigs aus dem Jahre 1950 ihre Zeitgebundenheit an, manchmal auch einen etwas onkelhaften Ton, weniger in den Dialogen, eher in den Beschreibungen von Architektur und Natur. Da sieht etwas aus wie «im Traume» oder «vom Winde verweht», und oft schiebt sich ein kleines «mitunter» dazwischen, wie um uns die Ausdruckswelt um 1950 vor Augen zu führen. Wir dürfen dennoch dankbar sein für Ludwigs initiale Übersetzungsleistung (er kannte zum Beispiel noch die Namen der Mitarbeiter deutscher Ministerien und der italienischen Botschaft in Berlin im Jahre 1944, die er, Malaparte korrigierend, in seine Übersetzung einfügte) und freuen uns, nun mit Frank Heiberts wortmächtiger Übertragung in – mindestens – die nächsten hundert Jahre zu gehen. Ja, auch in hundert Jahren wird dieses Buch noch gelesen werden, das wird jedem klar werden, der sich heute auf dieses Wagnis einlässt. «Die Haut» erzählt vom Untergang des Abendlandes in einem Moment, in dem zugleich die Morgenröte einer neuen Zeit begann, die aber der Erzähler, teilweise blind für seine Gegenwart wie viele große Erzähler, noch nicht am Horizont zu erkennen vermochte.

Unterschätzt wird Curzio Malapartes Größe als Landschaftsmaler. Dabei sind es gerade die Naturbeschreibungen, in denen seine dauernde erzählerische Überspanntheit kurz zur Ruhe kommt. Die Natur ist die einzige Instanz, von der sich dieser Erzähler disziplinieren und trösten lässt angesichts all der menschengemachten Schrecken.

In seinen Naturbeschreibungen verrät sich Malaparte, hier kann er nicht weiter fantasieren unter der Maske der Authentizität. Hier merkt man, dass er seinen...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2024
Übersetzer Frank Heibert
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Faschismus • Krieg • Kriegsverbrechen • Nachkriegszeit • Neapel • Prostitution • Ruinen • USA • US Army • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-644-00606-7 / 3644006067
ISBN-13 978-3-644-00606-5 / 9783644006065
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