Lippen abwischen und lächeln (eBook)

Die prachtvollsten Texte 2003 bis 2014 (und einige aus den Neunzigern)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
512 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02247-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lippen abwischen und lächeln -  Max Goldt
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Aus dem Buch: «Im allgemeinen bin ich recht zufrieden mit dem, was mir aufgetischt wird. Mich wundern allerdings regelmäßig Restaurant-Kritiken, in denen kaum jemals der Umstand berücksichtigt wird, daß ein hungriger Mensch nicht nur einen Mund hat, sondern auch zwei Beine. Ein guter Eßtisch hat meines Erachtens vier Beine, und zwar, ganz simpel, an jeder Ecke eines. Restauranttische haben jedoch oft nur einen Mittelsockel, welcher, indem er sich unten zu einem ausladenden Fuß weitet, den Gast die Füße nach außen zu biegen zwingt wie weiland Charlie Chaplins Tramp, wodurch es zu Durchblutungsstörungen kommen kann. Man will schon gehört haben, daß Menschen, die längere Zeit mit verdrehten, abgeknickten Füßen sitzen mußten, ?obenrum? aber mit lebhafter Konversation befaßt waren - so daß das Einschlafen der Füße unbemerkt blieb -, sich beim Aufstehen einen Fuß gebrochen haben. In nostalgischen, mit Trödel ausstaffierten Lokalen wird dem Gast bisweilen sogar zugemutet, an alten Nähmaschinen-Tischen der Firma ?Singer? Platz zu nehmen, in deren schnörkelreichem Untertischgekröse Frauen mit hohen Absätzen sich schon qualvoll verfangen haben wie ein erbeutetes Insekt im Spinnennetz.»

Max Goldt, geboren 1958 in Göttingen, lebt in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er «Räusper. Comic-Skripts in Dramensatz» (2015) und «Chefinnen in bodenlangen Jeansröcken» (2014). Im Jahr 2008 erhielt er den Hugo-Ball-Preis und den Kleist-Preis.

Max Goldt, geboren 1958 in Göttingen, lebt in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er «Räusper. Comic-Skripts in Dramensatz» (2015) und «Chefinnen in bodenlangen Jeansröcken» (2014). Im Jahr 2008 erhielt er den Hugo-Ball-Preis und den Kleist-Preis.

Die schönen Dinge und die arme Welt


Charleys Tante in der Wüste


Herr Schmitt, ein alter Freund aus jungen, freiheitlichen Tagen, wurde von der Tourismusbehörde des Staates Katar auserkoren, für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» einen schönen langen Text über diesen an mangelnder Bekanntheit und schlechtem Image leidenden Kleinstaat zu verfassen. Normalerweise läßt sich Herr Schmitt auf solcherlei Reisen von seiner Gemahlin begleiten, doch die hatte «sowas von» keine Lust. Herr Schmitt daher, am Telephon:

«Sag mal, wie sieht’s’n aus? Claudia kann Wüsten nicht ab. Hättest Du nicht Lust, quasi als Gattinnenersatz einzuspringen und ein paar Tage in Doha zu verbringen?»

«Was ist denn Doha?»

«Hauptstadt von Katar, da unten bei den Vereinigten Arabischen Emiraten, gehört aber nicht dazu.»

 

Da ich als kompromißloser Verehrer lieblich grüner Wälder, sanfter Hügel und blühender Wiesen noch nie in einem arabischen Land gewesen war, sagte ich: «Ja, wenn’s nichts kostet, dann von mir aus. Aber: Ich verkleide mich nicht als Ehegattin. Ich werde nicht Charleys Tante spielen.»

 

Okay okay okay. Man flog dann also.

 

Schon schön, ein paar Tage auf Kosten zwar vermutlich unsympathischer, aber freigiebiger Funktionäre in einem Ritz-Carlton-Hotel zu verbringen.

Schon schön, in der VIP-Etage von einem Konsortium internationaler junger Service-Damen, von Tove aus Schweden, Anna aus Prag, Laura aus Mexiko und Lorna aus Malaysia unentwegt bemuttert und betuddelt zu werden.

You want ingwer musli?

Yes!

You want red wine?

Yes!

You want the Neue Zürcher Zeitung?

Yes!

Schon schön, in monsterweichen Riesensesseln zu versinken, in der Hauptstadt eines Gasstaates, den man wenige Wochen zuvor auf dem Globus nur mit Mühe hätte ausfindig machen können. Man schaut sich um, der Look ist einem durchaus nicht unbekannt. Auch in Deutschland gibt es Hotels, die sich bereits vollkommen dem Geschmack des Mittleren Ostens unterworfen haben, das Adlon in Berlin etwa oder der Breidenbacher Hof in Düsseldorf.

In der VIP-Lounge gab es Buchregale, durch die sich lange Reihen prächtig ledergebundener, hundert Jahre alter, eigenartigerweise allerdings ausnahmslos schwedischer Konversationslexika zogen. Nicht lange dauerte es, bis uns auch der Fußballspieler Stefan Effenberg in Begleitung einer mit engen Dingen bekleideten Dame erschien. Er selbst trug kurze bunte Kinderhöschen und ließ Rotwein kommen. Die Kinderhöschen erregten mein Mißfallen.

Wohlgefallen erregten natürlich hingegen die Zimmer. Man hatte uns tatsächlich in zweien der insgesamt sieben Präsidenten-Suiten untergebracht. Sie sahen aus wie Möbellager, die auf ein in einen farbenblinden Zweig der Gothic-Szene verlegtes Remake von «Ein Käfig voller Narren» warten. Auch in den dortigen feisten Betten hätte man sich der Lektüre antiquarischer schwedischer Nachschlagewerke widmen können, sie standen meterlang zur Verfügung. Man hat wohl irgendwann einmal ein Frachtschiff voll davon ersteigert, um eine Art Zivilisationsatmosphäre zu erzeugen.

 

Am Morgen erwartete uns ein mit Air-Brush-Motiven verziertes SUV vom QIT, also ein sport utility vehicle der katarischen Tourismusbehörde. Der Fahrer, ein so sanfter wie hagerer Mann aus Palästina, sprach kaum Englisch, und wir natürlich kein Arabisch, aber vielleicht war es auch besser, daß der Ausflug überwiegend in Schweigsamkeit verlief, denn bei der in Katar üblichen Fahrweise verbietet sich jede Zerstreuung des Wagenlenkers. Bislang dachte ich, die wildesten Autofahrer der Welt seien in Argentinien anzutreffen. Aber wer jemals eine katarische Frau in der schärfsten Verhüllungsvariante – Sehschlitz, darüber ein halbtransparanter Schleier – mit Tempo 110 ohne jegliches Abbremsen, mitten in der Innenstadt – und selbstverständlich telefonierend – in einen Kreisverkehr hat hineinbrettern sehen, dem ist mindestens einmal so heftig die Pumpe gestockt, daß er die Argentinier von da an in etwas milderem Licht sieht. Nun ging es in die Wüste.

 

Wüsten, so hört man in unseren Breiten oft sagen, hafte etwas Faszinierendes an. Öde seien sie keinesfalls, sondern voll geheimen Lebens, und wer dies nicht sähe, der wisse nichts, der reiße seine Augen nicht weit genug auf. Am atemberaubendsten sei die Wüste des Nachts, dann würden überall weiße Hasen und Füchse umhertanzen, oder nach Regenfällen: Binnen Sekunden, naja Tagen, brächen die wunderbarsten Blumen und Sträucher aus dem krustigen Gestein hervor.

Wir hatten Gelegenheit, dies nachzuprüfen. Dreimal hat es während unserer Exkursion für mehrere Minuten geregnet; jubelnd filmten wir die Tropfen auf der Windschutzscheibe, aber draußen stieß nichts aus dem Erdreich hervor, nicht einmal ein kümmerlicher Alfalfakeimling.

Ich nehme an, daß die gerade in gebildeten europäischen Kreisen verbreitete Wüstenverehrung die gleichen Ursachen hat wie die Vorliebe für demonstrativ Schlichtes in Mode und Architektur. Wo die unverputzte, graue Wand als ehrlich gilt, der Schmuck als Widersacher der Funktion, Pracht und Pathos grundsätzlich als hohl, wo Details für neckisches Blendwerk stehen und die Floskel vom «genial Einfachen» lebensmottohaft beherzigt wird, da liebt man auch die Wüste. Das Einfache aber ist, meine Damen und Herren, nur dann genial, wenn es als Folge komplizierter Gedanken auftritt, und in der Kunst gibt es vieles, ja sogar sehr vieles, was man als «genial kompliziert» bezeichnen müßte, obwohl man diese Wendung niemals hört. Die Wüste ist, das sag ich leise donnernd, ein Ort, wo es an allem fehlt, was gut und herrlich ist. Wo Wüste auf der Welt ist, da ist was nicht in Ordnung mit der Welt.

 

Der folgende Tag stand im Zeichen der katarischen Tierzucht. Erst fuhr man zu einem Gestüt mit schönen, sympahischen Pferden, dann zu ebenfalls kerngesunden und noch sympathischeren Kamelen, später noch zu schönen, bedauerlicherweise aber kränkelnden Raubvögeln. Der Besuch einer Falkenklinik stand auf dem Programm. Die Falken hockten, einer neben dem andern, wie Figuren eines Schachbretts, auf dem Boden eines großen Raums und schauten, wie uns schien, nicht gerade lebenslustig vor sich hin. Einige hatten Abszesse unter der Zunge, die meisten jedoch litten am «bumble foot disease», einer knollenartigen Verdickung des Fußes, welche infolge der unnatürlich häufigen Landevorgänge nur bei Jagdfalken auftritt.

Wir wurden eingeladen, dem Chirurgen über die Schulter zu schauen. Allerdings war der Falke, dessen Operation wir nun beiwohnten, überhaupt nicht krank. Er war lediglich ein besonders kostbarer Vogel, der zum Verkauf anstand, und der neue Besitzer wollte sich vergewissern, daß er organisch einwandfrei war, zu welchem Zweck der Vogel geöffnet wurde. Man forderte uns auf, ganz dicht ranzugehen, und wie ich nun dastand und ohne Mundschutz in die Eingeweide des Vogels schaute, kam mir ein Gedanke, der mich schon einmal befallen hatte, und zwar, als mir ein freundlicher Germanist im Marbacher Literaturarchiv ohne trennende Glasplatte eine Kafka-Handschrift vorlegte, nämlich: «Ich könnte da jetzt draufspucken!» Nicht, daß ich derlei jemals ernsthaft in Erwägung zöge, um Himmels willen, ich spucke nicht mal nachts auf menschenleere Bürgersteige, bin Eigenspeichelrunterschlucker durch und durch, neige nie zu neurotischen Attentaten – aber der Gedanke! Daß ich für einen winzigen Augenblick die Herrschaft über mein Handeln verloren haben könnte und dem Falken in den aufgeschnittenen Hunderttausenddollarwanst gespien hätte! Hätte ich je wieder sattgrüne Wälder gesehen?

 

Auf jeden Fall wäre das Abendessen mit Frau Abdulagic abgesagt worden, einer Dame mit dramatischem Augen-Make-up und einem strengen Sinn fürs Effiziente, die, soweit ich es verstanden habe, lange Jahre in Kolumbien als Gesandte ihrer Heimat Jugoslawien diente und sich jetzt in leitender Funktion mit der Verbesserung des Rufes von Katar als Reiseziel befaßt. Da wir uns ihren Namen auf die Schnelle nicht hatten einprägen können, sprachen wir sie mit «Madame» an, was sie als Diplomatin nicht störte, zumal solche Anrede in englischsprachigem Kontext durchaus auf zarte Weise weltgewandt wirkt. Um das Ingangkommen der Konversation nicht allein auf den Schultern der Gastgeberin lasten zu lassen, fragte ich sie munter, wieso die vielen indischen Bauarbeiter in Katar denn alle lila Overalls trügen, andernorts würden körperlich hart arbeitende Männer nur ungern lila tragen, weil das ja «irgendwie leicht gay» wirke. Das war Madame wohl klar, und es wurde uns mit wirkungssicheren Damenblicken klargemacht, daß diese Art von leichter westeuropäischer Plauderei von ihrer Seite nicht vorgesehen war. Um indes nicht allzu schroff zu wirken, erfreute uns Frau Abdulagic rasch mit der wohl oft schon vorgebrachten spaßigen Bemerkung, daß es leider nicht möglich sei, den Namen des Landes zu ändern, obwohl dieser in vielen Sprachen der Welt an einen Schnupfen erinnere. In erster Linie aber wollte uns Madame über Wirtschaft, Infrastruktur und vor allem das hervorragende Erziehungswesen von Katar unterrichten und scheute dabei auch vor statistischen Angaben nicht zurück. Sie verwendete dermaßen viele statistische Angaben, daß mir das von einem...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2024
Zusatzinfo Mit 14 s/w-Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutsche Gegenwart • Humor • Komik • Literatur • Nuller Jahre • Satire
ISBN-10 3-644-02247-X / 364402247X
ISBN-13 978-3-644-02247-8 / 9783644022478
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