Ein modernes Märchen, das vom Zusammenleben mit der Natur erzählt - mit »Rosarium« gelingt Charlotte Weitze eine grenzüberschreitende, höchst originelle Mischung aus Realismus und Fantastik. Da ist ein junges Mädchen, das mit dem Bruder allein im Wald lebt, Wurzeln schlägt und Fähigkeiten einer Pflanze annimmt. Da ist eine Botanikerin, die nicht nur ihre eigene Geschlechtsidentität findet, sondern auch eine ungewöhnliche Liebe und eine geheimnisvolle Rose. Und da ist eine Urgroßmutter in Amerika, die ihrer Urenkelin vor dem Tod noch ihr geheimes Wissen mitteilen möchte.
Charlotte Weitze, geboren 1974, studierte an der Universität von Kopenhagen. Ihre erste Auszeichnung, den »BogForum Debutant« Preis erhielt sie 1996 für ihre Kurzgeschichtensammlung »Changeling«. 1999 erschien ihre zweite Sammlung mit Kurzgeschichten, »Spellbound«, wofür sie das »Danish Arts Foundation Stipendium« erhielt.
7
Ein Sonnenfleck fällt auf Schwesters Seite der Eiche. Sie dreht sich um, tastet nach Bruder, doch er ist weg.
Schwester setzt sich auf: Bruder ist nicht am Feuer, aber das Feuer raucht.
Der nächtliche Raureif ist geschmolzen und hat nur schwarzen Schlamm hinterlassen. Schwester stößt Bruders Laute aus: zwei Krähenschreie, ein kurzer und ein langer.
Keine Antwort.
Wo ist die Pistole? Auch weg.
Schwester atmet tief ein, ihre Nase streift die Wunde. Sie krabbelt aus dem Baum hinaus, und zum ersten Mal, seit Vater und Mutter gegangen sind, steht sie auf beiden Beinen.
Der Wald riecht braun, die Sonne wärmt. Die Blätter verbergen sich noch immer in ihrer Knospenschale, nehmen aber schon das Himmelslicht in sich auf. Schwester geht zu einigen Haselsträuchern, die in einem Grüppchen zusammenstehen. Vielleicht sind sie aus dem vergessenen Nusslager einer Maus gewachsen. Schwester steckt sich eine Knospe in den Mund und kaut, bis ihr Speichel schäumt. Die Knospe schmeckt grün.
Man braucht Grünzeug, sonst fallen die Zähne aus, und dann stirbt man. Hatte Mutter immer gesagt.
Unter Schwesters Stiefeln kleben Schlammkrusten. Die alten Blätter des Herbstes heften sich fest. Im Herbst war alles Blau gewichen, nur Gelb und Braun blieben übrig. Auf diese Weise schließen die Bäume ihre Augen. Die Würmer und Larven fressen die Blätter in sich hinein und scheiden Kot in derselben Farbe wieder aus.
Ist Bruder wirklich hinausgegangen, ohne sie zu wecken? Oder hatte er sich verabschiedet, und sie hatte im Schlaf geantwortet? Glaubte er, sie hätte gehört, was er sagte?
Die Quelle entspringt zwischen zwei Steinen. Sie dampft nicht mehr, aber sie rauscht noch, wie der Wind in den Baumwipfeln.
Schwester lässt sich zwischen zwei Schachtelhalmtrieben nieder. Mit ihrer Holzschale schöpft sie über dem blubbernden Sandboden Wasser. Es schmeckt ein wenig nach Tanne, in ihrem Bauch schwappt es, die Quellenkälte beißt.
Dann erhebt sie sich wieder, diesmal ist ihr weniger schwindelig. Sie zerdrückt weitere Knospen, kaut und kaut. Ihr Magen knurrt, sie versucht, noch mehr Grün zu finden. Dort, wo die Hirsche gefressen haben, schmecken die Knospen bitter, von ihnen hält sie sich fern. Die Bäume haben sich selbst unappetitlich gemacht, nachdem sie dem sauren Speichel der Tiere ausgesetzt waren.
Die ledrigen Blätter der immergrünen Pflanzen und die stechenden Tannennadeln sind das ganze Jahr über da, aber wenn man sie isst, dreht sich einem der Magen um. Schwester zieht stattdessen die Rinde von jungen Bäumen ab, aber so behutsam, dass niemand auf den Gedanken käme, es wären Menschen im Wald. Sie isst die helle Innenseite. Unter den Pinien findet sie Zapfen, doch alle Kerne sind bereits verspeist. Neben einigen trockenen Zweigen auf einer Lichtung ragen ein paar Brennnesseln hervor. Sie reibt die Blätter mit dem Saum ihres Oberteils ab, um das Gift unschädlich zu machen, und stopft sie sich in den Mund. Am Fuß eines Felsens stehen zwei honigsüße Veilchen, und da – eine Hundskamille.
Schwester lockert ein wenig Moos, verspeist vorsichtig die oberste Schicht. Manche Pflanzen kann man in kleinen Dosen essen, doch wenn man es übertreibt, sind sie giftig. Mach es wie die Tiere, sagte die Mutter. Probiere, warte, und spüre, was dein Magen dir sagt. Iss so viele unterschiedliche Dinge wie möglich und nie über einen längeren Zeitraum dieselben Pflanzen. Alles ist giftig.
Gierige Tiere sterben schnell. Junge und dumme Tiere lernen von älteren. Ein alleinlebendes Jungtier kann an seiner naiven Neugier sterben.
Zurück an der Quelle, am Ufer, wo das Wasser stillsteht, betrachtet Schwester ihr Gesicht. Ihre gescheitelten Haare sind zwei Äste, die Augenhöhlen Astlöcher, Nase und Haut grau. Ihre Lippen bewegen sich auf und ab, als sie zu lächeln versucht.
Schwester bringt das Bild durcheinander, wäscht sich unter den Armen. Hebt das Kleid und spült sich im Schritt. Auch die Wunde kommt an die Reihe und blutet erneut. Schwester leckt und schluckt.
Neben der Spur eines mittelgroßen Vogels, die ebenfalls an einen Zweig erinnert, hat ein kleiner Hirsch seine Fährte hinterlassen, tief im weichen Lehm des Ufers. Schwester spürt, dass sie beobachtet wird. Sie erstarrt, doch ihre Nasenflügel zittern.
Ein Raubtier ist es nicht. Es riecht anders, nach pflanzlichem Material, das in einem Magen aufgelöst und im Darm verdaut wurde und durch die Haare hinausgesickert ist.
Mensch? Mutter, Vater? Der Jäger? Bruder? Nein, er hat gestern einen Dachs gegessen.
Langsam hebt sie den Kopf und blickt in ein braunes Augenpaar. Die kleine Hirschkuh kaut hastig, ihre Ohren zucken. Sie nickt in Richtung des Wassers, als würde sie darauf warten, dass sie mit dem Trinken an der Reihe ist. Als könnte sie spüren, dass Schwester keine Waffe hat.
Ihr Bauch wölbt sich, das Leben unter dem Fell befindet sich nicht länger im Winterschlaf. Alles wächst frühlingshaft und lebendig.
Ein Klicken, ein Schuss. Schwester und die Hirschkuh zucken zusammen, doch nur das Tier fällt um.
Schwester weint erschrocken, als Bruder aus dem Gestrüpp hervorspringt und das Messer zwischen die Rippen, ins Herz der Hirschkuh stößt. Dann schlitzt er dem Tier die Kehle auf, und während das Blut hervorströmt, umarmt er seine Schwester.
»Das durftest du doch nicht!«
Bruder hinterlässt rote Fingerabdrücke auf Schwesters Kleidung. Er bindet ein Seil um die Hirschkuh, legt es sich über die Schulter und stemmt sich nach vorn, versucht, das Tier zu ziehen.
Schwester faucht ihn wütend an, als sie das kurze Stück Weg nach Hause zum Lager gehen. Doch sie hilft ihm, die Beute mitzuschleifen. Der Kopf der Hirschkuh schlenkert von einer Seite zur anderen.
Erschöpft, zitternd vor Übelkeit und mit verschlossener Nase führt Schwester mit Bruder die rote Arbeit durch. Als er den Bauch aufschlitzt, spritzt Milch aus den Zitzen. Bruder wischt sich die Augen. In der Gebärmutter liegt ein einzelner Fötus. Er erinnert an eine Insektenpuppe.
Wütend kocht Schwester Wasser für die zäheren Fleischteile. Sie legt mehr Holz nach, damit sie sie weichkochen können.
Bruder redet und redet. Dass er lauernd im Gestrüpp gelegen habe. Seine Beine seien eingeschlafen, aber das Blut sei genau in dem Moment zurückgelaufen, als er den Hahn gespannt habe. Wie gut, dass Schwester an der Quelle gewesen sei. So habe die Hirschkuh alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet und ihn gar nicht gesehen.
Er bewegt seinen Kopf wild hin und her, imitiert das letzte Zappeln des Tieres, lässt seine Augen erstarren und klappert immer langsamer mit den Zähnen.
Bruder entfernt die Fruchtblase, lächelt liebevoll und legt das Kalb für seine Schwester ins Feuer.
»Du bist doch wahnsinnig!«
Stolz malt er sich einen roten Blutfleck mitten auf die Stirn und beginnt, der Hirschkuh das Fell abzuziehen. Es gelingt ihm gut, obwohl das Maul Schwierigkeiten bereitet. Dann werden die Hinterläufe abgetrennt und mit dem Seil in eine Ulme hinaufgezogen. Der Körper folgt ihnen nach, wie ein geöffnetes Blatt mit freiliegenden Gefäßen.
Schwester sammelt die Knochenreste auf und schleudert sie weit weg. Sie versteckt die Pistole unter einem Stein.
Schwester möchte kein Fleisch, dabei versucht Bruder, sie mit kleinen Herzstückchen zu füttern. Sie dreht den Kopf weg, doch es duftet, und ihr Magen summt. Da nimmt sie doch einen Bissen, kaut und kaut. Sie nimmt noch ein Stück, beißt in die Bleikugel und spuckt sie tief in den Wald, während er mehr Fleisch ins Feuer legt. Bruder hat gerötete Wangen, seine Augen glänzen.
»Nicht zu viel auf einmal«, sagt er mit einer verzerrten Elternstimme. »Wenn man gehungert hat, muss man darauf achten, sich den Bauch nicht zu voll zu schlagen.«
Bruder wühlt in einer Tasche und wirft ein weiß-gelbes Pulver in die Flammen, das in einer großen Stichflamme explodiert. Sie blinzelt und ruft: »Oh!« Vater hatte ihnen einmal gezeigt, was die Sporen der getrockneten Bärlappe können; dieser kriechenden, langen und an Krähenbeersträucher erinnernden Pflanze. In den Blütenständen der nadelförmigen Blätter, die die Sporenhäuser enthalten, befindet sich Vaters Hexenmehl.
Die Sterne tänzeln in einem brunnenrunden Kreis über den Geschwisterköpfen. Schwester legt Holz nach, der Feuerschein bringt die Himmelspunkte zum Verschwinden. Ihr wird warm in der Brust, das Gesicht kocht. Nur der Rücken ist nach wie vor kalt.
»Sie fehlen mir.«
Bruder schneidet das letzte Filetstück ab und legt es auf das Feuer. Die Blutstropfen fallen zischend in die Flammen.
»Ich wage es nie wieder, einzuschlafen!«
»Bald werden wir beide schlafen.«
»Du hast geschossen!«
»Uns ist hier noch nie ein Mensch begegnet, aber wir haben jeden Tag gehungert. Niemand hat etwas gehört, und eines Tages werde ich ein Bison erlegen.«
Körper unter Decke und Fell. Bruder küsst Schwesters Gesicht. Er liebe sie, sagt er, über alles in der Welt.
»Es gibt ja sonst auch niemanden.«
»Schwesterchen …«
Bruders Atem ist Fleisch, gebraten und gekaut. Sein Bauch knarrt und Schwesters blubbert. Sie presst das Gesicht an seine Brust und umarmt ihn, so fest sie kann.
»Das darfst du nie wieder tun.«
»Mutter und Vater waren viel zu vorsichtig. Nur deshalb ist es so böse ausgegangen.«
»Wer sagt denn, dass sie tot sind?« Sie schlägt ihm auf den Mund und weint, doch er hält sie fest und sagt, wenn sie Bäume wären, würden sie jetzt, in...
Erscheint lt. Verlag | 2.10.2024 |
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Übersetzer | Ursel Allenstein |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Rosarium |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Botanik • Dänemark • eBooks • Familienroman • Familiensaga • Fantasy • Generationenroman • Han Kang: Die Vegetarierin • Magischer Realismus • Märchen • Natur • Neuerscheinung • Ökologie • Queer • Roman • Romane • Transgender • Umwelt |
ISBN-10 | 3-641-29318-9 / 3641293189 |
ISBN-13 | 978-3-641-29318-5 / 9783641293185 |
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