Durchbruch (eBook)

Mein Leben für die Forschung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-32310-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Durchbruch -  Katalin Karikó
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Die inspirierenden Memoiren von Katalin Karikó, Nobelpreisträgerin für Physiologie oder Medizin 2023, deren jahrzehntelange mRNA-Forschung zu den COVID-19-Impfstoffen führte.
Katalin Karikó hat eine ungewöhnliche Reise hinter sich. Als Tochter eines Metzgers im kommunistischen Ungarn der Nachkriegszeit wuchs sie in einem Lehmhaus ohne fließendes Wasser auf. Sie sah die Wunder der Natur überall um sich herum und war bald fest entschlossen, Wissenschaftlerin zu werden. Diese Entschlossenheit brachte sie schließlich in die Vereinigten Staaten, wo sie 1985 mit 1200 Dollar, die sie in den Teddybär ihrer Tochter eingenäht hatte, und dem Traum, die Medizin zu revolutionieren, ankam. Karikós drei Jahrzehnte währende Erforschung der mRNA führte zu einem überwältigenden Erfolg: Impfstoffe, die Millionen von Menschen vor den schlimmsten Folgen von COVID-19 schützten. »Durchbruch« ist nicht nur die Geschichte einer außergewöhnlichen Frau. Es ist auch eine Anklage an engstirniges Denken und ein Zeugnis für das Engagement einer Frau in einer von Prestige, Macht und Privilegien geprägten Männerwelt.

Katalin Karikó, geboren 1955 in Szolnok, ist eine ungarisch-US-amerikanische Biochemikerin. Der Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf der RNA-vermittelten Immunaktivierung. Gemeinsam mit dem amerikanischen Immunologen Drew Weissman entdeckte sie die Möglichkeit, durch Nukleosid-Modifikation die Immunogenität von RNA zu unterdrücken. Diese Technologie ermöglicht die therapeutische Nutzung von mRNA und bildete die Grundlage für die Entwicklung mRNA-basierter COVID-19-Impfstoffe. Am 2. Oktober 2023 wurde ihr und Weissman der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zuerkannt.

Wir waren achtzehn Studierende. Und alles, was wir machten, machten wir in der Gruppe.

Die jungen Leute, die im Herbst 1973 das Biologiestudium an der Universität Szeged aufgenommen hatten, waren Tag für Tag zusammen. Der Lehrplan war verbindlich für alle. Es gab keine Kurse, die man sich aussuchen konnte. Wir besuchten jede Vorlesung, jedes Seminar zusammen, und das in jedem Semester. Zwischen den Seminaren aßen wir miteinander. Abends machten wir in der Gruppe unsere Hausaufgaben. Die meisten lebten im selben Wohnheim. Wir waren eine Einheit – soweit das achtzehn Individuen sein konnten.

Damit will ich nicht sagen, dass wir alle gleich waren. Wir kamen von überall her und aus den unterschiedlichsten Schichten. Manche waren Professorenkinder, andere waren auf dem Bauernhof aufgewachsen. Einige kamen aus kleinen Käffern, andere stammten aus Budapest oder aus den exklusiven Badeorten am Plattensee. Meine Freundin Zsuzsa Kálmán war das Kind eines Komponisten und Musikers, der an einem Institut zur Lehrerausbildung unterrichtete. Sie wusste einfach alles, was es über Musik zu wissen gab. Zsuzsa hatte bereits einen richtigen Freund, Csaba, der im Biologiestudium ein Jahr weiter war als wir. Die beiden gingen miteinander, seit Zsuzsa fünfzehn war. Weil sie schon so lange eine ernsthafte Beziehung hatte – was mir im Leben nicht eingefallen wäre –, schien sie so unglaublich welterfahren!

Außerdem nahmen einige ausländische Studierende an unserem Biologieprogramm teil. Ungarn war ein beliebtes Studienland, nicht nur für Leute aus dem Ostblock, sondern auch aus pro-kommunistischen Ländern wie Kuba und dem Libanon. Wir hatten auch zwei ungarischstämmige Studierende aus Jugoslawien und zwei Mädchen aus Vietnam.

Eines möchte ich an dieser Stelle hervorheben: Die Hälfte der ungarischen Studierenden in meinem Jahrgang trugen das F für »Arbeiter- oder Bauernkind« neben ihrem Namen. Waren andere Länder ebenso willens und imstande, armen Kindern oder Kindern aus Arbeiterfamilien eine Ausbildung zu ermöglichen, die weltweit als erstklassig galt? Nach Jahrzehnten, die ich an amerikanischen Universitäten verbracht habe, frage ich mich immer noch: Was wäre nötig, um das zuwege zu bringen?

Genetik interessierte mich kein bisschen. Jedenfalls nicht zu Anfang.

Irgendwann zu Beginn des Studiums fragte unser wichtigster Lehrer, ein Professor, nach unseren Interessen. Und er notierte sich die Antworten. Ich sagte: »Ich mag Pflanzen.« Mein Leben lang hatte ich mich mit Pflanzen beschäftigt. Ich liebte ihre Physiologie, die Tatsache, dass jede Pflanze besondere Eigenschaften hatte, die ihr einen Platz im großen Ganzen eines Ökosystems verschafften. Ich fand es faszinierend, dass alles, was für unser Leben wichtig war – Luft, Nahrung, Wasser, Schönheit – von Pflanzen kam. Es begeisterte mich, dass Pflanzen genau wie Tiere aus kleineren Einheiten bestanden, den Zellen. Und in Pflanzenzellen war ganz schön was los – Atmung, Nährstoffverwertung, Proteinbildung und Transport von Molekülen von einem Ort zum anderen.

Aber als ich meinen Mitstudierenden von all dem vorschwärmte, sahen sie mich nur verdutzt an. Erst gut zwei Jahrzehnte zuvor hatten James Watson und Francis Crick die Doppelhelix-Struktur der DNA beschrieben (eine Leistung, die auf der Arbeit der Biochemikerin Rosalind Franklin basierte). Seitdem hatte die Wissenschaft unglaubliche Fortschritte gemacht. Man verstand mittlerweile die Grundlagen der genetischen Sequenzierung, der Replikation und ihrer Funktionen. Man hatte sogar den raffinierten kleinen Boten entdeckt, die Messenger-RNA oder mRNA, welche die Proteinherstellung steuerte. Die Wissenschaft der Genetik war schön, elegant und der absolute Hammer. Viele meiner Klassenkameraden fanden, dass es die Genetik war, wo die Post abging.

Möglicherweise würde mich das Ganze bald ebenso überzeugen.

Unser Wohnheim lag gleich neben einem wunderschönen Park, nicht weit vom Fluss Tisza. Auf dem Weg zum Unterricht oder in die Cafeteria überquerten wir täglich die Belvárosi-Brücke. Das Herman-Ottó-Studierendenwohnheim war erst wenige Monate vor dem Beginn unseres Studiums errichtet worden, ein Bau aus Backstein und Glas, zehn Stockwerke hoch. Alles dort war brandneu.

Ich schwöre: Alles in diesem Jahr fühlte sich brandneu an.

Jedes Erstsemester kam in ein Zimmer mit zwei älteren Studierenden. Auf diese Weise konnten wir uns besser in die Gemeinschaft integrieren. Darin standen drei Betten sowie einige Tische und Stühle, an denen wir lernen konnten. Außerdem hatte jedes Zimmer ein Waschbecken. Und es gab eine Wand, die ganz aus Glas bestand. Es war unglaublich hell und wirkte sehr modern. Es war toll, dort sein zu dürfen. Ich genoss es, in diesen Räumen zu lernen.

In dem Wohnheim lebten etwa 300 Studierende. Irgendetwas war hier immer los. Entweder hörte man Gelächter und Gesprächsfetzen vom Gang, oder aus einem der Zimmer kam Musik. Die Beatles und die Rolling Stones wurden ständig irgendwo gespielt. Und fast immer ging jemand aus – ins Konzert, zum Basketball oder gemeinsam mit Kommilitonen in die Bibliothek.

Jeder von uns hatte einen Ort, an dem er sein musste, einen Weg, der vor uns lag. Wir alle verspürten dieses Gefühl der Erfüllung.

Natürlich stand unser Land immer noch unter dem Einfluss der Sowjetunion. Ich hörte Gerüchte, dass einige der Studierenden für die Geheimpolizei spitzelten. Und vermutlich stimmte das auch. Die Geheimpolizei war in diesen Tagen nie weit weg, vor allem in Szeged nicht.

Szeged liegt etwa fünfzehn Kilometer von der Grenze zum damaligen Jugoslawien (heute Serbien) entfernt und ungefähr dreißig Kilometer von der Grenze zu Rumänien. In Jugoslawien gab es weniger Reisebeschränkungen als in Ungarn, was bedeutete, dass man dort viele westliche Waren bekommen konnte. Gerade Studierende fuhren oft über die Grenze, um sich Bluejeans und dergleichen zu besorgen. Ich hatte eine Freundin gebeten, mir eine solche Hose mitzubringen. Damit fühlte ich mich unglaublich stylish und modern. Aber aufgrund der weniger scharfen Reisebeschränkungen wurde Jugoslawien auch zum Ausfalltor für all jene, die Ungarn illegal verlassen wollten. Geheimpolizisten in Zügen oder auf den Straßen waren keine Seltenheit. Meist waren das vierschrötige Männer mit strengen Mienen, deren Augen alles und jeden genauestens musterten.

Und doch hatte sich seit meiner Kindheit einiges verändert. Die Partei hatte zwar immer noch das Sagen, aber Ungarn experimentierte mittlerweile mit etwas, das man später als »Gulaschkommunismus« bezeichnen sollte – eine etwas liberalere und entspanntere Form des Sozialismus, als man sie früher praktiziert hatte. Auch wenn manche unserer Kommilitonen als Informanten für die Geheimpolizei tätig waren, so hatte eine Denunziation nur in den seltensten Fällen Verhaftungen oder gar Hinrichtungen zur Folge, wie das früher der Fall gewesen war. Die Partei strich als Strafmaßnahme vielleicht mal einen Vortrag an der Uni oder ein Konzert, statt die Studierenden selbst unter Druck zu setzen.

Manchmal wurde auch eine studentische Organisation aufgelöst. Und wenn man tatsächlich vorhatte, ins Ausland zu gehen, konnte einem der Reisepass verwehrt werden. Wir genossen zwar keine vollständige Freiheit oder Freizügigkeit, aber wir mussten auch nicht in Angst und Schrecken leben. Ungarn war, wie die Leute ständig witzelten, damals die »lustigste Baracke im kommunistischen Lager«. Und das zeigte sich auch an meinen Kommilitonen. Die Ungarn lachten und scherzten miteinander, wobei häufig versteckte Seitenhiebe auf Politik oder Ideologie fielen. Meine vietnamesischen Kommilitoninnen aber hielten immer den Mund. So nahe wir alle uns auch standen, die beiden sagten nie etwas, das sie vielleicht hätte in Schwierigkeiten bringen können.

Ich kam mir nicht besonders klug vor. Nicht hier. In Kisújszállás war ich zunächst eine recht durchschnittliche Schülerin gewesen. Ich hatte nur einfach mehr gelernt als meine Mitschüler, bis ich schließlich besser wurde. An der Universität war es dasselbe. Die anderen Studierenden in meinem Jahrgang schienen sich mit dem Lernen viel leichter zu tun als ich. Einmal mehr musste ich mir alles mühselig erarbeiten.

Wir belegten Seminare in Evolutionsbiologie, organischer Chemie, analytischer Chemie, physikalischer Chemie, Physik und Mathematik. Einige von uns – die bisher kein Englisch gelernt hatten, was auf die meisten Studierenden aus kleinen Orten zutraf – belegten auch Englischkurse. Ich hatte keine Ahnung von der Sprache, und ganz ehrlich: In diesen Kursen litt ich ganz erheblich. Nach dem dritten Jahr an der Uni lernte ich einen ganzen Sommer lang nur Englisch. Ich bestand die Prüfung, aber die Sprache fühlte sich für mich nie natürlich an. Ich würde mein Leben lang, selbst nach Jahrzehnten in Amerika, immer mit einem starken ungarischen Akzent sprechen. Ich bildete die Vergangenheitsform falsch. (Ich sagte: »He didn’t jumped« statt »He didn’t jump.«) Manchmal sah ich, wie Muttersprachler sich fragende Blicke zuwarfen, wenn ich etwas sagte. Offensichtlich hatten sie meine Äußerungen nicht verstanden. Das galt sogar für Kollegen und Kolleginnen, die mich schon lange kannten.

Ich hatte auch mit anderen Problemen zu kämpfen. So besaß ich keinerlei Erfahrung, was die Laborarbeit anging. Kommilitonen, die schon in der Oberstufe Unterricht im Labor gehabt hatten, bewegten sich ganz selbstverständlich durch den Raum und konnten mit Reagenzgläsern, Messbechern, Pipetten und Büretten hantieren. Sie nahmen mit der Pipette Lösungen auf und wussten, wie man eine Waage korrekt kalibriert. Ich dagegen stellte...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2024
Übersetzer Elisabeth Liebl
Sprache deutsch
Original-Titel Breaking Through
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2024 • Biografie • Biographien • eBooks • Medizin • Neuerscheinung
ISBN-10 3-641-32310-X / 364132310X
ISBN-13 978-3-641-32310-3 / 9783641323103
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