Caledonian Road (eBook)
784 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3245-1 (ISBN)
Andrew O'Hagan wurde in Glasgow geboren. Er war mehrfach für den Booker Prize nominiert, wurde von Granta 2003 zu einem der besten jungen britischen Schriftsteller gewählt, gewann den E.M. Forster Prize der American Academy of Arts and Letters. Er ist Editor-at-Large bei der London Review of Books und Fellow der Royal Society of Literature.
Andrew O'Hagan wurde in Glasgow geboren. Er war mehrfach für den Booker Prize nominiert, wurde von Granta 2003 zu einem der besten jungen britischen Schriftsteller gewählt, gewann den E.M. Forster Prize der American Academy of Arts and Letters. Er ist Editor-at-Large bei der London Review of Books und Fellow der Royal Society of Literature.
1
Piccadilly
Campbell Flynn, groß und elegant und zweiundfünfzig, war eine Sprengladung im Savile-Row-Anzug, ein Mann, der glaubte, seine Kindheit läge längst hinter ihm und er habe von ihr nichts mehr zu befürchten. Er hatte Geheimnisse, Sorgen, doch wenn er nun auf seiner Taxifahrt zum Fenster hinausschaute, sah er St Paul’s im strahlenden Sonnenlicht oben auf Ludgate Hill, und die Engel von London standen an seiner Seite. Die Fahrt führte über die Shaftesbury Avenue, er schwelgte in seinem eigenen Parfümduft, den überreifen Pfirsichen von Mitsouko, und ließ den Blick an den Fassaden emporwandern. »Ein wiedergeborener Traum« hieß es auf dem Portal zu Les Misérables, und die angenehme Vorstellung von Applaus stellte sich ein. Was hatten die Schuldgefühle und die Eitelkeit des gewöhnlichen weißen Liberalen heute doch für Ausmaße angenommen! Campbell nahm die Menschen nicht halb so ernst, wie sie selbst sich nahmen, und das war der erste seiner großen Fehler; der zweite war das Buch, dessen Korrekturabzug er an diesem Tag in seinem Aktenköfferchen bei sich trug.
Am Piccadilly Circus kamen sie an einer riesigen Videoreklame vorbei, koreanische Jungs mit rosa Haaren, die in der Sonne tanzten, und die wechselte zu einer zweiten, »Own the Streets«, Werbung für Laufschuhe. Die Straße gehört dir. Campbell starrte durch das gläserne Dach des Taxis, er dachte an Elizabeth, die jetzt glücklich in ihrem Haus auf dem Lande saß, während er sich den Herausforderungen des Stadtlebens stellen musste. Aber auf seine Selbstbeherrschung, aus Erfahrung gewonnen, konnte er sich verlassen, davon war er überzeugt. Das GPS-Display am Armaturenbrett verkündete »Donnerstag 20. Mai 2021. Temperatur 16 °C. Sonnig, später Schauer.«
Das Taxi hielt bei Hatchards, dem Buchladen. Seine Biografie von Vermeer, ein Buch, das neue Wege beschritt, war während des Lockdowns erschienen und hatte ihm ein Maß an Bekanntheit eingebracht, das weit über sein eigentliches Tätigkeitsfeld hinausging. Manche Passagen aus den Besprechungen konnte er auswendig. »Selten in der Geschichte der Künstlerbiografie ist ein Rätsel, das so durch und durch im Dunkel lag, mit solcher Lebendigkeit ans Licht gebracht worden«, hieß es in der Times. »Ein Werk von betörender Empathie«, schrieb die Financial Times, »das sich auf die Seele der Kunst selbst einlässt.« Das Buch, so verstanden seine vielen Leser es, schien zu sagen, dass Unergründlichkeit das Wesen jedes wahren Künstlertums war, ja jedes Menschenlebens überhaupt. Unter den Jüngeren hatte er es mit einem regelmäßigen BBC-Podcast, der oft riesige Klickzahlen erreichte, ebenfalls zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, Kultur und ihre Unzulänglichkeiten, einem Programm, mit dem er tief in die Untiefen der Zeit eintauchte – und doch, trotz alledem, war und blieb seine Hauptsorge, die ihn fast ständig umtrieb, die Frage nach dem Geld, danach, wie es kam, dass er nicht so wohlhabend war, wie er eigentlich hätte sein sollen.
Er signierte einen ganzen Berg seines Opus magnum, das so vieles den Umständen, der Improvisation und Vermutung verdankte, dann verließ er Hatchards wieder und näherte sich eben der Ecke von Fortnum’s, da sah er Yuri Bykov auf sich zukommen, den Sohn des zwielichtigen russischen Geschäftsmanns Aleksandr Bykov. Er hatte ihn etliche Male auf Gesellschaften getroffen, und jetzt war er in Begleitung des Schauspielers Jake Hart-Davies, eines gut aussehenden jungen Mannes, den er von Zeitschriftenfotos und aus dem Fernsehen kannte. Der Schauspieler beanspruchte auf der Straße eine Menge Platz für sich, jedenfalls kam es ihm so vor, ein Eindruck, der sich häufig bei Menschen einstellt, die mit der eigenen Privatsphäre beschäftigt sind.
»Hallo, Professor Flynn«, begrüßte ihn der junge Bykov – elegant, modisch, mit kurzem, wasserstoffblondem Haar. Er stellte ihm den Schauspieler vor, und alle gaben sich die Hand. Die beiden kamen eben aus der London Library, mit Büchern über Shakespeare unter dem Arm. »Wir haben große Pläne«, erklärte der Schauspieler. »Die Erfahrungen des Menschenlebens in all ihren Facetten.«
»Das ist schön«, erwiderte Campbell. Er sah Bykov an. »Ich staune ja, dass Sie noch Zeit für Theaterstücke haben, so beschäftigt, wie Sie damit sind, für Ihren alten Herrn Villen aufzukaufen.«
»Sie sind ja zum Pie-pen«, antwortete Yuri, mit großer Geste. Harrow hatte ihn mit einem schnarrenden englischen Tonfall ausstaffiert, aber im Geist blieb er Russe.
Anscheinend bemerkte keiner von beiden den Regen, am wenigsten der Schauspieler, der ein T-Shirt mit der Aufschrift »Redundant« trug und sich die eigenen Armmuskeln tätschelte. Das prägte sich Campbell ein, diese Selbstsicherheit, das Selbstvertrauen, die Art, wie er von sich selbst eingenommen war. Der Russe kannte Campbells Sohn von der Uni, und daran wurde er auch sogleich erinnert. »Angus, o mein Gott«, rief er. »Eine Legende, der Mann. Und Ihre Tochter, was für eine Schönheit!«
»Da sollte ich wohl Danke sagen.«
Campbell wusste, was erzählt wurde – wie der Junge immer wieder versucht hatte, mit seinem korrupten, putintreuen Vater zu brechen und sich seinen eigenen Zirkel aufzubauen. Zu Campbells ältesten Freunden gehörte William Byre, der Geschäftsmann, der gerade in einen zunehmend schlimmeren Finanzskandal verwickelt war. Dessen Sohn Zak war zusammen mit einigen aus dieser Clique in Oxford gewesen. Es war eine kleine Welt, sämtliche Klatschgeschichten kamen über die A40 schon am nächsten Tag in London an, die Partys, die Experimente, die sturzbesoffenen Nächte. Nicht dass Zak mitgemacht hätte; der war mittlerweile ein intelligenter, aufmerksamer Aktivist bei Extinction Rebellion, jemand, für den seine Eltern nur Spott übrighatten. Er hatte erzählt, Yuri sei nur deswegen in St John’s aufgenommen worden, weil sein Vater einen Lehrstuhl zur Erforschung des Klimawandels gestiftet habe. »Wenn Umweltverschmutzung eine olympische Disziplin wäre« – Campbell hatte noch im Ohr, wie der junge Zak das gesagt hatte –, »dann wäre Aleksandr Bykov Usain Bolt, der größte Sprinter aller Zeiten. Schneller als jeder andere heizt Bykov unseren Planeten zu Tode.«
Yuri lächelte, als kenne er ein paar Geheimnisse. »Ich war auf einer Party in São Paulo, da stand Ihr Sohn an den Decks. Fantastique«, sagte er.
»Das ist schön. Er kommt viel in der Welt herum, so viel steht fest.«
Campbell schaute auf die Uhr.
Der Schauspieler erzählte, sie seien auf dem Weg zu Yuris Wohnung im Albany, dort würden sie die Bücher lassen, und dann gehe es zum Lunch im Oswald’s in der Albemarle Street.
»Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte Campbell.
»Lassen Sie uns mal zusammen was trinken gehen«, schlug Jake vor.
»Warum nicht«, antwortete Campbell und musterte ihn noch einmal.
Der Regen wurde plötzlich heftiger. Er machte sich wieder auf den Weg zu seinem Ziel, und aus der abgasgeschwängerten Luft flog ihm ein Gedanke zu. Er blickte noch einmal über die Schulter zu den beiden jungen Männern zurück, und der Schauspieler hatte sich ebenfalls umgedreht. Es lag etwas von glücklichem Zufall in dieser Begegnung, und in Campbells Vorstellung nahm eine Idee Gestalt an.
Für Atticus, Campbells Agenten, war es eine Frage des Prinzips, dass er immer an dem Ecktisch rechts saß, Lucian Freuds altem Tisch, und Campbell sah ihn gleich, als er das Wolseley betrat.
Atticus begrüßte ihn mit einem Lächeln und legte den New Statesman beiseite. Campbell setzte sich, stellte seinen Aktenkoffer in die Ecke. »Ich würde Ihnen die Hand geben«, sagte Atticus, »aber meine Frau hat immer noch Angst. Sie ist Amerikanerin.«
»Ich weiß«, antwortete Campbell. Bei Atticus konnte er jederzeit offen reden, für ihn ein Bonus ihrer beruflichen Freundschaft. »Sie hat in dem Bloomsbury-Cottage in Sussex, für das Sie viel zu viel Geld bezahlt haben, überall goldene Wasserhähne anbringen lassen.«
»Das ist nicht wahr«, protestierte Atticus. »Nicky Haslam war das.«
»Und das soll ich glauben? Nicky beglückt uns mit Hundekörben in der Art von Beduinenzelten, aber Katar-Stil, das nun doch nicht. Haben Sie schon bestellt?«
Atticus Tew war einundsechzig, und seine äußere Erscheinung veränderte sich nie. Campbell wusste verlässlich, dass er sich seine Strähnchen regelmäßig bei Jo Hansford in der South Audley Street nachfärben ließ. Einmal hatte er ihn dort gesehen, eine muntere Flotille Alustreifen über den Kopf verteilt. Campbell gefiel der gehobene Bücherwurm-Look, in dem Atticus sich kleidete – hellbeige Cordhosen und karierte Hemden von Harvie & Hudson, Strickkrawatte und Tweedjacke, als käme er frisch von der Rebhuhnjagd. Wie üblich las der Agent die Speisekarte vor, Campbell hörte zu, schlürfte süßen...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Übersetzer | Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | alter weißer Mann • Balzac • Booker Prize • Brexit • Britisch • Covid • Dickens • England • Englisch • Familie • Gegenwart • Gesellschaft • Klasse • Korruption • Liberalismus • London • Migranten • Migration • Neuerscheinung • Oligarchen • Politik • Roman • viktorianisch |
ISBN-10 | 3-8437-3245-0 / 3843732450 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3245-1 / 9783843732451 |
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