Verkin (eBook)

Roman

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00887-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verkin -  David Wagner
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Nach David Wagners beiden großen Büchern Leben und Der vergessliche Riese ist sein neuer Roman ein Abenteuer, das vom Bosporus durch die Türkei und über drei Kontinente führt, eine Spurensuche zwischen Orient und Okzident, tief hinein ins bewegte 20. Jahrhundert. Es ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft und einer außergewöhnlichen Frau.
Eine Katze vom anatolischen Vansee, das eine Auge blau, das andere braun, wird nach Berlin gebracht. Auf einem für sie organisierten Willkommensfest lernt der Erzähler dieses Romans die Überbringerin kennen und fragt sich: Wer ist diese türkisch-armenische Frau namens Verkin, die in ihrem metallisch glitzernden Kleid wie eine Raumfahrerin wirkt?

Wenig später reist er nach Istanbul, um an einem neuen Buch zu schreiben, im Gepäck deutsche Wurstwaren, die er Verkin als Dank für die Katze mitbringen soll. Kaum angekommen, wird er schon verführt: von den Geschichten aus ihrem geradezu märchenhaften Leben.

Gemeinsam fahren die beiden durch die Stadt und über den Bosporus, sie reisen an die lykische Küste, besuchen verfallene Thermalbäder, rollen im Speisewagen durch Anatolien und kommen bis an den Vansee nahe der Grenze zum Iran.

Verkin erzählt von ihrer Kindheit in Istanbul, von ihrer uralten armenischen Familie, den Großmüttern, die 1915 Mord und Vertreibung überlebten. Von ihrem Vater, der den größten Elektrokonzern der Türkei aufbaute. Von Schweizer Internaten, Paris 1968, lukrativen Geschäften in Ost-Berlin, Künstlerkreisen im New York der siebziger Jahre, von ihren Männern, darunter zwei Deutsche. Von einem fast tödlichen Unfall, der sie auf eine jahrelange Irrfahrt schickte, ihrem Einsatz für das armenische Erbe, dem Kampf gegen das Patriarchat und ihrer politischen Arbeit. Von einem Land, von einem Leben voller Widersprüche.

David Wagner, 1971 geboren, debütierte mit dem Roman «Meine nachtblaue Hose». Es folgten der Erzählungsband «Was alles fehlt», das Prosabuch «Spricht das Kind», die Essaysammlungen «Welche Farbe hat Berlin» und «Mauer Park», die Kindheitserinnerungen «Drüben und drüben» (mit Jochen Schmidt), der Roman «Vier Äpfel», der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, und «Ein Zimmer im Hotel». 2013 wurde ihm für sein Buch «Leben» der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, 2014 erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis und war erster «Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. «Der vergessliche Riese» brachte ihm 2019 den Bayerischen Buchpreis und eine Platzierung auf der Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis ein. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.

"'Verkin' ist mit Abstand sein bestes, ausgereiftestes Werk (...) Ein großer Roman, den man nur ungern wieder aus der Hand legt und der - ganz nebenbei - im Kern von politischer Klugheit handelt, von Taktik und Strategie, von Verstellungskunst und Härte." Adam Soboczynski Die Zeit 20240829

Ein zeitgenössischer westöstlicher Diwan in Romanform, eine Grenzüberschreitung der Erzähltraditionen, denn Wagner gelingt das Kunststück, mit scheinnaivem Blick eines Westlers das geradezu märchenhaft anmutende orientalische Leben seiner Protagonistin zu erzählen. Andreas Platthaus Frankfurter Allgemeine Zeitung 20240807

"Die reinste Lebensfreude, die leichtfüßig über Leichen geht. Verkin ist unendlich unterhaltsam und tiefgründig." Nell Zink

«David Wagners Büchern ist etwas gemeinsam, das man ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit, für das Verschwinden von Dingen und Menschen nennen könnte. Dieses Bewusstsein schlägt sich nicht etwa in Sentimentalität nieder, sondern in einer Genauigkeit des Blicks.» Wiebke Porombka, taz

1 Tarabya


Der freundliche Gendarmenhund / Deutsche Wurstwaren / Blau über Grün / Gruppenbild im Bademantel

Ein Hund bellt hinter der Mauer, die das frühmoderne, über dem Bosporus schwebende Haus und den steil abfallenden Hang zur Straße hin abschirmt. Das Tor öffnet sich wie von selbst, und ich denke, es muss ein großer Hund sein, da springt mir schon ein schwarzbrauner Dobermann entgegen und beschnuppert mich und die Tasche über meiner Schulter.

Báron!, höre ich es rufen. Báron!

Verkin steht in einem schlichten schwarzen Kleid und silberfarbenen Sandaletten im einige Meter entfernten Eingang. Sie hält eine dunkle Sonnenbrille in der Hand und sieht aus, als hätte sie gleich einen Auftritt im Fernsehen.

Mein dekadenter Gendarmenhund scheint dich zu mögen, sagt sie. Báron leckt meine Hand. Sein Fell glänzt und hat einen rostroten Streifen.

Er riecht die Geschenke für die Katzenschmugglerin, sage ich und spaziere mit dem freundlichen Zerberus an blühenden Rosenstöcken und einem kaum wahrnehmbar plätschernden Marmorbrunnen vorbei auf die von abstraktem Schnitzwerk umgebene Haustür zu.

Nein, nein, er riecht, dass du Deutscher bist, sagt Verkin.

Es dauert, bis ich verstehe, dass sie Deutsch gesprochen hat, fehlerlos und akzentfrei, aber da stellt sie mir schon, nun auf Englisch, ihre Assistentin Nevin vor, eine elegante, ebenfalls schwarz gekleidete Frau mit grauen Locken, die mich auf Türkisch begrüßt und ins Haus hineinbittet. Ich antworte ihr mit den drei Worten, die ich in ihrer Sprache sagen kann, und bemerke, dass sie und ich ähnliche Hornbrillen tragen.

Sie verschwindet in den Tiefen des Hauses, während Verkin mich und den Hund durch eine marmorgeflieste Vorhalle und einen gewölbten Durchgang in einen Saal mit über Eck umlaufender Fensterfront führt. Wir stehen nun hoch über dem Bosporus, und ich sehe nur tiefblau bewegtes Wasser und viel hellblauen Himmel zwischen Europa und Asien. Und sage erst mal nichts. Ich sage nichts, weil ich nichts sagen kann, ich falle in die Aussicht, ich fliege, ich segele über der Wasseroberfläche bis ins Schwarze Meer, es glitzert so unglaublich blau, grün, grau, türkis, silberfarben und wieder blau.

Verkin scheint den Moment meiner Sprachlosigkeit zu genießen. Als Báron an den Stoffbeutel stößt, fasse ich mich und frage, seit wann ihr Haus über dieser Aussicht schwebe.

Sie erzählt, dass ihr Vater das Gelände Ende der vierziger Jahre gekauft habe, den halben Berg einschließlich der Ufergrundstücke, ein großes Areal, das zuvor der Familie des ägyptischen Königs Faruk gehört hätte.

Ich streichle über Bárons großen Kopf und seine kupierten Ohren, er lässt es sich gefallen.

Niemand wollte hier bauen, fährt sie fort, aber meinen Vater, er hatte immer ein Gespür für gute Geschäfte, schreckte das nicht ab. Er ließ den Hang parzellieren, legte die steile Straße an und betonierte dieses und ein weiteres Haus ein kleines Stück weiter oben erdbebensicher in die Felsen.

Ich sehe ein riesiges, mit Hunderten, nein Tausenden bunten Containern beladenes Schiff, es fährt auf uns zu.

Zu osmanischer Zeit hatten die Botschafter der europäischen Großmächte ihre Sommerresidenzen in dieser Gegend, sagt Verkin. In Büyükdere, einmal quer über die Bucht – sie zeigt auf das gegenüberliegende Ufer –, siehst du die der Russen. Die deutsche Sommerresidenz liegt ein Stück in die andere Richtung, sie ist die größte, schönste und gepflegteste von allen. Die Yalılar der Franzosen und Briten sind abgebrannt und nicht wieder aufgebaut worden. In einem von Pierre Lotis Büchern kannst du nachlesen, wie die Botschaften zu Sommerbeginn mit Sack und Pack und allem Personal auf Booten nach Therapiá, heute Tarabya, gerudert wurden, weil es in Péra, jetzt Beyoğlu, ohne Klimaanlagen viel zu heiß war.

Und dahinten, frage ich und deute auf die zwei Pylone, die in einiger Entfernung aufragen, auf jeder Uferseite einer, soll das die dritte Brücke über den Bosporus werden?

Die Tragseile hängen, nur die Fahrbahn fehlt noch, antwortet Verkin. Die dritte Brücke wird den neuen Flughafen anbinden und die bisher vernachlässigte Schwarzmeerküste erschließen.

Er soll der größte Flughafen der Welt werden, habe ich gelesen.

Mindestens, sagt Verkin. Und eines Tages wird er Recep-Tayyip-Erdoğan-Havalimanı heißen.

Noch keine fünf Minuten da, und schon ist sein Name gefallen, denke ich, drehe mich zum Zimmer um und sehe einen antiken, mit Intarsien verzierten Spieltisch, zwei Ledersofas, geschnitzte Beistelltische, auf denen sich Bücher und Bildbände stapeln. Ich sehe einen Flachbildfernseher, einige abstrakte Ölgemälde, blau-graue und orange-blaue Farbfeldmalerei, vermutlich amerikanisch. Ich sehe ein angeschlagenes Metallobjekt, das an ein antikes Bidet erinnert, zwei Teppiche mit eingeknüpften Kampfhubschrauber- und Panzermotiven, wahrscheinlich aus Afghanistan, und über dem reich verzierten Marmorkamin Verkin, den Hund und mich selbst in einem großen Spiegel mit geschnitztem Rahmen, der dem Ornament um die Tür ähnelt, durch die ich eben eingetreten bin.

Verkin erzählt, dass sie mit Unterbrechungen seit früher Kindheit in diesem Haus wohne, es die ersten Jahre für ihre Eltern aber nur ein Sommerhaus gewesen sei, die Stadt, die Altstadt und Beyoğlu, waren damals noch weit weg, sagt sie, es gab keine Autobahn, keine Metro und unten am Wasser nur eine schmale, staubige Straße.

Ein weiteres Gemälde fällt mir auf, das Porträt einer Frau, die an eine Stummfilmschauspielerin erinnert, ich vermute, es wurde in den zwanziger Jahren gemalt. Daneben hängt eine gerahmte Farbfotografie, auf der Verkin und Papst Benedikt XVI. einander die Hand geben, zwischen ihnen ein beeindruckender Bart, der einem orthodoxen Geistlichen in dunklem Ornat gehört.

Verkin bemerkt, dass ich die Fotografie betrachte, und erklärt, dass sie für einige Jahre die Beraterin des armenisch-apostolischen Patriarchen von Konstantinopel gewesen sei. Er war ein guter Freund, sagt sie, das Foto ist kurz nach Ratzingers Wahl zum Papst entstanden. Eine seiner ersten Reisen führte ihn gleich zum Antrittsbesuch nach Istanbul, wir haben uns angeregt unterhalten.

Ich öffne den Stoffbeutel und präsentiere die Bio-Wurstspezialitäten aus deutschen Landen, Leberwurst Pfälzer Art, Hausmacher Leberwurst, Mettwurst und Blutwürste vom Blutwurst-Weltmeister aus Berlin-Neukölln.

Verkin gibt Freudenlaute von sich, ich weiß nicht, in welcher Sprache.

Wir verlassen die Kommandobrücke über dem Bosporus, betreten einen fensterlosen, mehrfach verwinkelten und ebenfalls marmorgefliesten Gang und kommen an geschlossenen Türen und einer Galerie großformatiger, gerahmter Schwarz-Weiß-Fotos vorbei. Auf einem von ihnen erkenne ich eine vielleicht fünfzehnjährige Verkin, auf einem anderen ist sie als Kind mit geflochtenen Zöpfen zu sehen. Báron, der große Grubenhund, ist an meiner Seite, seine Pfoten tapsen über den Stein, und ich habe das Gefühl, als würde ich in den Berg unter dem Haus hineinwandern – dann aber öffnet Verkin eine Tür, und wir betreten eine nicht allzu große Küche, in der zwei Frauen am Herd beschäftigt sind. Eine dritte, ältere Frau mit Kopftuch sitzt an einem kleinen Tisch, der vor ein Fenster zum Garten gerückt ist. Sie grüßt, Verkin sagt etwas, das ich nicht verstehe, und ich grüße zurück, schließlich gelangen wir durch eine weitere Tür in einen gläsernen Anbau, eine Art Sommerküche mit Kamin und einem größeren runden Tisch, auf dem eine mit Rosenmotiven bestickte Spitzentischdecke liegt. Kleine taillierte und bereits gefüllte Teegläser stehen auf einem Tablett, daneben eine puderzuckerbestäubte, mit dem typischen Teiggitter verzierte Linzer Torte. Draußen auf der Terrasse, die halb in den grünen Steilhang gegraben worden sein muss und halb auf Stelzen über dem Abgrund ruht, befinden sich fünf, nein sechs Personen. Drei von ihnen stecken in flauschig-weißen Bademänteln, zwei Frauen tragen aus Handtüchern geschlungene Turbane, eine dritte Frau trägt ein großes Pflaster im Gesicht, eine vierte Hijab. Hinter ihnen blühen Lilien, ich sehe Pflaumenbäume, eine Palme, Pinien und Feigenbäume und erfahre von Verkin, dass heute Badetag ist, die Gäste besuchen ihr Hamam.

Die Frau mit dem Kopfverband ist meine Malerfreundin Susan, sagt sie, sie hat sich hier in Istanbul gerade ihr Gesicht liften lassen. Susan war mal meine Nachbarin in New York, wir kennen uns seit 1979. Die Schönheit neben ihr heißt Sevgi und ist die Tochter meines plastic surgeon, sie managt seine Klinik, sag mir, wenn du etwas verändern möchtest, Augenlider, Nase, Kinn, Sevgi kann dir helfen. Die Frau mit Hijab ist meine älteste Parteifreundin, wir haben uns als freiwillige Helferinnen beim ersten Wahlkampf der AKP kennengelernt, heute arbeitet sie für den Innenminister. Ihr gegenüber sitzt meine Anwältin, und der drahtige Mann mit dem Joint in der Hand heißt Tarek und ist ein Ex-Ehemann. Sein Großvater war ein berühmter Imam, sein Großonkel ein Held in der Schlacht von Galipoli, und sein Ururururgroßvater kam 1453 mit Mehmed dem Eroberer nach Konstantinopel. Er stammt also von einem Neuankömmling ab, wir Armenier und meine Familie leben schon tausend Jahre länger am Bosporus.

Sie lacht über ihre kleine Übertreibung, die vielleicht gar keine ist, und sagt, ich solle mir ein Glas Tee vom Tablett nehmen.

Tarek sei heute Heiler und Biobauer, berichtet Verkin, er bewirtschafte ihre kleine Farm am Schwarzen Meer, praktiziere Akupunktur und sei auch als Chiropraktiker...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anatolien • Armenien • Armenische Familiengeschichte • Autofiktionaler Roman • Deutsch-türkische Begegnung • Europa und Asien • Frauenleben 20. Jahrhundert • Genozid Armenien • Gesprächsroman • Istanbul • Leben auf drei Kontinenten • Lebenserinnerungen • Leben voller Widersprüche • Lykische Küste • Orient und Okzident • Reiseroman • Tausendundeine Nacht • Türkei • Vankatzen • Vansee
ISBN-10 3-644-00887-6 / 3644008876
ISBN-13 978-3-644-00887-8 / 9783644008878
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