Die Farben des Winters (eBook)

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2024 | 1. Auflage
288 Seiten
OKTOPUS by Kampa (Verlag)
978-3-311-70550-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Farben des Winters -  Hiltrud Baier
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Wenn die Hamburger Grafikerin Nova Sarri nach Inspirationen für ihre Buchcover sucht, denkt sie an die Farben in Lappland. Früher hat sie dort jede Ferien bei ihrem Vater Juhan und seiner neuen Familie verbracht. Es sind ihre schönsten Kindheitserinnerungen: ihr Vater, dem sie bei der Pflege der Rentiere helfen durfte, ihre »Bonusmama« Kristin, die warme Mützen für sie strickte, und Kaspar, ihr körperlich beeinträchtigter Stiefbruder, der sich im Schlitten dicht an sie schmiegte. Dass mit dem Tod ihres Vaters auch der Kontakt zum Rest der Familie abbrach, ist für Nova bis heute schwer zu verkraften. Weder von Kristin noch von Kaspar hat sie je wieder gehört. Als ein Brief aus Nordschweden Nova zur Testamentseröffnung ihres Vaters einbestellt, glaubt sie an eine Verwechslung. Schließlich ist Juhan nicht vor zwei Wochen gestorben, wie der Notar behauptet, sondern vor mehr als zwanzig Jahren. Nova macht sich auf den Weg nach Nordschweden. Eine Reise, die ihr Leben von Grund auf verändert.

Hiltrud Baier ist in Süddeutschland aufgewachsen. Nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin absolvierte sie ein Germanistik- und Pädagogikstudium. Vor über zwanzig Jahren wanderte sie der Liebe wegen nach Lappland aus. Dort genießt sie die spektakuläre Natur, in der man stundenlang wandern kann, ohne eine Menschenseele zu treffen. Vier Romane für Erwachsene sind bislang von Hiltrud Baier erschienen: Helle Tage, helle Nächte, Tage mit Ida, Tangosommer und Die Farben des Winters. Unter dem Pseudonym Klara Nordin hat sie außerdem zwei Krimis veröffentlicht.

Hiltrud Baier ist in Süddeutschland aufgewachsen. Nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin absolvierte sie ein Germanistik- und Pädagogikstudium. Vor über zwanzig Jahren wanderte sie der Liebe wegen nach Lappland aus. Dort genießt sie die spektakuläre Natur, in der man stundenlang wandern kann, ohne eine Menschenseele zu treffen. Vier Romane für Erwachsene sind bislang von Hiltrud Baier erschienen: Helle Tage, helle Nächte, Tage mit Ida, Tangosommer und Die Farben des Winters. Unter dem Pseudonym Klara Nordin hat sie außerdem zwei Krimis veröffentlicht.

2


Fast dreißig Jahre zuvor

Nova konnte es kaum erwarten. Bisher hatte sie immer zusammen mit Kristin und Kaspar hinten im Schlitten gesessen, wenn sie zum Eisfischen auf den zugefrorenen See fuhren oder in den Wald, um die Rentiere zu füttern. Dann saß sie mit Kristin, Papas Frau, und Kaspar auf den getrockneten Rentierfellen, mit denen Papa den Schlitten ausgelegt hatte, damit es ihnen beim Fahren nicht kalt wurde. Gemütlich war das auf den Fellen. Kuschelig warm am Körper, nur auf den Wangen spürte Nova die Kälte des Fahrtwinds. Sie mochte es, wenn der Wind um ihre Ledermütze mit dem molligen Innenfell blies. Zu Weihnachten hatte Kristin ihr die neue Mütze geschenkt. Ihre Bonusmama, wie Nova Kristin nannte, hatte sie selbst gefertigt, aus gegerbtem Rentierleder und dem weichen Fell eines Rentierkalbs. Manchmal hatte Nova das Gefühl, sie bekäme keine Luft, so kalt war es während der Fahrt im Schlitten. Dann rückte sie etwas näher an Kristin und Kaspar heran und legte die Arme um Sippo, den schwarzen Hütehund, der sie immer begleitete. Sie schloss Augen und Mund, schmiegte den Kopf an Sippos weiches Fell und bemerkte die kleinen Eiskristalle, die in der Luft schwirrten und sich auf ihre Wimpern legten. Kaspar bekam immer ein extra Rentierfell um die Beine, damit er nicht fror. Aber Nova war nie kalt.

Und Nova war auch schon groß. Im April würde sie sechs Jahre alt werden. Heute durfte sie zum ersten Mal vorne auf dem Schneemobil sitzen.

Kristin hatte es sich mit Kaspar hinten im Schlitten bequem gemacht.

Sippo sprang zu den beiden und setzte sich aufs Fell.

»Nova! Es geht los!« Mit seinen dicken Schneehandschuhen klopfte Papa auf die Sitzfläche vor sich. Nova stieg auf und stellte die Füße auf die beiden Stege, die er extra angefertigt hatte, damit ihre Beine bei der Fahrt nicht in der Luft baumelten.

»Halte dich hier fest«, sagte Papa und deutete auf den Lenker.

Mit den Fäustlingen umschloss sie das Metall.

»Und mit dem Rücken lehnst du dich an mich.«

Nova nickte und ließ sich zurück auf Papas breiten Brustkorb fallen. Papa war groß und stark wie ein Bär. Sie drückte sich fest an ihn. Er drehte sich um. »Alles klar bei euch?« Nova hörte Kristins und Kaspars helle Stimmen »Ja!« rufen. Papa startete den Motor, fuhr langsam an, und dann glitten sie durch den verwunschenen Winterwald.

Dick mit Schnee behangene Birkenzweige beugten sich zu Nova herunter. Sie sahen aus wie die langen Arme von Riesen, die nach ihr zu greifen versuchten. Aber Papa schaffte es immer, den schneeweißen Ästen auszuweichen. Er fuhr vorsichtig, damit Kristin und Kaspar hinten im Schlitten nicht durchgeschüttelt wurden und die Riesen nicht nach ihr griffen.

Sie fuhren durch den tief verschneiten Kiefern- und Fichtenwald. Nur ab und zu zeigten sich dazwischen Birken. Papa düste auf der breiten Schneemobilspur. Doch jetzt wurde der Weg schmaler, und Nova duckte sich. Aber nur einmal streifte ein Birkenast Arm und Kopf, und weicher Pulverschnee stob ihr ins Gesicht. Sie kicherte und schmeckte die kleinen Eiskristalle auf der Zunge.

»Alles in Ordnung?«, rief Papa ihr über die Schulter durch den Lärm des Motors hindurch zu.

Sie nickte und wischte sich mit dem dicken Handschuh über das Gesicht.

»Wir sind gleich da!«, rief Papa.

Schade, dachte Nova. Sie wäre gern länger durch den Schnee gefahren. Aber das Rentiergehege, in dem Papa kranke und schwache Tiere fütterte, war nicht weit von ihrer Hütte in Ålloluokta entfernt.

Papa parkte das Schneemobil vor dem Eingang des Geheges. Nova stieg vom Motorschlitten, klopfte den Schnee von ihrem dick wattierten Overall und öffnete das Gatter. Wenn Nova sich auf die Zehenspitzen stellte, reichten ihre Finger genau an den Holzpflock, mit dem sie das Gatter öffnen und schließen konnte. Die Rentiere standen weit hinten im Gehege, aber als sie Nova und die anderen bemerkten, trotteten sie näher. Sie wussten, wenn sie mit dem Schneemobil kamen, gab es etwas zu fressen.

»Nova, mach hinter dir zu! Nicht, dass die Rentiere ausbüchsen!«, rief Papa.

Nova rannte zurück, legte den Holzklotz um und beobachtete, wie Papa Kaspar aus dem Schlitten half. Ihr zwei Jahre jüngerer Halbbruder konnte sich nicht gut bewegen. Sein linker Arm und das linke Bein funktionierten nicht wie bei ihr. Das war schon immer so gewesen. Kaspar war so auf die Welt gekommen. Nova war jedes Mal schneller, wenn sie rannten, nicht nur weil sie älter und größer war als Kaspar. Dafür konnte Kaspar, als er vier Jahre alt war, schon seinen Namen schreiben.

In einem Unterstand lagen Säcke mit Bartflechten, die Papa und sie im Herbst zusammen im Wald gesammelt hatten. Wenn die Herbstwinde kamen, fielen die Flechten von den Nadelbäumen, und Nova sammelte sie vom Waldboden auf. Oder Papa holte sie mit einer langen Stange von den Bäumen herunter. Er rüttelte an ihnen, und, schwups, flogen die Flechten von den Kiefern und Fichten, und Nova stopfte sie in den Jutesack. Nova schnappte sich einen der Säcke. Er war leicht. Flechten wogen fast nichts. Sie öffnete ihn und holte eine Handvoll heraus. Langsam kamen die Rentiere, die bisher weit hinten am Zaun geblieben waren, angetrabt. Zwei von ihnen waren sehr klein.

»Die sind letztes Jahr im Mai geboren«, hatte Papa vor ein paar Tagen gesagt, als Nova angekommen war. Sie hatte Ferien von der Vorschule in Stockholm und durfte zwei lange Wochen bei Papa, Kristin und Kaspar bleiben. »Wir müssen die Rentierkälbchen aufpäppeln. Sie haben den Sommer und Herbst über zu wenig gefressen. Schau, wie mager sie sind.«

Die beiden bekamen von ihr immer zuerst zu fressen. Langsam ging Nova auf eines der kleinen Rentierkälbchen zu. Es hatte dunkelbraunes Fell mit einem weißen Streifen an Bauch und Nase und warme braune Augen. Nova streckte ihm die Flechten entgegen. Das Kälbchen zögerte, aber dann fraß es Nova aus der Hand, und gleich darauf auch das zweite.

»Gut machst du das«, sagte Papa, der inzwischen mit Kristin und Kaspar ins Gehege gekommen war.

»Ich will auch füttern.« Erwartungsvoll stand Kaspar neben ihr.

Nova holte ein paar Flechten aus dem Sack und drückte sie ihm in die Hand. Er zögerte, aber sie hielt seinen Ärmel fest. Er streckte seine kleinen Finger zum Rentier, es fraß, und Kaspar strahlte.

Kristin und Papa machten sich an einem großen Sack zu schaffen. Das war getrocknetes Futter. Sie leerten die Pellets in einen lang gezogenen Trog. Die älteren Rentiere kamen sofort angetrabt und stupsten sich immer wieder gegenseitig weg, bis sie friedlich nebeneinanderstanden und fraßen.

Nova und Kaspar durften den ganzen Sack Flechten verfüttern.

»Das schmeckt ihnen wie euch Süßigkeiten«, sagte Kristin und strich dem dunkelbraunen Rentier über das Fell. Sie holte den Rucksack, den sie zu Hause gepackt hatte, legte ein großes getrocknetes Rentierfell auf den Schnee und setzte sich darauf. »Kommt.« Sie deutete auf das Fell. »Es ist kalt, ihr müsst etwas Warmes trinken. Und Hunger habt ihr sicher auch.«

Kaspar ließ sich neben seiner Mutter nieder. Unschlüssig setzte Nova sich dazu. Sie hätte lieber mit Papa zusammen den Zaun kontrolliert. Er ging ihn jedes Mal ab, wenn sie im Gehege waren. Der Zaun durfte kein Loch haben, sonst würden die Rentiere wegrennen, zu den anderen, die frei im Wald herumliefen.

»Ich komme gleich!«, rief Papa ihnen zu und ging am Zaun entlang, immer einen Blick auf das hellrote Tuch gerichtet, das an dicken Holzpflöcken fixiert war.

Kristin griff nach der Thermoskanne, füllte Kaspars und Novas Becher mit heißer Schokolade, öffnete eine Plastikbox mit selbst gebackenen Zimtschnecken und hielt sie den beiden vor die Nasen. »Na?« Sie lächelte aufmunternd.

Kaspar war eine Naschkatze und griff sofort zu. Auch Nova liebte Kristins Gebäck und nahm sich, nachdem sie die erste Zimtschnecke verschlungen hatte, eine zweite. Mama konnte keine so leckeren Zimtschnecken backen. Einmal hatte sie ihre Mutter darum gebeten, aber sie hatte nur geantwortet: »Ich bin keine Schwedin. Wo ich herkomme, gibt’s Brezeln.«

»Kannst du Brezeln backen, Mama?«, hatte Nova sie gefragt.

Ihre Mutter hatte den Kopf geschüttelt. »Deine Oma kann das. Bitte sie darum, wenn wir sie das nächste Mal besuchen.«

Aber Nova wollte in den Ferien immer zu Papa Juhan, Kristin und Kaspar. Hier gefiel es ihr am besten. Hier gab es Rentiere, Elche und Schnee. Und vor allem gab es Papa, der ihr alles über die Rentiere beibrachte und sie immer mitnahm, wenn er mit den Tieren arbeitete. Zur Kälbermarkierung im Sommer, zur Schlachtung im Herbst, und im Winter, wenn sie die schwächeren Rentiere zufütterten. Nova durfte Ski fahren, Fische fangen und mit Papa Feuer machen. Nichts war so schön, wie hier im Norden von Schweden zu sein.

»Nova, kommst du mal?«

Papa hatte gerufen. Sie legte ihre angebissene Zimtschnecke in die Dose zurück und stellte die ausgetrunkene Trinkschale auf das Fell. Sie stand auf und rannte zu Papa, den sie weit hinten am Zaun ausmachte.

Er bückte sich. »Schau«, sagte er und deutete auf einen Riss im Zaun. »Den müssen wir flicken.«

»Weiß ich doch. Die Rentiere könnten ausbüchsen.«

»Ja, aber auch damit kein Tier ins Gehege kommt. Hier gibt es Bären und Vielfraße.«

Nova nickte. Klar. Die Bären wurden im Frühjahr wach und hatten Hunger, weil sie den ganzen Winter über geschlafen hatten. Da käme ihnen ein kleines Kälbchen gerade recht. Doch jetzt war Winter. »Die Bären schlafen doch noch.«

»Manchmal wacht einer auf. Wenn er gestört wird. Oder es ungewöhnlich warm ist.«

Papa erzählte oft von den Tieren, die den Rentieren...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erbe • Erbschaft • Familie • Grafikerin • Lappland • Liebe • Rentiere • Schnee • Schweden • Testament • Tochter • Vater • Werbeagentur • Winter
ISBN-10 3-311-70550-5 / 3311705505
ISBN-13 978-3-311-70550-5 / 9783311705505
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