Schwindel (eBook)
240 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3607-4 (ISBN)
Der neue Roman von Hengameh Yaghoobifarah.
Freitagabend, ein Hochhaus, 15. Stock. Avas Date mit Robin läuft perfekt. Bis es klingelt und zwei unerwartete Gäste vor der Tür stehen: Delia hat das Handy in Avas Schlafzimmer liegen lassen und will es abholen kommen. Silvia möchte Ava zur Rede stellen, denn seit einer Weile wird sie geghostet. In Avas Flur begegnen sich die drei Liebhaber_innen nun zum ersten Mal. Überfordert flüchtet Ava auf das Dach des Hochhauses, die anderen laufen ihr hinterher. In der Eile bringt niemand den Schlüssel oder ein Handy mit. So wird aus einem Date zu zweit eine gemeinsame Mission zu viert. Das Ziel: runterkommen vom Dach. Doch der Weg dorthin birgt Konflikte und Enthüllungen. Robin, Delia und Silvia kämpfen auf ganz eigene Weise um Avas Nähe und Aufmerksamkeit... In »Schwindel« erzählt Hengameh Yaghoobifarah so fluide, echt und witzig über queeres Begehren, wie niemand sonst es vermag. Eine kompromisslos heutige Liebesgeschichte von radikaler Lebendigkeit und ein irres Lesevergnügen.
»Hengameh Yaghoobifarah ist eine schriftstellerische Begabung.« DIE ZEIT.
»Niemand kann so aufregend, klug und wahnsinnig witzig über »Queers« schreiben wie Hengameh Yaghoobifarah. Man inhaliert diesen Roman förmlich, lernt dabei so etwas wie eine neue Sprache und lacht sich halb tot. Jede seiner Seiten ist so deliciously prall mit Leben.« DANIEL SCHREIBER.
Hengameh Yaghoobifarah lebt und arbeitet in Berlin. Gemeinsam mit Fatma Aydemir hat Hengameh Yaghoobifarah 2019 den viel beachteten Essayband »Eure Heimat ist unser Albtraum« herausgegeben. 2021 erschien der Debütroman »Ministerium der Träume« bei Blumenbar, der ein SPIEGEL-Bestseller wurde. 2023 folgte der Kolumnen-Band »Habibitus«, der auf der Shortlist für den Kurt-Tucholsky-Preis stand. »Schwindel« ist Hengameh Yaghoobifarahs zweiter Roman.
Silvia hat vor der Zukunft keine Angst. Sie hat die Hölle bereits durchlebt. Mehrmals, in unterschiedlichen Ausführungen. Sie kann sich schon nicht mehr erinnern, wann das Feuer zum ersten Mal ihren Rücken entlanggefahren war und ihr das Gefühl gegeben hatte, sich in Asche aufzulösen. Denn es hatte nicht das eine Großfeuer gegeben, sondern eine Abfolge sich immer weiter steigernder Brandanschläge.
Peter war nicht die Liebe ihres Lebens, aber die erste Liebe in einem Leben, das ohnehin wertlos erschien, weswegen sie sich mit dem zufriedengab, was sie von ihm bekam. Endlich schenkte ihr jemand Aufmerksamkeit. Während ihre Familie sie nur für ihre Leistung lobte und sie nie als Person verstehen wollte, gab Peter ihr das Gefühl, dass sie mehr als ihre Karrierepläne sei. Sie hatten sich kurz vor dem Schulabschluss kennengelernt. Im Sommer, bevor sie ihre Ausbildungen anfangen wollten, wurde sie schwanger, also Planänderung: Sie suchten sich gemeinsam eine kleine Wohnung, sagten ihre Plätze an den Schulen und Unis ab, er suchte sich einen Job, der sie über Wasser halten sollte. Als Silvias Eltern erfuhren, dass sie den begehrten Studienplatz wegen dieses Taugenichts abgesagt hatte, wollten sie von ihr nichts mehr wissen und strichen jegliche finanzielle Unterstützung. Natürlich war Silvia verletzt, doch für sie war klar: Wenn die Liebe ihrer Eltern so stark an Bedingungen geknüpft war, dann wollte sie diese nicht. Sie hatte doch ohnehin bald ihre eigene Familie. Mit ihrem Partner und ihrem Mädchen oder Jungen, wobei sie insgeheim hoffte, es würde Ersteres werden.
Es wurde eine Fehlgeburt. Als Peter davon erfuhr, brach er in Tränen aus. Silvia hatte ihn noch nie so heulen sehen. Wochenlang zog er eine trübselige Miene. Ganz als sei es sein Inneres gewesen, aus dem diese unfreundliche Ärztin die blutigen Reste ausschaben musste, während sie zuvor vor sich hin gebrummt hatte, bei seinem jungen Alter sei diese vernünftige Wendung Gott zu verdanken. Als wäre er gezwungen gewesen, die besorgte Praxishelferin mit der Lüge abzuwimmeln, seine Abholung warte schon auf dem Parkplatz. Nur um dann alleine den Bus nach Hause zu nehmen, wo noch am selben Abend von der anderen Bettseite gedrängelt wurde, es bald wieder zu probieren.
Nicht ein einziges Mal hatte Peter Silvia gefragt, wie es ihr eigentlich mit der Sache ging. Oder irgendwer. Wenigstens musste sie es so nie aussprechen. Denn zwischen der Trauer, der Enttäuschung und der Frustration über die geplatzten Träume stand ein anderes Gefühl im Raum. Ein überwältigendes, das Silvia irgendwie verunsicherte: die Erleichterung.
Er arbeitete weiter. Sie bewarb sich auf ein paar Stellen. Man sagte ihr alles ab, bis sie sich damit zufriedengab, als Aushilfe an der Theke eines Grill-Imbiss mit Spielautomaten im Hinterzimmer zu jobben. Es war weder erfüllend noch angenehm, doch fürs Erste okay. Sie brauchte Geld. Kontakt zu ihren Eltern aufzunehmen und ihnen die Niederlage zu beichten, kam nicht in Frage. Dafür war sie zu stolz. Dieser Weg war bereits eingeschlagen und sie würde ihn alleine gehen.
Mit der Zeit wuchs der Frust. Er wurde so groß, dass die Wohnung auf einmal winzig erschien, es gab kaum Luft zum Atmen, geschweige denn zum Leben, zum Lieben, zum Lachen. Peter kam immer später von der Arbeit, warf seine Schuhe in die Ecke, immerhin das, schmiss sich aufs Sofa und legte seine stinkenden Füße auf dem Couchtisch ab, den Silvia extra von Tabakresten und klebrigen Bierflaschenabdrücken gereinigt hatte, in der Hoffnung, dass der jeweilige Abend anders als die vorherigen werden könnte. Schöner. Woher sie diese Hoffnung nahm, wusste sie selbst nicht, aber sie waren noch jung und es konnte schließlich nicht für immer so weitergehen.
Es ging nicht so weiter. Es wurde schlimmer. Peters cholerische Seite kam immer stärker zum Vorschein. Erst machte er gehässige Sprüche über jede Kleinigkeit, die sie in seinen Augen mangelhaft ausführte. Seine Kommentare handelten kurz darauf von ihrem Aussehen, dann von ihrer Unfähigkeit, ihn zu befriedigen, ein Kind auszutragen oder wenigstens einen vernünftigen Job zu finden. Die nächste Entgleisungsstufe waren explizite Beleidigungen. Wörter, von denen Silvia nicht einmal wusste, dass ihr Peter sie in seinem Vokabular führte, geschweige denn mit ihr assoziierte. Als sie anfing, sich zu wehren, wurde er körperlich. Auch in diesem Bereich wusste er seine Schikane-Werkzeuge zu variieren. Mal stellte er ihr ein Bein, wenn sie ihn beim Fernsehen störte, weil sie ausgerechnet vor seiner Nase aufräumen musste, mal quittierte er ihre Widerrede mit einer Backpfeife, manchmal wurden es ganze Prügelattacken.
Ihre gemeinsamen Freund_innen, die ohnehin eher Bekannte waren, sagten nichts, wenn sie Silvia mit einem blauen Auge sahen. Peter machte sich vor ihnen darüber lustig, wie tollpatschig sie sei. Ja, sie sei so ungeschickt, dass sie ständig gegen Türen renne!
Lediglich ihrer Nachbarin Nadia fiel es auf. Wann immer sie von ihrem Balkon aus mitbekam, dass Silvia alleine zuhause war, besuchte sie sie und stellte sie zur Rede.
»Du musst da raus«, sagte Nadia. Silvia nickte nur. Das wusste sie. Aber raus wohin? Und mit welchem Geld?
Nachts lag sie wach und schmiedete Pläne. Je genauer sie ihre Lage durchdachte, desto unausweichlicher wurden die Gedanken daran, ihn umzubringen. Erst war es nur eine Rachefantasie, die sie wie ein Dessert in kleinen Portionen kostete. Wann immer ihr ein Körperteil wehtat, und das kam oft vor, entweder wegen seiner Berührungen oder einfach so – sie wurde diese schlimmen Kopfschmerzen irgendwann nicht mehr los –, stellte sie sich vor, wie sie ihn abmurkste. Sie hatte ganz unterschiedliche Methoden vor Augen: Eine unauffällige Vergiftung, der laute Föhn, der ihr aus der Hand fiel, während er ein Bad nahm, der unerwartete Einsatz einer Schusswaffe oder die langsame Folter. Der Gedanke daran, ihm seine Macht zu entziehen und ihn leiden zu sehen, gab ihr mehr als nur eine Genugtuung. So etwas wie Gerechtigkeit könnte existieren, wenn sie sich nur traute, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und die Verhältnisse zu ordnen. Es gab ihr Hoffnung.
Es war nicht das Mitgefühl oder ein Rest Liebe, der sie davon abhielt, ihre Pläne in die Tat umzusetzen, sondern die Angst vor Konsequenzen. Ja, ihr Leben war die Hölle auf Erden, aber sobald seine Familie herausfinden sollte, dass sie ihn auf dem Gewissen hatte – und das würde sie –, wäre es vorbei. Was war schlimmer, ihr restliches Leben im metaphorischen Knast bei Peter zu verbringen, oder in den sehr realen zu gehen, wo sie sicher auch nicht vor Schlägen und Schikane verschont bleiben würde?
Die Ausweglosigkeit nahm ironischerweise genau dann ein Ende, als Silvias Gynäkologe beim Abtasten ihrer Brüste Bedenken über einen sehr großen Knoten auf der linken Seite äußerte. Die Mammographie verhieß nichts Gutes, und so entnahm man ihr eine Gewebeprobe und ließ sie auf den endgültigen Befund warten. Sollte es Brustkrebs sein – und Silvia ging bei ihrem Glück fest davon aus –, dann würde sie sich gegen die langwierige, schmerzhafte und teure Chemotherapie entscheiden und lieber gleich den Tod akzeptieren. Der sichere Tod sollte ihre Chance sein: Wenn sie ohnehin nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt hatte, hätte sie auch nichts mehr zu verlieren. Sie könnte endlich ihren Mordplan umsetzen. Bis man sie auf der Flucht ausfindig machen und sie vor Gericht bringen würde, könnte der Krebs so weit fortgeschritten sein, dass es egal wäre, ob sie in Haft oder alleine in irgendeiner schäbigen Herberge ihrem Tod in die Augen sah. Davon abgesehen: Vielleicht hatte der Richter so viel Mitleid mit ihr, dass er sie freilassen würde. Ja, vielleicht, vielleicht, vielleicht. So wirklich herausfinden konnte sie es nur, wenn sie den entscheidenden Schritt wagte.
Die nächsten Abende war sie aufgeregt. Sie war so gut drauf, dass sie sogar mit Peter Sex hatte, was sowohl ihn als auch sie überraschte. Ein letztes Mal, dachte sie sich, als sie ihn in sich spürte und seit langer Zeit wieder richtig Spaß dabei hatte. Als er unmittelbar danach neben ihr einschlief, ebnete sich ein Fahrplan in Silvias Kopf. Die nächsten Schritte waren klar: Sie würde ihm zunächst nichts von dem Arztbesuch erzählen, vor der endgültigen Diagnose sowieso nicht, aber eventuell auch danach nicht. Sie würde sich noch ein paar Tage zusammenreißen und sich von ihrer süßesten...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2024 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Begehren • Beziehungen • Dach • Feminismus • Feministisch • Gegenwartsliteratur • Großstadt • Habibitus • Hengameh Yaghoobifarah • Humor • LGBTQ • Liebe • Liebesroman • Liebhaberinnen • Ministerium der Träume • Polyamorie • Queerness • rasant • Roman • Urban • witzig • zeitgenössisch |
ISBN-10 | 3-8412-3607-3 / 3841236073 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3607-4 / 9783841236074 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 800 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich