Der Dorfladen - Was das Leben verspricht (eBook)
576 Seiten
Blanvalet Verlag
978-3-641-26251-8 (ISBN)
Dingelbach, am Fuße des Taunus, 1925. Der kleine Dorfladen der Familie Haller ist nach wie vor der Dreh- und Angelpunkt, das Herzstück, des ganzen Ortes. Aber Einiges hat sich doch verändert. Frieda besucht weiterhin die Schauspielschule in Frankfurt und steht kurz vor ihrem Abschluss. So ganz loslassen kann sie ihre Heimat allerdings nicht, hängt sie doch sehr vor allem an ihrer kleinen Schwester Ida. Diese ist der schlaue Kopf der Familie und besucht inzwischen ein Gymnasium in Frankfurt. Die älteste und vernünftigste der Schwestern, Herta, ist immer noch die größte Stütze ihrer Mutter im Dorfladen. Aber auch in ihrem Leben wird es einen großen Umbruch geben ... Werden die Schwestern den Weg, den das Leben verspricht gut meistern und ihr Glück finden?
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Kapitel 1
Juni 1925
Die Hitze lastet schwer auf dem Dorf. Seit Tagen steigt das Thermometer auf über 30 Grad, in den Fachwerkhäusern und Ställen ist die Luft zum Schneiden. Sogar am Sonntag in der Kirche haben die Dingelbacher schwitzen müssen, weil die Wärme inzwischen selbst die dicken Mauern der alten Kirche durchdrungen hat.
Frieda sitzt im Garten hinter dem Haus, auf dem Schoß hat sie eine Blechschüssel, auf dem Tisch steht ein Korb mit Sommerkirschen, daneben ein Topf. Die Kirschen müssen mithilfe einer Haarnadel entsteint werden, danach will Herta daraus Kirschmarmelade kochen. Das Entsteinen ist eine langweilige und eklige Arbeit, weil der rote Saft an den Händen klebt und die Kerne sich nicht gut lösen lassen.
»Du hast richtige Mörderhände«, meint Ida anerkennend, die mit einem Buch neben ihr auf der Wiese sitzt.
»Könntest mir ruhig helfen!«, gibt Frieda brummig zurück.
»Bloß nicht. Ich muss gleich die Wäsche abnehmen!«
Unterwäsche und Büstenhalter hängen schlaff auf der Leine, kein Lüftchen bewegt sie. Friedas neue Hüfthalter schimmern seidig zwischen den ausgebleichten Baumwollsachen. Gestern hat Luise neidisch gefragt, ob sie jetzt »Reizwäsche« tragen würde und ob das zur Schauspielerei dazugehört. Frieda hat sie keiner Antwort gewürdigt. Dingelbach war schon immer ein tristes Kaff voller bornierter Bauern, aber jetzt bei dieser lähmenden Hitze, die nach Kuhmist und Schweinestall stinkt, ist es einfach unerträglich.
Sie wirft die nächste entsteinte Kirsche in den Topf und schaut entmutigt auf den Korb, der einfach nicht leer werden will. Was für ein Aufwand für ein paar Töpfchen Marmelade! Dabei schmecken die Kirschen viel besser, wenn man sie so isst. Sie steckt sich zwei davon in den Mund und spuckt die Steine auf die Wiese. Sie schafft es bis zum Kräuterbeet, Ida kann es besser, die hat vorhin ihren Stein fast bis zum Hühnerhaus gespuckt.
»Heute müssen wir nicht gießen«, meint Ida. »Da gibt’s bald was.«
Sie blinzelt und zeigt nach Westen. Dort sieht man die Wiesen vom Schützhof, wo sie beim Heumachen sind. Der Himmel darüber ist klar und tiefblau, aber ganz hinten, wo es hügelauf geht und die verfallene Hütte steht, kann man ein paar Schleierwölkchen sehen. Wie ein zartes Gespinst schweben sie über dem Hügel, ganz harmlos, aber sie haben es in sich. Die Bauern müssen schauen, dass sie ihr Heu noch von dem Abend in die Scheunen kriegen, sonst ist es hin.
Frieda hätte gegen ein kräftiges Gewitter nichts einzuwenden. Es bringt Abkühlung, und außerdem müssen sie dann am Abend nicht auf den Gemüseacker und das Gießwasser mühsam mit Eimern aus dem Bach herbeischaffen. Sie hadert mit ihrem Schicksal. Warum wurde sie in Dingelbach geboren und hat noch dazu eine überstrenge, pingelige Mutter abbekommen? Es sind Theaterferien, die Schauspielschule hat für einige Wochen den Unterricht eingestellt, was aber nicht heißt, dass in Frankfurt sommerliche Ruhe herrschen würde. Ganz im Gegenteil: Im Zoo, im Palmengarten oder im neuen Waldstadion tummeln sich die Frankfurter auf Großveranstaltungen, da wird zu Jazzmusik getanzt, da gibt es Theateraufführungen, Kabarett, und am Abend wird ein Feuerwerk in den Himmel geschossen. Beim »Sommerfest auf Welle 470« und der »Ersten Presse-Bühnen-Olympiade« auf der Rennbahn sind viele Künstler der städtischen Bühnen dabei, und natürlich gehen auch die Schauspielschülerinnen hin. Alle außer Frieda, die dazu verdonnert ist, klebrige Kirschen zu entsteinen und am Abend zeitig in ihrem Bett zu liegen. Nur mit Ida kann sie darüber reden, höchstens noch mit Lehrer Hohnermann. Aber der wird auch immer spießiger; ständig warnt er sie vor irgendwelchen Gefahren, die in der Stadt auf ein junges Mädchen lauern. Dabei kennt Frieda sich inzwischen aus und glaubt, über solche Dinge besser Bescheid zu wissen als der brave Dorfschullehrer Johannes Hohnermann.
»Frieda! Ida!« ruft die Mutter aus dem Fenster. »Kommt mal helfen!«
»Ach, herrje«, stöhnt Ida missvergnügt und legt den Stiel einer Kirsche als Lesezeichen in ihr Buch. »Jetzt dürfen wir schleppen.«
Frieda steht erleichtert auf und geht zum Regenfass, um ihre Hände zu waschen. Wenigstens etwas Abwechslung.
»War höchste Zeit«, meint sie. »Jetzt kannst du wieder bei uns schlafen, und Mama hat ihre Kammer für sich allein.«
»Meinetwegen hätte Helga ruhig noch bleiben können«, findet Ida.
Es geht darum, dass Helga Schütz, die seit über einem Jahr bei ihnen wohnt, nun endlich eine neue Bleibe gefunden hat. Die Schütz Helga ist damals von ihrem Mann, dem Otto, so schlimm verprügelt worden, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden musste. Auch der Sohn, der damals neunjährige Heinz, musste in die Klinik, weil der Vater ihn gegen den Küchenherd geschleudert hat. Helga hat daraufhin etwas getan, was noch keine Ehefrau im Dorf gewagt hat: Sie hat ihrem Ehemann verkündet, dass sie sich scheiden lassen will, und hat ihn verlassen. Das war ein Skandal in Dingelbach, denn die Ehe ist heilig, Mann und Frau müssen zusammenstehen in guten und in schlechten Zeiten – so ist es schon immer gewesen, und so sehen es die Dingelbacher noch heute. Ehestreitigkeiten kommen vor, auch dass dabei zugeschlagen wird, ist normal, da kann auch ein Ehemann einmal mit einem blauen Auge herumlaufen. Meist ist es jedoch die Frau, die die Prügel einstecken muss. Aber gerade die Frauen im Dorf haben es der Helga verübelt, und als sie aus dem Krankenhaus zurück ins Dorf gekommen ist, hatte nur Marthe Haller, die den Dorfladen führt, den Mut, die Helga bei sich aufzunehmen. Marthe Haller – das ist Friedas und Idas Mutter.
Seitdem hat Helga Schütz bei ihnen gewohnt, und sie sind gut miteinander ausgekommen, obgleich es eng im Haus gewesen ist, sodass Ida sich schließlich eine Schlafgelegenheit unter dem Dach eingerichtet hat. Alles schien sich zum Guten zu wenden, denn weil es dem Otto Schütz nicht gelungen ist, seine Ehefrau mit Gewalt zurück auf den Hof zu holen, hat er erklärt, dass er selbst die Scheidung einreichen wird. Darüber sind sie alle froh gewesen, schon weil der Otto dann die Kosten tragen muss und die Helga demnächst endlich den Mann heiraten kann, der sie liebt und bei dem sie glücklich sein wird. Das ist der Oskar Michalski.
Aber die Dinge haben sich leider nicht so entwickelt wie erhofft.
Daran ist vor allem die Gertrud schuld, die Mutter vom Otto Schütz. Sie hat der Schwiegertochter schon immer das Leben schwer gemacht, und so hat sie ihren Sohn überredet, die Scheidung hinauszuzögern, damit die Helga nicht wieder heiraten kann. So muss Helga als abtrünnige Ehefrau in Schande leben und abwarten, bis der Otto sie freigibt, während Gertrud allerlei böse Gerüchte über ihre Schwiegertochter verbreitet. Und obgleich sich die Leute im Dorf damals über den Otto Schütz aufgeregt haben, weil er Frau und Kind so übel zugerichtet hat, schimpfen jetzt viele auf die Helga, das »untreue Luder«, das nicht zu seinem Ehemann zurückgehen will.
Sogar Marthe Hallers Dorfladen leidet inzwischen unter dieser Geschichte. Das hat die Mutter damals nicht wahrhaben wollen.
»Ach was«, hat sie gesagt. »Die Leute brauchen Waschpulver und Seife, Zucker und Salz, Nähgarn und Knöpfe und vieles mehr – wo sollen sie es denn kaufen, wenn nicht bei mir?«
Doch leider hat Marthe mit der Zeit einsehen müssen, dass sie sich getäuscht hat. Die Umsätze sind immer weiter zurückgegangen, viele kaufen nur noch das Nötigste bei ihr und warten lieber, dass jemand aus dem Dorf hinüber nach Steinbach oder nach Oberursel fährt, um sich von dort etwas mitbringen zu lassen. Und das alles nur, weil Marthe Haller diese »sündige Person«, die Helga, in ihrem Haus wohnen lässt.
Nach Ostern ist der Schütz Gertrud eine neue Schikane eingefallen. Sie schickt den Knecht Hannes einmal in der Woche mit dem Pferdewagen nach Bad Homburg und hat den Dorffrauen verkündet, jede, die etwas zu besorgen hätte, könne unentgeltlich mitfahren. Das hat vielen Bäuerinnen gefallen, schon weil der Hannes ein junger, fröhlicher Bursche ist, und wenn es die Feldarbeit erlaubt hat, war der Wagen voller Frauen, die an dieser neuen Art der Einkaufsfahrt großen Spaß gehabt haben.
Das hat dem Dorfladen schlimmen Schaden zugefügt, weil die Hallers auf den Waren sitzen geblieben sind und sich zusätzlich noch anhören müssen, dass die Sachen in Bad Homburg besser und sogar preiswerter seien als im Dingelbacher Dorfladen. Helga ist darüber ganz verzweifelt gewesen. Sie hat schon überlegt, in die verfallene Hütte auf dem Hügel einzuziehen, weil sie Marthe Haller nicht solche Schwierigkeiten machen will. Das hat Friedas Mutter ihr ausgeredet, aber dennoch war guter Rat teuer. Niemand in Dingelbach war bereit, Helga eine Unterkunft zu geben. Eine weggelaufene Ehefrau, die auf ihre Scheidung wartet – die will keiner haben, zumal man sich mit dem reichen Otto Schütz anlegt, wenn man ihr auch nur eine Dachkammer vermieten würde.
Schließlich aber haben der Killinger Hannes, der immer zur Helga gehalten hat, und der Rudolf Alberti, der Dorfheiler, sich energisch für die Helga eingesetzt und den Rabenwirt Guckes überredet, ihr eines der beständig leer stehenden Zimmer in seinem Gasthof zu vermieten. Der Guckes Jörg ist bald darauf eingegangen, aber seine Karin hat sich zuerst heftig gesträubt und behauptet, wenn »so eine« bei ihnen wohnen täte, würden ihnen die Gäste wegbleiben. Aber das hat der Killinger Hannes ihr ausgeredet, denn wo sollen die Dingelbacher sonst zum Abendschoppen einkehren, wenn nicht im »Raben«?
»Glaubst du vielleicht, die...
Erscheint lt. Verlag | 13.11.2024 |
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Reihe/Serie | Die Dorfladen-Saga |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1920er-Jahre • 2024 • Biografischer Roman • Buchgeschenk • dallmayr-saga • der eispalast • eBooks • Familiensaga • Frankfurt am Main • Frauenromane • frauenunterhaltung neuerscheinung 2024 • Historische Romane • Liebesromane • Neuerscheinung • nr.1-spiegel-bestsellerautorin • Oberursel • persönlichster roman • Reihe • Taunus |
ISBN-10 | 3-641-26251-8 / 3641262518 |
ISBN-13 | 978-3-641-26251-8 / 9783641262518 |
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