Ein tadelloses Glück (eBook)

Der junge Thomas Mann und der Preis des Erfolgs - 150 Jahre Thomas Mann
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2024 | 1. Auflage
464 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-32196-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein tadelloses Glück -  Heinrich Breloer
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Das atemberaubende Porträt des jungen Thomas Mann im Kampf um Katia Pringsheim, geschrieben von der Filmikone Heinrich Breloer (»Buddenbrooks«, »Die Manns«)
Heinrich Breloer hat mit seinem TV-Mehrteiler »Die Manns« unser Bild von Thomas Mann geprägt wie niemand sonst. Marcel Reich-Ranicki bezeichnete die Filme als »Glanzstück« und »Höhepunkt der deutschen Filmkunst«.

In »Ein tadelloses Glück« erzählt Breloer nun die ereignisreiche Vorgeschichte aus den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs: Von Thomas Mann als ehrgeizigem jungen Schriftsteller, der mit den »Buddenbrooks« einen ersten Erfolg, aber noch nicht das gesellschaftliche Ansehen erreicht hat, von dem er träumt. Dem schmerzlich bewusst ist, dass es dafür die Ehe bräuchte und dass seine Sehnsucht nach dem Anblick männlicher Schönheit ein Geheimnis bleiben muss. Erst als Thomas auf Katia, die Tochter der jüdisch-großbürgerlichen Familie Pringsheim, trifft, ist ihm klar: Die oder keine! Allein mit ihr, das spürt er, kann ihm der Aufstieg gelingen. Doch um Katia für sich zu gewinnen, begibt Thomas sich auf ein glattes gesellschaftliches Parkett.

In »Ein tadelloses Glück« schildert Heinrich Breloer faktengestützt und mit großer erzählerischer Verve die miteinander verwobenen Schicksale von Thomas Mann und Katia Pringsheim so lebendig und unmittelbar wie nie zuvor. Dabei greift er zurück auf Jahrzehnte an Recherchen und Interviews mit den Mitgliedern und dem Umfeld der Familie Mann und lässt uns die Mitglieder der wohl bekanntesten deutschen Familie des 20. Jahrhunderts mit völlig neuen Augen sehen.

Das literarische Ereignis zum 150. Geburtstag von Thomas Mann!

Heinrich Breloer, geboren 1942, zählt zu den bedeutendsten Film- und TV-Autoren Deutschlands und wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, darunter mit acht Grimmepreisen, dem Emmy und dem Deutschen Fernsehpreis. In der öffentlichen Wahrnehmung ist er mit den Manns so stark verbunden wie wenige andere. Für seine Verfilmung der Buddenbrooks und die mehrteilige Verfilmung der Familiengeschichte 'Die Manns', sowie für seine bereits erschienenen Bücher über die Manns hat er nicht nur mit Golo Mann und Elisabeth Mann Borgese, sondern auch mit zahlreichen Weggefährten und Nachkommen ausführliche Gespräche geführt, ist in den Nachlass eingetaucht und heute mit der gesamten Familiengeschichte bestens vertraut. Heinrich Breloer lebt in Köln.

Vatertod


In den frühen Morgenstunden des 1. Juni im Jahr 1891 fuhren in Lübeck zwei Kutschen vor das Haus in der Beckergrube 52. Frau Senator Mann erwartete sie schon. Sie stand oben am Fenster und sah mit sorgenvollem Gesicht auf die beiden Herren, die zuerst ausgestiegen waren und mit ihren großen Arzttaschen auf das Haus zugingen. Es waren Dr. med. Möhlenbach und sein Assistent Dr. Weber. Möhlenbach hatte sich einen guten Ruf als Chirurg erworben. Allerdings gab es zurzeit leider noch kein Krankenhaus mit einem Operationsraum in der Hansestadt. Man musste sehen, wie sich ein Eingriff im Wohnhaus der Familie Mann organisieren ließ, zu der der Chirurg und seine Helfer in die Beckergrube kamen. Ein zusätzlicher Assistent und zwei Krankenpflegerinnen entstiegen der zweiten Kutsche. Gemeinsam mit einem Diener trugen sie noch mehr Taschen und einiges Gerät ins Haus – alles, was für solch eine Operation notwendig war.

»Eine Tasse Tee werden Sie doch noch vor der Operation mit mir trinken?« Mit diesen Worten schenkte Julia Mann den Ärzten vom frisch aufgebrühten Tee ein, den sie über den braun funkelnden Brocken Kandiszucker goss, sodass man das leise Knacken hören konnte, mit dem der Zucker auf den Tee reagierte.

Dr. Möhlenbach sah, wie die Hand der Frau Senator leicht zitterte und sie Schwierigkeiten beim Einschenken hatte.

»Wie geht es denn unserem Patienten, dem Herrn Senator, heute früh?«

»Er ist ganz gefasst und voller Vertrauen in seine Ärzte. Er wurde ja vor der Operation auf Diät gesetzt, und mit Ihrem Schlafmittel hat er eine gute Nacht verbracht. Er wartet im Schlafzimmer auf Ihren Besuch.«

»So soll es sein. Ich werde zu ihm gehen und ihn noch etwas vorbereiten.«

Dr. Weber begab sich hinüber in den Ballsaal, den man leer geräumt hatte, denn hier sollte der Eingriff stattfinden.

»Wir haben versucht, alles so herzurichten, wie Sie es angeordnet haben«, beteuerte Julia ängstlich. Der Arzt registrierte, wie die Furcht und Sorge vor dem Ungewissen einer Operation die Frau Senator schneller atmen ließ. Er lächelte beruhigend.

»Wissen Sie, wir sind nicht mehr die Steinschneider, wie sie drüben auf Ihrem schönen Marktplatz noch vor Zeiten aufgetreten sind, um ihre Künste ohne Betäubung an ihren Patienten vorzuführen. Wir haben modernste Instrumente, wir haben das Wissen, wir haben die Erfahrung. Und vor allem haben wir das Chloroform, mit dem wir die Patienten in einen tiefen Schlaf versetzen. Blasensteine, die sehr wahrscheinlich die starken Schmerzen verursachen, die Ihrem Herrn Gemahl in den vergangenen Wochen so sehr zusetzten, die habe ich schon öfter aus der Blase gefischt. Es ist zwar nicht gerade eine Routineoperation, aber auch keine ganz große Sache. Der Herr Senator hat mit seinen einundfünfzig Jahren noch eine sehr gute Konstitution. Es ist nur ein kleiner Schnitt notwendig. Wir vernähen nach dem Eingriff die Wunde, und um die Mittagszeit ist schon wieder alles vorbei. Wer weiß – in einem Vierteljahr haben Sie bestimmt alles vergessen.«

»Sagen Sie das bitte auch gleich noch einmal meinem Mann. Es ist so tröstlich, wenn gerade Sie das zur Sprache bringen. Wissen Sie, unser ältester Sohn, der Heinrich, ist zurzeit noch in Berlin. Er hospitiert dort in einem Verlag, bei einem Herrn Fischer. Bislang habe ich ihn nicht herbestellt.«

»Um Gottes willen, Frau Senator, wo denken Sie hin! Für so einen Eingriff muss doch Ihr Ältester nicht aus dem fernen Berlin anreisen!« Dr. Möhlenbach nahm einen letzten Schluck vom süßen Tee und machte sich anschließend, geleitet von Julia, auf zu seinem Patienten, dem Finanzsenator.

Im Ballsaal des vornehmen Bürgerhauses war der Billardtisch ins Licht der großen, bis zum Boden reichenden Fenster gerückt und mit frisch gebügeltem weißem Leinen ausgelegt worden. Auf kleineren Tischen stapelten sich ebenfalls frische Leinentücher, und die Assistenten ordneten die Instrumente für die Operation griffbereit an. In der Küche stand bereits ein Kessel mit heißem Wasser auf dem Herd.

Als Julia sich schließlich unmittelbar vor der Operation von ihrem Ehegatten verabschiedete, erinnerte er sie nochmals daran, dass sich sein Testament oben in seinem Sekretär in einer Mappe befände, Wandschneider würde dann das Nötige veranlassen, sie kenne ja die Zuverlässigkeit seines langjährigen Mitarbeiters.

»Sehen Sie, Dr. Möhlenbach, so ist er, der Kaufmann und Finanzsenator. Alle Möglichkeiten sind immer eingerechnet!«, sagte Julia. Und an ihren Mann gewandt, fügte sie hinzu: »Henry, wir sind alle bei dir. Wenn du aus deiner Narkose aufwachst, stehen wir alle an deinem Bett, die beiden Mädchen und unser Tommy. Und freuen uns, dass alles gut überstanden ist.«

Die Operation hatte bereits begonnen, da kam Julia Mann mit ihrer ältesten Tochter, die Julia hieß wie sie und nur Lula genannt wurde, ein weiteres Mal an der Tür zum Ballsaal vorbei. Carla, die Jüngere, erst neun Jahre alt, stand neugierig und unerschrocken am Türspalt und sah zu, was da passierte. Der Chirurg und die beiden Assistenten hatten ihre weißen Kittel übergestreift. Sofort zog die Mutter ihre Tochter weg von der Tür. Als sie selber in den Ballsaal blickte, entdeckte sie im Licht des frühsommerlichen Vormittags den Senator auf dem Billardtisch. Ganz mit einem weißen Laken war er abgedeckt. Über Nase und Mund befand sich eine Art Drahtsieb mit Mulleinlage, die Maske für das Chloroform.

Als Dr. Weber die ersten Tropfen des Narkosemittels auf die Maske fallen ließ, zog Julia die Tür zu. Draußen hörte sie noch, wie der Chirurg ihren Mann bat, mit dem Zählen zu beginnen. Ganz schwach vernahm sie: »Eins … zwei … drei.« Bald wurde das Zählen immer leiser, und als es komplett aussetzte, zeigte es schließlich den Ärzten an, dass der Patient das Bewusstsein verloren hatte.

Jemand, der das alles nur von ferne beobachtet hatte, war Thomas. Es waren gerade noch fünf Tage bis zu seinem sechzehnten Geburtstag. Nun schloss Tommy sich eng an seine Mutter an und ging mit ihr in den Salon mit dem kleinen Flügel. Sie wollten hier gemeinsam warten, bis die Mediziner ihnen das Ergebnis verkündeten. Lula und Carla hatte die Mutter auf ihr Zimmer geschickt.

Am Klavier schlug Julia zart einige Töne an, die Tommy sofort erkannte. Es war ein Lied, das sie ihrem Zweitältesten schon oft vorgespielt hatte. Ganz ruhig sprach er die ersten Zeilen mit: »Am Brunnen vor dem Thore, / da steht ein Lindenbaum: / Ich träumt’ in seinem Schatten / So manchen süßen Traum. / Ich schnitt in seine Rinde / So manches liebe Wort …«

Während die Mutter weiterspielte, entfernten sich Tommys Gedanken vom Wanderer, der sich da gerade an eine glückliche Vergangenheit erinnert, als er seine Heimat auf immer verlässt. Es waren eigentlich keine Gedanken mehr, was ihn jetzt erfüllte, war vielmehr ein allumfassendes Gefühl wehmütiger Traurigkeit. Doch ehe sich diese Stimmung verfestigen konnte, setzte abermals die Angst um den Vater ein, und nun sah er diese Angst auch im Gesicht der Mutter. Sie war am Schluss der Schubert-Melodie angelangt und sang die letzte Strophe ausdrucksvoll und leise mit ihrer schönen Stimme: »Und seine Zweige rauschten, / Als riefen sie mir zu: / Komm her zu mir, Geselle, / Hier findst Du Deine Ruh’!«

Dann war es ganz still. Als sie Tommy anschaute, lächelte er ein wenig. Dennoch schimmerten bei ihr Tränen in den Augen, so wie wohl auch bei ihm.

Dr. Möhlenbach hatte den erforderlichen Schnitt nahe der Harnröhre getan, um dort jenes sinnreiche chirurgische Werkzeug einzuführen, mit dem der schmerzhafte Blasenstein entfernt werden sollte. Er öffnete den Schnitt etwas, ging noch näher mit seinen Augen heran – und sah, was er sah.

»Herr Collega …«

Dr. Weber konnte die Diagnose seines Chefs nur bestätigen. Hier ging es nicht mehr darum, einen Blasenstein zu entfernen. Der Krebs hatte sich ganz offensichtlich durch die Blasenwand gefressen und in den Unterbauch vorgearbeitet, Prostata, Harnleiter, Samenstrang und was sich sonst noch in der Gegend befand waren entweder schon befallen oder höchst gefährdet. Da war nichts mehr zu machen; um das zu erkennen, musste man nicht einmal den Schnitt erweitern. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Patient das Zeitliche segnen würde.

»Vernähen Sie den Schnitt, Weber. Ich gehe rüber zur Frau Senator.«

Als es an der Tür klopfte, erschraken Mutter und Sohn zunächst, obwohl sie die Ankunft von Möhlenbach ja erwartet hatten. Der Chirurg trat ein und setzte sich unaufgefordert an den Tisch. Mit einem Blick lenkte Julia ihren Sohn aus dem Zimmer.

Dr. Möhlenbach machte es kurz: »Keine guten Nachrichten, Frau Senator.«

Julia schlug die Hände vors Gesicht. »Um Gottes willen, reden Sie, Herr Doktor!«

Der Chirurg berichtete, was sie gesehen hatten. Es war der Krebs, überall schon und nicht mehr aufzuhalten.

»Gibt es denn wirklich keine Hoffnung?«

Dr. Möhlenbach schüttelte den Kopf. »Leider inoperabel, Frau Senator.«

Und dann die letzte bange Frage: »Wie lange? Wie viel Zeit geben Sie meinem lieben Mann noch?«

Der Arzt hob ratlos die Schultern. »Einige Monate, vielleicht ein Jahr.«

Julia griff zum Taschentuch und hielt es sich vors Gesicht. »Warum?«, schluchzte sie. »Er ist doch noch so jung. Und die fünf Kinder! Unser Jüngster ist gerade erst ein Jahr auf der Welt!«

Der Chirurg legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm. »Es ist beschlossen da oben. Der Krebs – dagegen ist bislang kein Kraut...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2024 • Armin Mueller-Stahl • Bestseller • Biografie • Buddenbrooks • Die Manns • eBooks • Florian Illies • Geschlechtsidentität • Homosexualität • Katia Pringsheim • Künstler • LGBTQ • LGBTQAI+ • Liebesgeschichte • Liebesroman • Literaturnobelpreis • Männlichkeit • Neuerscheinung • neuerscheinung 2024 • Queer • Rollenbild Mann • Sehnsucht • Thomas Mann • Volker Weidermann • wahre Begebenheiten
ISBN-10 3-641-32196-4 / 3641321964
ISBN-13 978-3-641-32196-3 / 9783641321963
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