Erinnerungen eines Taugenichts (eBook)

Eine Jugend zwischen Schwabing und Starnberger See
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
320 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-30269-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erinnerungen eines Taugenichts -  Anatol Regnier
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Geschichte wird lebendig - Anatol Regnier taucht ein in das Schwabing der Fünfzigerjahre, als die Künstlerszene die bleierne Schwere der Kriegsjahre abzuschütteln versucht.
Der Mensch hat nur ein Leben, voller Hoffnungen, voller Träume. Dieses Gefühl begleitet den Schriftsteller und Musiker Anatol Regnier seit seiner Kindheit. Geboren im Januar 1945 als Sohn der Theaterleute Charles Regnier und Pamela Wedekind, aufgewachsen nach dem Zweiten Weltkrieg in St. Heinrich am Starnberger See und dann im Schwabing der Fünfzigerjahre, als sich in München eine lebendige Künstler- und Bohèmeszene entwickelt, die den jungen Anatol in ihren Bann zieht. Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen sind ein eindringliches Sittengemälde der Nachkriegszeit, in der neben den Geschichten seiner prominenten Familie auch viele illustre Persönlichkeiten der damaligen Zeit lebendig werden. Sie alle prägen den späteren Chronisten der Nachkriegsjahre nachhaltig.

Anatol Regnier, Sohn von Pamela Wedekind und Charles Regnier, begann seine Laufbahn als klassischer Gitarrist. Mit seiner Familienbiografie »Du auf deinem höchsten Dach« über seine Großmutter Tilly Wedekind und ihre beiden Töchter Pamela und Kadidja begeisterte er ein großes Publikum. Sein Buch »Jeder schreibt für sich allein« wurde von Dominik Graf fürs Kino verfilmt. Anatol Regnier lebt und arbeitet in München und in Ambach am Starnberger See.

1.

Das Malvenhaus in St. Heinrich


ZWEIMAL IN DER WOCHE KOMMT EIN dreirädriger Kleinlastwagen die Auffahrt zum Malvenhaus hinauf und biegt in das immer offene Gartentor ein. Der Fahrer klettert auf die Ladefläche und öffnet eine Seitenklappe. Obstkisten werden sichtbar, ein Ladentisch, eine Waage: der Gemüse- und Obstverkäufer. Er wird sehnlichst erwartet, denn das Malvenhaus liegt einsam am Ostufer des Starnberger Sees, Abwechslung ist willkommen. Ich bin vier oder fünf Jahre alt und stehe mit den Erwachsenen vor der Luke. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen – Pfirsiche, Birnen, zum Anbeißen schön. Einmal hat er sogar Weintrauben, da knabbere ich noch die kleinen grünen Spitzen vom Strunk ab. Der Gemüsemann klappt die Lade zu, klettert in den Fahrersitz, rangiert ein paarmal, verschwindet. Keine eindrucksvolle Erscheinung. Auch sein Wagen ist ein ärmliches Gefährt. Aber seine Pfirsiche haben es mir angetan.

Anderes für den täglichen Bedarf bekommt man eine halbe Wegstunde entfernt bei Frau Bickel in St. Heinrich. Im weißen Kittel steht sie hinter dem Ladentisch, wiegt ab, berät, packt ein. Herr Bickel, ihr Mann, räumt Kisten von hier nach dort, fegt den Vorplatz, geht seiner Frau zur Hand. Er trägt Knickerbocker, sogenannte Pumphosen, am Knie endend, darunter Wollstrümpfe. Viele Männer tragen Pumphosen, für mich sind sie auf ewig mit Herrn Bickel verbunden. Wie das Ehepaar nach St. Heinrich kam, ist mir nicht bekannt. Plötzlich waren die Bickels da, und kurz darauf gab es den Laden, in einer rückwärts gelegenen Garage an der Landstraße zwischen der Fischerei Bernwieser und dem Gasthof Fischerrosl, gern angenommen von der Bevölkerung, denn wenigstens muss man nicht mehr für alles und jedes nach Seeshaupt. Frau Bickel ist geschäftstüchtig. Da man den Laden von der Straße aus nicht sieht, steht ein Schild an der Einfahrt: »MARIA BICKEL BIETET AN …«, darunter Details ihrer Waren.

Von denen interessieren mich vor allem die Kekse und Waffeln in den kastenartigen Behältern mit gläsernen Deckeln. Hier müsste ich einmal unbeobachtet sein, denke ich, vielleicht versehentlich nachts im Laden eingeschlossen werden, dann könnte ich, während es draußen ganz still ist, so viele Kekse essen, wie ich will. Oma Goldi, die Mutter unseres Vaters, macht aus ihnen »Kalten Hund«, legt abwechselnd Kekse und geschmolzene Butter in die Kuchenform, bis sie voll ist. Über Nacht wird die Schokolade fest, der Kuchen wird scheibchenweise genossen. Backt Oma Goldi im Rohr, legt sie oben Butter-Einwickelpapier in die Form, sodass alle Reste abschmelzen – immerhin Butter, nicht Margarine. Gewisse Standards ist man im Malvenhaus gewohnt.

Eines Tages ist Herr Bickel nicht mehr da, er ist plötzlich verschwunden. Gerüchteweise verlautet: abgeholt, Polizei oder Militärstreife, wahrscheinlich NS-Vergangenheit. Erwachsene berichten es beiläufig, als wüssten alle, worum es geht und weshalb es sich erübrige, Näheres zu erörtern. Vielleicht sollen es die Kinder auch nicht zu genau wissen. Aber ich spüre: Es hat mit dem Krieg zu tun. Der Krieg ist immer präsent, wie graues, ödes Land.

Krieg – was war das wohl? Meine Mutter habe Mehl im Rucksack aus der Stroblmühle geholt, zum Essen sei man »zum Bader« gegangen, da habe es gelegentlich noch etwas gegeben – gemeint ist der Gasthof Fischerrosl in St. Heinrich, wir kennen ihn, aber »im Krieg« war alles anders. Einmal sei unser Vater nachts von München nach St. Heinrich geradelt, da habe es laut geknallt, er habe geglaubt, erschossen worden zu sein, dabei war nur ein Reifen geplatzt – die Reifen seien so schlecht gewesen, dass man sie immer wieder habe flicken müssen. Dass er nicht »im Krieg« war, wissen wir und finden es gut, vielleicht wäre er sonst nicht mehr da – keinen Tag seines Lebens habe er eine Uniform tragen wollen, erzählt er uns oft, vor Musterungen habe ihm ein Arzt eine Spritze verpasst, die das Fieber hochtrieb, so habe er einen Lungenschaden vorweisen können, und Schauspieler wurden oft zurückgestellt. Kurzum: Es funktionierte, er musste nicht hin.

Andere hatten weniger Glück. Meine Mutter erzählt vom »Volkssturm«, ich sehe alte Männer vor mir, die mit Stöcken bewaffnet in eine Schlacht wanken, und höre das Wort »KZ«. Das stehe für »Konzentrationslager«, erklärt man mir, ich frage: Was wurde da »konzentriert«? Das sei nur ein Ausdruck, sagen die Erwachsenen, für ganz schlimme Orte. Auch »SS-Männer« habe es gegeben. Allein das Wort erzeugt Grauen. War Herr Bickel einer von ihnen? War auch Frau Bickel beteiligt? Irgendwann verschwindet auch sie, macht ihren Laden dicht, ist weg. Die Einfahrt ist noch da, und jedes Mal, wenn ich an ihr vorbeikomme, denke ich an sie, ihre Kekse, Herrn Bickels Pumphosen und das Schild »MARIA BICKEL BIETET AN …«.

Amerikanische Jeeps und Militärlaster fahren oft am Malvenhaus vorbei, aber auch viele Deutsche haben wieder ein Auto. Sonntagabends stehen wir am Gartenzaun und beobachten den nach München zurückflutenden Verkehr, ein Auto nach dem anderen, nicht wenige mit Anhänger, darauf Paddel- und Schlauchboote. Sie kommen von der »Robinson-Insel«, einem Badeplatz in St. Heinrich, angeblich mit Eisbude und anderen Attraktionen. Der Name hat für mich einen magischen Klang, dort gewesen bin ich nie, denn wir haben unseren eigenen Strand, einen schmalen, verwilderten Uferstreifen mit einem Steg und einer halb verfallenen Bootshütte. Um zu ihm zu gelangen, überqueren wir die Landstraße, mit aller von der Mutter eingetrichterten Vorsicht: erst links schauen, dann rechts, und wenn wirklich nichts kommt, hinüber. Das Ufer ist dicht mit Schilf bewachsen, tritt man in eine seiner Wurzeln, wird das Wasser blutig rot. Zwischen dem ersten und zweiten Schilfgürtel ist eine freie Fläche, hier lernen wir schwimmen, und da ich die Luft lange anhalten kann, übe ich mich im Tauchen. Erst mit geschlossenen, dann mit offenen Augen schleiche ich mich an andere Schwimmer heran und fasse ihnen an die Beine.

Im Schilf verborgen liegt Onkel Axels Segelboot, eine Olympia-Jolle, in der er uns viel zu selten mitnimmt. Er soll sie Gustaf Gründgens abgekauft haben, dem sie ursprünglich gehörte, der zum Segeln aber keine Zeit hat. Ich krieche unter der Persenning hinein, rieche Holz und Lack, höre das Wasser glucksen. Gustaf Gründgens kommt manchmal zu Besuch und bleibt ein paar Tage. Wir nennen ihn »Onkel Gustaf« und haben ein wenig Angst vor ihm, denn wir wissen: Er ist berühmt und leitet ein Theater in Düsseldorf. Unsere Mutter ist mit ihm befreundet, und für unseren Vater scheint er eine Art Vorbild zu sein. Mit ihm reist ein jüngerer Mann, Peter Gorski, angeblich sein »Adoptivsohn« und weniger respektgebietend.

Wir singen leise unter dem Fenster:

Lieber Onkel Peter,

komm ein bisschen runter!

Lass den Onkel Gustaf oben,

dann wollen wir dich loben!

Onkel Axel, zwei Jahre jünger als mein Vater, war »im Krieg«. Als alter Mann, kurz vor seinem Tod 2006, erzählt er mir seine Geschichte: 1937 ohne Arbeit und Perspektive, hat er sich freiwillig zum »Reichsarbeitsdienst« gemeldet, wurde übergangslos in der Wehrmacht übernommen und war bei den Kämpfen von Anfang an dabei, erst in Frankreich, dann in Russland, in Sommeruniform. »Massenhaft Erfrierungen« habe es gegeben und ein »überwältigendes Gefühl der Sinnlosigkeit«. 1944 hat man ihn geschnappt, die Truppen waren bereits aufgelöst, jeder sollte auf eigene Faust durchkommen. Er habe dann tief in Russland im Wald arbeiten müssen, jeden Morgen habe man Tote hinausgetragen, er habe gehungert, seine Essensrationen heimlich vernichtet, brandgefährlich sei das gewesen, da es als Sabotage galt. 1949 hat man ihn mit einem Krankentransport nach Hause geschickt. So kam er im Malvenhaus an, abgemagert, mit Rattenbissen im Gesicht, man hatte mit seiner Rückkehr fast nicht mehr gerechnet. Er hatte dann bald ein Auto und diverse Freundinnen und bekam eine kleine Anstellung beim Bayerischen Rundfunk. Er wurde neunzig Jahre alt und brachte es bis zum Verwaltungsdirektor des Bayerischen Fernsehens. Am Ende seines Lebens hat er fast nur noch geschwiegen. »Woran denkst du?«, fragte ich ihn. »An gar nichts«, sagte er, »das habe ich in Russland gelernt.«

Onkel Axel mit drei Regnier-Kindern auf Gustaf Gründgens’ Olympia-Jolle. St. Heinrich, 1951.

Neben unserer Badehütte hat sich Filmregisseur Rolf Hansen eine eigene Hütte gebaut, weit schöner als unsere. Sie ist dunkelbraun, riecht durchdringend nach Holzschutzmittel und hat einen Dachboden, in den man hineinklettern kann. Rolf Hansen hat das Kriegsende mit unseren Eltern im Malvenhaus verbracht, gehört quasi zur Familie, kommt oft nach St. Heinrich. Fährt er weg, schließt er die Hütte ab, ist er da, will er nicht gestört werden. Kinder mag er nicht und mich, wie es scheint, am allerwenigsten. Dass er Filmregisseur ist, geht uns wie selbstverständlich über die Lippen, aber würde man uns fragen, was ein Filmregisseur genau tut, wüssten wir vermutlich wenig zu sagen. Er spricht von Scheinwerfern, die sein Sehvermögen geschwächt hätten, ich stelle ihn mir vor, wie er in einem großen Saal mit zusammengekniffenen Augen in Lichter blinzelt. Aber was für Filme hat er gedreht? Wir wissen es nicht und fragen nicht nach.

Jetzt weiß ich: Er war eine ziemlich große Nummer, auch und gerade in der Nazi-Zeit. Erst Assistent des Filmpioniers und »Reichsfilmkammer«-Präsidenten Carl Froelich, dann Regisseur der Zarah-Leander-Filme Der Weg ins Freie (1941), Die große Liebe (1942) und...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2024 • Biografie • Biographien • eBooks • Geschichte • München • Neuerscheinung
ISBN-10 3-641-30269-2 / 3641302692
ISBN-13 978-3-641-30269-6 / 9783641302696
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