Mein drittes Leben (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61529-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein drittes Leben -  Daniela Krien
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Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024! Sie hat alles gehabt und alles verloren: Sekunden der Unachtsamkeit kosten ihre einzige Tochter das Leben. Tief sieht Linda in den Abgrund und wäre beinahe gefallen, doch da sind hauchfeine Fäden, die sie halten - die Hündin Kaja, die steten Handgriffe im Garten, das Mitgefühl für andere. Wie viel Kraft in ihr steckt, ahnt sie erst, als sie zurückfindet in einen Alltag und zu sich selbst.

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin. Ihre Romane ?Die Liebe im Ernstfall? und ?Der Brand? standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Daniela Krien hat zwei Töchter und lebt in Leipzig.

Heute Morgen kam ein Bussard vom Himmel geschossen und stürzte sich auf eine meiner jungen Hennen. Sie hatte sich aus dem Schutz der Obstbäume herausgewagt und abseits von den anderen gepickt. Ich war gerade dabei, eine Schubkarre voller Laub, Dreck und dürrer Äste am Hühnergarten vorbei Richtung Komposthaufen zu schieben, als ich den Raubvogel aus den Augenwinkeln herankommen sah. Ich ließ die Schubkarre los, riss die Pforte zum Hühnergarten auf und rannte. Meine Hände steckten in Arbeitshandschuhen, und so griff ich, ohne nachzudenken, nach ihm. Mit seinem kurzen, gebogenen Schnabel hackte er nach mir, stieß schrille Töne aus, schlug wild mit den Flügeln, ohne seine Beute loszulassen. Es war eine Kraft in dem Tier, mit der ich nicht gerechnet hatte, und ich drehte den Kopf zur Seite, um mich vor seinen Hieben zu schützen. Als ich ihn richtig zu fassen kriegte, schleuderte ich ihn mit ganzer Kraft in die Luft zurück.

»Hau ab!«, schrie ich mit fremder Stimme.

Für einen Moment sah es so aus, als sei er verletzt. Seine Flügel schienen den Rhythmus nicht zu finden. In geringer Höhe taumelte er über mir. Doch plötzlich entfernte er sich mit kräftigen Flügelschlägen, kreiste noch einmal über dem Hühnergarten und drehte schließlich ab.

Eine Weile blieb ich stehen, um abzuwarten, ob er einen zweiten Versuch wagen würde. Mein Herz raste; ich spürte mein Blut bis in die Fuß- und Fingerspitzen hinein pulsieren. Laut und stoßweise ging mein Atem, und zu meinen Füßen lag die Henne und rührte sich nicht. Ich riss mir die Handschuhe von den Händen, bückte mich und wollte sie gerade berühren, als sie plötzlich quicklebendig davonstob. Lediglich ein paar Federn hatte sie gelassen.

Für einen Augenblick stand mir mein früheres Ich vor Augen: die Frau mit den gut sitzenden Haaren, der Vorliebe für Kaschmir, Seide und teures Leinen, ihre gepflegten Nägel, die stets sorgfältig geschminkten Augen und Lippen und ihr Widerwille gegen alles Grobe und Schmutzige. Die Hypochonderin, die jedes Krankheitssymptom googelte und immer Krebs vermutete. Die Vorsichtige, die jedes Lebensmittel schon am Tag nach dem Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums wegwarf. Die Saubere, die der Putzfrau noch einmal hinterherwischte.

Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf, ging zur Schubkarre zurück, schob sie zum Kompost und entleerte sie. Mit einer Mistgabel arbeitete ich die Fuhre unter und suchte noch einmal den Himmel nach dem Räuber ab. Beim nächsten Mal käme er nicht so ungeschoren davon. Sollte er wiederkehren, würde ich seinen Kopf mit den starren gelben Augen gegen den nächstbesten Baum schlagen.

Mein Name ist Linda.

Linda bedeutet die Milde, die Freundliche, die Sanfte. Dieser Name hat nichts mehr mit mir zu tun.

 

Es ist noch kalt im Haus. Das Feuer im Ofen brennt erst seit wenigen Minuten. Ich trage ein langes Unterhemd aus dicker Baumwolle und einen Rollkragenpullover mit einer Daunenweste darüber. Das Teewasser kocht, ich schneide den Ingwer hinein und stecke mir eine hauchdünne Scheibe in den Mund. Dann setze ich Wasser für Kartoffeln auf und widerstehe dem Drang, eine Nachricht an Richard zu schreiben. Ich will irgendwem von dem Bussard erzählen, und er ist der Einzige, den ich nicht aus meinem Leben vertrieben habe.

Kaja weicht mir nicht von der Seite. Die Hündin spürt alles, reagiert unmittelbar. Während ich unruhig von Raum zu Raum gehe, bleibt sie dicht neben mir. Das Tier versteht mein Verhalten nicht; es macht ihm Angst. Es will ein souveränes Frauchen, ich dagegen sende Signale, die es verwirren und seine unterwürfige Anhänglichkeit noch verstärken.

Ich schalte das Radio ein, setze mich an den Tisch, beginne, die Kartoffeln zu schälen, und weise Kaja auf ihren Platz neben dem Ofen, der nun vor Hitze glüht. Sie gehorcht sofort. Der Wetterbericht kündigt Regen an; in den Verkehrsmeldungen werden die wegen des gestrigen Sturms gesperrten Straßen in ganz Mitteldeutschland aufgezählt.

Im Landkreis Harz, zwischen Elend und Sorge …

Ich lache laut auf, und Kaja hebt den Kopf und blickt mich erschrocken an.

 

Nun ist es windstill.

Im fahlen Winterlicht dieses Januartages sitze ich am Küchenfenster, trinke frischen Ingwertee mit reichlich Honig und sehe in den Hof hinaus. Hell wird es seit Wochen nicht. Ein gleichmäßiges Grau hängt über der Gegend und schluckt jeden Übermut; es dämpft die Empfindungen, die guten wie die schlechten. Ich fühle etwas, doch dieses Etwas will nicht hoch hinaus. Es ist ein kleines, unscheinbares und doch lebenserhaltendes Glimmen.

Ich ziehe die Daunenweste aus und auch den dicken Pullover. Von meinen Achselhöhlen geht ein strenger Geruch aus; ich muss mich wieder einmal richtig waschen. Die Haare sind nicht so wichtig, regelmäßiges Bürsten genügt. Shampoo benutze ich schon lange nicht mehr. Die Talgproduktion regulierte sich innerhalb weniger Monate, und Haut und Haar scheinen gesünder als je zuvor.

Ich hocke mich in die kalte Badewanne und drehe den Duschhahn auf. Kurz heiß, dann kalt, dann einseifen und lange kalt abspülen. Nach dem Trockenrubbeln kribbelt die Haut, und mir ist warm. Im trüben Spiegel über dem Waschbecken sehe ich mein Gesicht nur verschwommen. Die Finger meiner rechten Hand fahren die lange Narbe über dem Schlüsselbein entlang. Jeden Tag bestreiche ich sie mit Salbe. So bleibt die Haut elastisch, und nach und nach verblasst die blau-lila Färbung. Darunter war einmal meine Schilddrüse. Der Krebs hat sie zerstört, und die Ärzte nahmen sie heraus, um mein Leben zu retten, das ihnen mehr wert war als mir selbst. Die Rettung von Leben ist ihre Aufgabe. Es interessiert sie nicht, in welches Leben sie den geheilten Patienten zurückschicken.

Die Angst und die Verzweif‌lung, die oft auf eine Krebsdiagnose folgen, blieben bei mir aus. Tatsächlich empfand ich eine merkwürdige Freude, eine Art gesteigerte Lebendigkeit im Angesicht des Todes, und ein Gefühl, wie es ein Marathonläufer kurz vor dem Ziel haben muss. Richard, meine Mutter und meine Freunde waren fassungslos. Nicht noch ein Schicksalsschlag nach dem, was schon geschehen war. Warum, fragten sie, warum ausgerechnet Linda, nach allem, was sie durchgemacht hat?

Warum nicht?, dachte ich.

Der Krebs erschien mir folgerichtig und konsequent. Mein Körper hatte seine Widerstandskraft verloren. Die Trauer hatte sich seit über einem Jahr durch meine Zellen gefressen. Sie waren zu schwach geworden. Ein logischer Vorgang.

Richard tat, was Männer in Krisen eben tun: Lösungen finden. Ganze Nächte verbrachte er mit der Recherche im Netz. Er kauf‌te Grüntee, Kurkuma und Brokkoli, wegen ihrer angeblich wachstumshemmenden und Krebszelltod hervorrufenden Wirkung, er verbannte Zucker aus unserem Haushalt und organisierte Arzttermine für Zweit- und Drittmeinungen. Die Diagnose blieb die gleiche.

In Richard ging ein Wandel vor, es war offensichtlich. Die dunkle Müdigkeit der letzten Monate wich aus seinem hager gewordenen Gesicht. Die tiefen Falten von der Nase zum Mund schienen sich ein wenig zu glätten, und sein Gang wirkte dynamischer. Endlich gab es einen Grund, die Trauer hinter sich zu lassen und wieder zu handeln. Meinen Krebs zu bekämpfen wurde zu seiner Mission. Ab hier ging es wieder vorwärts.

Mein eigener Kampf dagegen war kein echter Kampf, sondern lediglich ein Reflex, der durch die Möglichkeit des Todes ausgelöst worden war. Der Mörder mit dem Namen Krebs legte seine Hände um den Hals des Opfers und drückte zu. Das Opfer wehrte sich unwillkürlich, beinahe wider den eigenen Willen, denn jede Kreatur wehrt sich gegen den Tod. Der Selbsterhaltungstrieb ist uns genetisch eingeschrieben. Richard nahm mir diesen Gedanken übel, denn in dieser Version der Geschichte kam er nicht vor.

 

Ich denke viel an Richard. Er ist mein Mann – ein guter Mann, aus einer freundlichen, intakten Familie, mit einem Stammbaum, in dem es Kinder, Eltern, Geschwister, Nichten, Neffen und sogar noch zwei Großmütter gibt, während meine Familie fast nur aus Toten und Unbekannten besteht. Ich habe ihn gewählt, diesen Mann, der meinen Mangel ausglich, und ich kann, ohne zu heucheln, sagen: Ich liebe ihn.

Beinahe täglich stelle ich mir die Frage, ob ich ihm unrecht tue. Könnte ich anders handeln, täte ich es. Die meisten Menschen verletzen nicht bewusst. Sie tun ihr Bestes, nur ist ihr Bestes nicht gut genug. Auch Richard hat nichts falsch gemacht. Hat sich nur eines Tages umgedreht und nach vorn gesehen, während mein Blick in die Vergangenheit gerichtet blieb.

Wenn er mich besucht, betrachtet er schweigend meine kräftig gewordenen Hände, macht Bemerkungen über meine abgelegte Eitelkeit, die strenge Disziplin. Letztens schaute er zu, wie ich das Holz im Hof mit der Axt spaltete, wie die Scheite nach links und rechts wegflogen und ich sie hernach in die Schubkarre warf, um sie später an der Schuppenwand zu stapeln. Auf seiner Stirn bildeten sich feine Falten. Ich konnte sehen, wie fremd ich ihm geworden bin.

...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutschen Buchpreis 2024 • Deutscher Bücherpreis • Ehe • Gartenarbeit • Kunst • Leipzig • Liebe • Mutterschaft • Schlaflosigkeit • Trauer • Unfall • Verlust
ISBN-10 3-257-61529-9 / 3257615299
ISBN-13 978-3-257-61529-6 / 9783257615296
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