Die Entblößten (eBook)
176 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-28099-1 (ISBN)
Marion Messina wurde 1990 in Grenoble geboren. Sie studierte zuerst Politik- und dann Agrarwissenschaften mit dem Vorhaben, später auf einem Bauernhof zu leben. Stattdessen begann sie als freie Journalistin für verschiedene Medien zu arbeiten und veröffentlichte ihren von der Kritik gefeierten ersten Roman 'Fehlstart', der 2020 bei Hanser erschien.
1
Am selben Tag, in einem Moment ohne Uhrzeit, meint Sabrina Toms Schreie erneut zu hören. Sie versucht sich zu strecken, aber ihr stocksteifer Körper droht zu zerspringen. Ihre eingerosteten Knie tragen sie bis ins Badezimmer. An den mit bläulichen Schimmelspuren überzogenen Wänden werfen sich geschwulstartige Feuchtigkeitsblasen auf. Die mit billiger Kosmetik und verwaschenen Handtüchern beladenen Regale drohen jeden Moment von der bröckelnden Gipswand abzufallen. Sie wirft der Literflasche mit dem Ei-Shampoo ohne Ei, das sie seit zwei Monaten immer weiter verdünnt, einen bösen Blick zu. Als Kind wurde ihr von diesem Shampoo mit seiner rotzartigen Konsistenz und seinem Lösungsmittelgeruch schlecht. »Ei-Shampoo« steht in hässlichen Buchstaben auf dem Etikett, wie von einem Kind geschrieben, das mit der Schönschrift auf Kriegsfuß steht. Der Anblick dieser Flasche treibt ihr die Galle hoch. Ich habe alles getan, was man mir gesagt hat. Alles richtig gemacht.
Im Badezimmer kommt ihr Körper ihr vor wie ein Wrack. Sie ist hübsch — oder vielleicht sollte man eher von Charme sprechen: eine dichte Haarmähne mit kleinen Löckchen um das Gesicht und großen Locken dahinter, eine Hakennase, die ihrem abgezehrten Gesicht Charakter verleiht, feine Züge, ein Mund mit einer etwas zu vollen Unterlippe, wohlgeformte kleine Zähne, abgesehen von dem schief stehenden Eckzahn rechts, dichte, klar gezeichnete Augenbrauen (leicht dachförmig und zu den Schläfen hin auslaufend), zarte Gelenke, für ihre Morphologie etwas zu kräftige Oberschenkel. Die natürliche Schönheit hat etwas Faules, etwas Anstößiges — das hat sie jedes Mal gespürt, wenn ein Mann ihr ein ganz gewöhnliches, gerade mal süßes (und auch das nicht immer), aber herausgeputztes Mädchen gezeigt und als hübsch bezeichnet hat.
Das orangegelbe Badlicht lässt ihre Pickelchen und den leichten Flaum an ihrem Unterkiefer hervortreten. Sie fühlt sich haarig, ungepflegt; ihr einziges weißes Haar scheint ihren gesamten Schopf zu verfärben; sie hat sich bei einem billigen Frisör blonde Strähnen machen lassen; die leichte Furche zwischen ihren Augenbrauen scheint ihr bis auf den Knochen zu reichen. Ihre Kleider verlieren bei der ersten Wäsche Form und Farbe. Sie sind schlecht geschnitten, schlecht genäht — sie schmeicheln ihr nie. Ihre wenigen guten Stücke hat sie über einen Secondhand-Online-Shop verkauft und sich dabei geschworen, sie zurückzukaufen. Sie könnte nicht sagen wie, aber sie weiß, man sieht ihr von Weitem an, dass sie kein Händchen dafür hat, sich zurechtzumachen, dass sie es nicht wert ist, umworben zu werden. Sie sendet nicht die richtigen Signale aus, damit die Männer ihr Rad schlagen. Dieses freie Wochenende kommt zur falschen Zeit. Sie hätte sich liebend gern um die Kleine gekümmert, ihr bei den Hausaufgaben geholfen und Crêpes gebacken. Auch wenn sie schon seit einer Weile nicht mehr lacht, wenn ihre Mutter sie unter Trommelwirbelgeräuschen in der Luft wendet.
Lina ist Sabrinas ganzes Leben. Eine knochige Kleine, deren Übertritt in die sechste Klasse ihre Mutter in abgrundtiefe Melancholie gestürzt hat. Ein sehr junges Mädchen mit dem Auftreten einer Dame und der Naivität eines Kükens. Es wird nicht mehr lange dauern und sie wird Sabrina um eine Handtasche bitten, um ihre Schulsachen darin zu verstauen. Die Interessen ihrer Tochter haben sich in eine Sphäre verlagert, die ihr verschlossen bleibt: ein Handy, das von seiner jungen Besitzerin mit mehr Zartgefühl behandelt wird, als sie es je für ihre Babypuppen aufgebracht hat. Das kleine Gerät ist zu ihrem Tresor geworden, eine Erweiterung ihres Geistes, und hat das Ende der Eintracht zwischen ihnen eingeläutet. Es war ein Geschenk ihres Vaters, damit seine Prinzessin und er sich gegenseitig Herzchen schicken und Gute Nacht sagen können. Noch vor Kurzem konnte das Kind nicht ohne ein Kosewort der Mutter einschlafen.
Ihr Exmann sagt es ihr nicht ins Gesicht, aber er denkt, dass sie Lina schlecht erzieht, dass die Kleine, die ihre Hausaufgaben kniend am Sofatisch erledigt, nicht über die nötigen Voraussetzungen verfügt, um in der Schule Erfolg zu haben. Für ihn ist Erziehung ein technisches Problem, dem man mit dem richtigen Material, mit der entsprechenden Gebrauchsanweisung beikommen kann. Damit ein Kind glücklich ist, muss man mit ihm in den Park gehen, aus seinem Geburtstag eine Riesenfeier im kalifornischen Stil machen, die wochenlange Organisation erfordert, Knabbereien zwischen den Mahlzeiten einschränken, Fernsehen verbieten, Bastelaktivitäten veranstalten, Bücher kaufen — das Verfahren ist aufwendig, aber einfach, und ein Vater kann sich darin als besser erweisen als eine Mutter. Dem Kind gegenüber gibt es keine Unterschiede zwischen einem Mann und einer Frau. An den Wochenenden sorgt er dafür, dass er nicht erreichbar ist; er hat Angst, die Kleine zu traumatisieren, wenn er ihr nicht seine gesamte Aufmerksamkeit widmet.
Lina fotografiert sich gern im Licht einer Glühbirne. Ihr Ziel ist ein engelhafter Teint (sie kennt das englische Wort dafür, flawless), sanfte Rehaugen, perfekte Lippen, neckischer, vielversprechender Schmollmund — worin das Versprechen besteht, darüber wagt Sabrina nicht nachzudenken. Sie weiß nicht, wie sie ihre Tochter dazu bringen soll, ihren Stil zu ändern. Sie leidet darunter, wie ihr Kind sich von nail-art- und playback-Videos faszinieren, ja betören lässt, von all dieser Leere, die dem Leben Stunden raubt, ohne dass irgendetwas dabei herauskommt. Im Gesicht sehen sie sich ähnlich. Ihre Lockenschöpfe unterscheiden sich nur um einen halben Farbton. Sie haben die gleichen halbmondförmigen Augen, schwarz und haselnussbraun. Seit einiger Zeit führt die Kleine ein eigenständiges Leben, immer mehr ihrem Vater zugewandt, als wolle sie sie verleugnen. Sabrina wirft einen Blick auf ihr Handy: nichts Neues, nur eine Benachrichtigung von France Travail, ein Jobangebot für zwei Tage in einem Amazon-Lager, zweiunddreißig Kilometer von Paris entfernt (Schwerbehinderte bevorzugt).
Als Nicolas gegangen ist, hat sie mit einiger Mühe eine Wohnung an der Place des Fêtes ergattert, zwei schlecht isolierte Zimmer, in denen sie ausharrt, bis sie eine Sozialwohnung zugewiesen bekommt. Die Wartezeit für einen Antrag wie den ihren beträgt in Paris im Schnitt acht Jahre; es gibt keine für die Lehrerschaft reservierten Wohnungen mehr. Lina bewohnt das kleine Schlafzimmer, in dem Kleider, Haarschmuck, Diademe und Plastikzauberstäbe, Schulbücher und Hefte in bunten Regalen untergebracht sind. An der mit phosphoreszierenden Sternen beklebten Decke hängt ein Phönix aus Papier. Er thront über einem Himmelbett mit pinker Bettwäsche und schönen Stofftieren, die Lina nicht mehr anschaut.
Sobald das Kind schläft, kaut Sabrina an ihren Fingernägeln und tippt auf ihrem Taschenrechner herum, um bis auf den letzten Cent kalkulierte Überlebensbudgets zu erstellen. Die schwierigen Monatsenden beginnen immer früher; Fleisch kauft sie nur noch für die Kleine. Halal, weil es billiger ist — die Metzger kennen sie und bieten ihr manchmal Reststücke zum Sonderpreis an. Sie muss sich zwischen Waschmittel und Milch entscheiden. Sabrina fühlt sich schmerzlich an ihre Kindheit erinnert: das Einkaufen in trostlosen Lagerhallen, das Knistern der Neonröhren, die Großpackungen, die Kartons, die man selbst öffnen musste, die noch auf der Palette gestapelten Waren, ihre eigene Mutter, die an der Kasse manche Artikel wieder aussortierte, ihr bleiches Gesicht, wenn der Gesamtpreis angesagt wurde, ihre vor Scham bebende Stimme. Es tut mir leid, ich habe mich verrechnet, können Sie die Butter herausnehmen? Entschuldigen Sie bitte, tut mir leid.
Ein Buch fällt ihr aus den Händen, als ihr Hirn wieder anläuft und hohlzudrehen beginnt. Wieder der Bengel — und sie verspürt leise Scham, als sie dieser Rotzbengel denkt. Sabrina beschließt, aus dem Haus zu gehen, kommt aber nicht weiter als bis zum kleinen Supermarkt um die Ecke. Der einzige Angestellte hockt mit Kopfhörern auf den Ohren vor den Regalen, die er auffüllen muss; er sieht sie nicht. Sie bezahlt ihre Einkäufe an der SB-Kasse; eine künstliche Stimme wünscht ihr im Namen der Ladenkette einen schönen Tag. In den Armen trägt sie eine Dose Ravioli mit Rindfleischfüllung, eine Tube Tomatenmark, eine biologisch abbaubare Pappschale, die vom Saft zweier Fischfilets im Sonderangebot durchgeweicht ist, und eine Bierdose mit einem gefakten deutschen...
Erscheint lt. Verlag | 22.7.2024 |
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Übersetzer | Claudia Kalscheuer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | LA PEAU SUR LA TABLE |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Arbeitslosigkeit • Bildung • Dystopie • Europa • Frankreich • Landwirtschaft • Massendemonstration • Migration • Mittelschicht • Neoliberalismus • Präkariat • Protest • Rechtsruck • Umsturz • Zukunftsangst |
ISBN-10 | 3-446-28099-5 / 3446280995 |
ISBN-13 | 978-3-446-28099-1 / 9783446280991 |
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Größe: 2,3 MB
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