Feuerland (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
440 Seiten
Kanon Verlag
978-3-98568-156-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Feuerland -  Titus Müller
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Hannes Böhm lebt in dem Industrieviertel, das die Berliner »Feuerland« nennen, weil hier die Schornsteine qualmen. Er verdient sich ein kleines Zubrot, indem er neugierigen Bürgern die Armut in den Hinterhäusern zeigt. Bei einer solchen Gelegenheit lernt er Alice kennen, die als Tochter des Kastellans im Berliner Stadtschloss wohnt. Dass es hinter der herrschaftlichen Fassade kalt ist wie in den Hinterhöfen der Stadt, lernt Hannes bald, während Alice tief beeindruckt ist von seinem Ehrgeiz. Doch als die Märzunruhen 1848 ausbrechen, scheint es für die Gefühle, die Hannes und Alice füreinander entwickeln, keine Zukunft zu geben. - Ein epochales Porträt einer Zeit im Umbruch.

Titus Müller, geboren 1977, über ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« ist ein SPIEGEL-Bestseller.

Titus Müller, geboren 1977, über ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« ist ein SPIEGEL-Bestseller.

1


Berlin, Montag, 6. März 1848


»Das sind die berüchtigten Familienhäuser?« Die Frauen sahen mit großen Augen an der Fassade hinauf.

Hannes machte eine Geste wie ein Zirkusimpresario. »Treten Sie näher, treten Sie ein, meine Damen! Dieses hier nennt man das Lange Haus. Das Souterrain wurde bereits vermietet, bevor das erste Obergeschoss fertig gebaut war. Damals war die Kellerdecke so nass, dass das Wasser herabtropfte. Heute enthält jedes Stockwerk dreißig elende Wohnungen.«

Sie spähten verunsichert in das dunkle Treppenhaus.

»Solange Sie sich nicht in eines der flohverseuchten Betten legen, ist der Besuch ungefährlich.« Er bugsierte die Damen durch den Flur in die Wohnung. Verschüchtert drückte sich eine schmutzige Kinderschar an die Wand. Ihre Kleider hätte man andernorts nur noch als Putzlappen verwendet. Ein Mann richtete sich vom Tisch auf. Hannes stutzte. Wer war das? Was war mit dem Scherenschleifer geschehen, mit dem er sich gestern verabredet hatte? Garnreste lagen auf dem Tisch, er improvisierte: »Das ist Lorenz. Er ist ein verarmter Weber. Tag für Tag sucht er sich bei anderen Webern unbrauchbares Garn zusammen und fertigt daraus Schürzenschnüre. Wie viele Kinder hast du, Lorenz?«

»Sieben«, antwortete der Weber.

»Nicht so bescheiden! Du musst dich vor den Damen nicht genieren. Er hat dreizehn Kinder«, sagte Hannes, »aber er schämt sich, denn von der achtjährigen Pauline bis zum vierzehnjährigen Emil arbeiten sie alle in der Fabrik. Nur die Jüngsten sind hier und quälen sich im Hungerfieber durch den Tag.«

Die Frauen seufzten vor Mitleid. Die Rothaarige nestelte einen Silbergroschen aus ihrer Börse und legte ihn auf den Tisch. »Für die Kinder«, hauchte sie. Die drei anderen folgten ihrem Beispiel.

Der Weber verbeugte sich. »Meinen aufrichtigen Dank.«

Die mädchenhaften Gesichter der Besucherinnen glühten vor Zufriedenheit, während Hannes sie in die nächste Wohnung führte. »Dieses Zimmer wird von zwei Familien bewohnt. Sie sehen es am Strick, der quer hindurch gespannt ist und den Raum in zwei Hälften teilt. Meist hängt eine graue, filzige Decke darüber.« Er wies auf den schlafenden Säufer, der hier jeden Tag die Morgenstunden verdämmerte. »Das ist Ulrich. Er ist zweiundachtzig Jahre alt und vollständig gelähmt.«

»Zwei Familien in dieser engen Kammer?«, fragte eine der Frauen erstaunt. »Aber wo sind die Schlafgemächer und die Küche?«

Beinahe hätte Hannes laut aufgelacht. Er hatte Jahre seines Lebens in einem ähnlichen Raum verbracht, und am Abend, wenn sie die Strohsäcke auf den Boden legten, war kaum genug Platz gewesen für alle. Aber das band er den Frauen gewiss nicht auf die Nase. Nichts Persönliches, war seine Devise. »Die gesamte Wohnung besteht aus diesem Zimmer. So sind die meisten Wohnungen hier. Es gibt auch welche mit einer kleinen Küche, aber die kosten einen ganzen Taler mehr im Monat, das kann sich kaum jemand leisten.«

Die Damen tauschten betroffene Blicke aus.

Er führte sie nach draußen. An der Haustür lauerte, wie verabredet, Pelle mit der Kinderschar. Die Kinder umringten die Besucherinnen und reckten ihnen bettelnd die Hände entgegen. Sie befühlten den zarten Stoff ihrer Kleider, was die Damen empört aufschreien ließ. Nach einer Weile nickte ihm Pelle zufrieden zu und spazierte in Richtung des Querhauses davon, offenbar hatte er etwas stibitzen können. Hannes verscheuchte die Kinder und führte die Damen zu den Toilettenverschlägen. »Ursprünglich kam eine Toilette auf fünfzig Bewohner. Die Senkgruben sind regelmäßig übergelaufen. Sie können sich nicht vorstellen, wie das gestunken hat!«

»Doch, doch.« Die Damen hielten sich parfümierte Seidentücher vor das Gesicht und baten ihn, diesen Ort nicht weiter zu erläutern, sie würden stattdessen gern noch die Armenschule besichtigen und, wenn er für ihre Sicherheit garantieren könne, eine Kneipe, in der sich Räuber trafen.

Am späten Nachmittag brachte er sie in einer Droschke ins Stadtzentrum zurück und ließ es sich nicht nehmen, sie bis vor ihre stuckgeschmückten Häuser Unter den Linden zu geleiten. Solche Gefälligkeiten waren es, die weitere Aufträge einbrachten.

Den Heimweg trat er zu Fuß an, um die fünf Groschen zu sparen. Als er durch das Oranienburger Tor trat, sah er seinen Freund in die Chausseestraße einbiegen.

»Kutte, du alte Sau«, rief er.

Kutte trug einen länglichen Gegenstand, in schmutzig weiße Lumpen eingewickelt. »Tagchen, Sackfratze«, erwiderte er. »Kommst du nachher mal bei mir vorbei?«

An Kuttes Unterlippe klebte Blut. Wenn er sich so ausdauernd auf die Unterlippe biss, bedeutete das, er heckte etwas aus. Hannes nahm sich vor, zu allem Nein zu sagen. Er grüßte mit zwei Fingern an der Mütze und folgte der Gartenstraße zu den Familienhäusern. Sie prunkten in der Oranienburger Vorstadt wie fünf heruntergekommene Schlösser, erbaut, um die Wohnungsnot der Ärmsten auszubeuten. Ihre zweieinhalbtausend Bewohner waren genauso mittellos wie die Hüttenbewohner ringsum und standen außerdem unter der Fuchtel der strengen Hausinspektoren. Hier wohnte nur, wer kurz davor war, auf der Straße zu landen.

Hannes betrat wieder das Lange Haus. Die Tür zur Wohnung des Webers stand offen. Er klopfte kurz und trat ein. »Gestern hat ein Scherenschleifer hier gewohnt. Wo ist er?«

Der Weber zuckte die Achseln. »Im Gefängnis. Er konnte seine Schulden nicht bezahlen. Oder er hat geklaut. Irgendwas in der Art. Wir enden doch alle dort, früher oder später.«

»Vier Silbergroschen habt ihr von den feinen Damen erhalten. Ich hätte gern zwei davon.« Hannes hielt die Hand auf.

»Warum?« Der Weber hob die Brauen.

Am Fenster stand eine Frau auf. »Gib sie ihm, Mathis. Dann bringt er die großzügigen Damen beim nächsten Mal wieder zu uns.«

Hannes nickte. »Sie hat’s kapiert.«

»Wie hast du die Trullas aufgegabelt?«, fragte der Weber, während er mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck die Münzen aus einem kleinen Beutel fischte, den er um den Hals trug.

»War nicht schwer. Sie wollen sich gruseln. Sie wollen heute Abend in ihren weichen Himmelbetten liegen und sich daran berauschen, dass sie nicht so erbärmlich leben müssen wie wir.« Er steckte die Silbergroschen ein. »Bist du überhaupt Weber?«

»Dann würde ich mich wohl kaum mit Schürzenschnüren abgeben. Ich bin Tischler.«

»Und du arbeitest mit Garn?« Ungläubig sah Hannes zum Zwirn auf dem Tisch und zu dem Häufchen fertig gewickelter Schürzenschnüre.

»Gegenfrage, du Schlaumeier: Kennst du jemanden, der noch beim Tischler Möbel bestellt? Die Damen vielleicht, mit denen du hier warst. Aber sonst kauft doch jeder bei den Magazinen ein, diesen ramschigen neuen Kaufhäusern.«

»Ich weiß. Und die Möbelfabriken liefern die billige Ware. Trotzdem, die schaffen’s nicht, die ganze Nachfrage zu decken. Ich kenne einen Tischler, der Arbeit hat. Er ist pfiffig und stellt Kleiderschränke für die Kaufhäuser her.«

»Frag ihn mal, was er verdient. Ich hab das auch gemacht, ich habe aus billigem Material jahrein, jahraus dasselbe Möbelstück gebaut, und mein Lehrling hat überhaupt nichts gelernt, weil er während der Lehrjahre nur diesen einen Schrank bauen durfte. Das ist doch kein Handwerk! Man bekommt so wenig für die Schufterei, dass der Staat noch nicht mal Gewerbesteuer davon abzwacken kann. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Glaub mir, dein Freund ist nicht pfiffig. Er ist verzweifelt. Er steht am Abgrund wie wir alle.«

»Meinst du«, fragte die Frau mit banger Hoffnung, »deine Damen könnten bei meinem Mann ein Beistelltischchen oder eine kleine Kommode in Auftrag geben?«

»Wir haben das Werkzeug verkauft«, sagte der Tischler. »Schon vergessen? Außerdem bin ich ein Niemand für die. Wenn sie feine Möbel haben wollen, gehen sie zu Werkstätten mit Rang und Namen.«

Erneut wandte sie sich an Hannes. »Komm bald wieder zu uns«, bat sie. »Nächstes Mal koche ich Hafergrütze, und wir lassen sie davon kosten.«

»Glänzende Idee. Du hast verstanden, wie der Hase läuft. Ich überleg’s mir, ja? Wichtig sind die Kinder. Wenn keine Kinder da sind, geben sie nichts.« Er musterte die spielenden Gören, die zwei Wäscheklammern durch den Schmutz schoben und Stampfgeräusche machten, als wären es Dampfer. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren half dem Vater beim Wickeln der Schürzenschnüre, die Frau hatte einen Säugling auf dem Arm. »Habt ihr nur diese sieben?«

»Wir könnten uns welche ausleihen von den Nachbarn.«

»Wäre gut. Es sollten zwölf Kinder sein oder dreizehn. Wenn ich das nächste Mal komme, stellt sie in einer Reihe auf, von der Größten zum Kleinsten.«

Er verließ das Haus. Kuttes blutige Unterlippe ging ihm nicht aus dem Kopf. Am besten suchte er den Freund gleich auf, um das Schlimmste zu verhindern. Kuttes Ideen führten nie zu etwas Gutem, auf sein Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen, war Verlass. Den Anteil vom Diebesgut würde er Pelle später abknöpfen, Kutte war jetzt wichtiger.

In der Nähe der Invalidenstraße hatte es heftig geregnet, erdiger Matschgeruch lag in der Luft. Hannes lief zwischen den Pfützen entlang. Hier glich keine Hütte der anderen. Mal waren Holzplanken zusammengenagelt worden, mal hatte man Blech gebogen oder Segeltuch mit Steinen beschwert, damit es nicht vom Dach wehte. Zaunlatten waren verbaut worden, alte Lumpen,...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Industrialisierung • Krimi historisch • Märzunruhen • Politischer Wandel
ISBN-10 3-98568-156-2 / 3985681562
ISBN-13 978-3-98568-156-3 / 9783985681563
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